Kein Brustsponsor, abwechslungsreiche Auslosungen, keine wahnwitziger Transfermarkt, kleinere Gagen – für klassische Fußballfans müssten Nationalteams das letzte Paradies sein. Ist das so? Bleibt das... Europas großer Fußballhype 2015/16 (3): Nationalteams – neue alte Ikonen

Europa Kontinent_abseits.atKein Brustsponsor, abwechslungsreiche Auslosungen, keine wahnwitziger Transfermarkt, kleinere Gagen – für klassische Fußballfans müssten Nationalteams das letzte Paradies sein. Ist das so? Bleibt das so?

Der Kernpunkt unserer Serie war bisher, dass die kleinen und mittelgroßen Länder im modernen Klubfußball gegen die Top-Ligen chancenlos sind. Und trotzdem boomt der Fußball auch in diesen Ländern. Denn es gibt „Retter“: Alaba, Ibrahimovic, Bale und Co. – Weltstars aus unerwarteten Ecken.

So bezieht sich die Identifikation vieler Österreicher, Schweden und Waliser immer weniger auf die Großklubs dieser Länder, sondern auf einzelne Sportler und natürlich, wenn sie gut spielt, die nationale Auswahl. Für jeden fällt etwas ab, denn es gibt kaum ein Land, das nicht zumindest einen Star in einer Top-Liga oder ein mediengemachtes Supertalent vorweisen kann. Dänemark hat seinen Eriksen, Norwegen seinen Ödegaard, die Slowakei ihren Hamsik, Armenien seinen Mkhitaryan.

Die letzte Chance

Dass kleine Länder große Fußballer hervorbringen, ist aber nichts Neues. So prägend gut wie Michael Laudrup, wird Christian Eriksen wohl nie werden. Beide hätten bei ihren dänischen Stammvereinen niemals ihr volles Potential ausschöpfen können und mussten zu Klubs in größere Ligen gehen um das zu schaffen. Es ist eine Laune der Fußball-Geschichte, dass Laudrup, der wohl beste dänische Fußballer aller Zeiten, seine Team-Karriere mitten in seiner Hochzeit für zwei Jahre unterbrach und deshalb nicht gemeinsam mit seinem Bruder Brian als Teil einer außergewöhnlichen Spielergeneration den Europameister-Titel 1992 gewinnen konnte. Etwas, das für dieses Land mangels Qualifikation für die Endrunde diesmal unmöglich, bei kommenden Turnieren aber weit wahrscheinlicher ist, als dass ein dänischer Klub jemals einen Europacup-Titel holt. Und darin liegt der größte Reiz der Nationalteams. Die Wiener Austria ist weit weg von internationaler Glorie, aber die von ihr (mit-)ausgebildeten Spieler Alaba und Dragovic holen große und kleine Titel am laufenden Band und haben die Chance für Österreich mehr Aufmerksamkeit zu gewinnen, als das bei ihrem ersten Klub der Fall gewesen wäre. Und zwar sowohl als Spieler von Top-Klubs, als auch des Nationalteams.

Alaba

In den österreichischen Turnsälen und Parks, dazu auf den Trainingsplätzen, wimmelt es nur so von Ronaldos, Robbens und natürlich Alabas. Jede Woche ist im Fernsehen zu sehen, wie er mit seiner Mannschaft die deutsche Bundesliga dominiert oder große CL-Partien spielt, womit er aber nicht der erste Österreicher ist. Wolfgang Feiersinger war mit Borussia Dortmund schon 1997 so weit, Andreas Herzog mit Werder Bremen 1993, beide als ebenso wichtige Spieler ihrer Teams (wenn auch nicht über so einen langen Zeitraum wie Alaba). Die Sichtbarkeit dieser Leistungen beschränkte sich wegen der viel kleineren TV-Präsenz auf Highlight-Sendungen und im besten Fall drei Europacup-Topspiele pro Saison. Rapid und Austria Salzburg erreichten zur gleichen Zeit EC-Finalspiele und boten ihrerseits Idole und viel Potential zur Identifikation. Die Aufmerksamkeit war gerecht verteilt: leistungsgerecht und ohne übersteigerte Beachtung für die Spitze allein. Für das veränderte Fußballgeschäft kann David Alaba natürlich nichts, es ist die moderne Entertainment-Kultur, auch der österreichischen Medien, die ihn zum Fokuspunkt macht und vieles, das kleiner ist, noch kleiner werden lässt.

Die kickende Diaspora

Viele Balkanländer kennen dieses Gefühl schon länger. Seit Beginn des Jugoslawien-Kriegs spielen die besten Kicker bestenfalls extrem kurz in den eigenen Ländern, schnell geht es in die Top-Ligen und richtig bejubelt werden können sie von ihren Landsleuten nur noch in den Farben des Nationalteams. Denn natürlich werden Luka Modric und Mateo Kovacic einen gewissen Real-Madrid-Boom in Kroatien ausgelöst haben und ihr in der Schweiz aufgewachsener Team-Kollege Ivan Rakitic trägt im Heimatland seiner Eltern höchstwahrscheinlich zur Beliebtheit des FC Barcelona bei. Sichtbar wird die authentische Freude über diese Spieler jedoch nur an den Spieltagen von Ländermatches. Und je früher die Spieler ins Ausland wechseln, desto schwieriger ist auch das. Der klassische Stolz über die großen Spieler bei den großen Klubs, etwas, das es seit der Einführung internationaler Transfers gibt, wird irgendwann nicht mehr möglich sein. Denn was hat man, was haben „wir“ überhaupt dazu beigetragen? Wenn immer mehr Spieler mit 14 Jahren in die große Fußballwelt ausziehen, verdanken sie das Allermeiste ihrem Talent, viel weniger dem ersten Klub.

Messi

Messi. Einer der besten Spieler aller Zeiten, geliebt und vergöttert in Barcelona, in Katalonien, in Europa, in Asien. Maradona. Einer der besten Spieler aller Zeiten. Geliebt und vergöttert in Buenos Aires, in Neapel, in Argentinien. Überall. Der Eine: Wechselt als 13-Jähriger den Kontinent. Einzigartige Erfolge im Klubfußball, in vor ihm von niemandem erreichten Dimensionen. Der Klub seiner Jugend, Newell’s Old Boys, benennt sein Stadion 2009 trotzdem nach der lebenden Spieler- und Trainer-Legende Marcelo Bielsa, nicht nach Messi. Warum auch? Fast jeder Argentinier kann Messi spielen sehen, aber er ist dennoch zu weit weg. Und wenn er in der Nähe ist – knapp verlorene Copa America, knapp verlorene WM. Der Andere: Ist als 16-Jähriger bei seinem Stammverein Argentinos Juniors der beste Spieler. Und bleibt bis er 21 ist. Dann ein Jahr bei den Boca Juniors. Ein einziges. Dafür so überragend, dass der Klub und er sich heute noch über alles lieben. Dann FC Barcelona, viel Bewunderung, aber zu kurz für die Liebe. Und schließlich Napoli: Eine Geschichte wie ein Epos. Und: Immer wieder Argentinien. Weltmeister, verlorenes WM-Finale, Skandale. So entsteht Bindung, es braucht Nähe, am besten sogar räumliche, trotz global-digitaler Welt.

Das Fan-Werden

Die Identifikation mit einem abstrakten Gebilde, das jede Fußballmannschaft ist, kann viele Gründe haben. Regionale Nähe, Kindheitserinnerungen, die Faszination von Spielerpersönlichkeiten oder der spezielle Spielstil einer Mannschaft. Einmal verankert, gehen den meisten Fußballbegeisterten diese Mannschaften bis zum Lebensende in den seltensten Fällen verloren. Die in unterschiedlichen Ausprägungen gelebte Hingabe, hat meist ähnliche Gründe, in der Ursache oft Zufälle, wie das Milieu, in dem man aufwächst oder das Erleben eines großen Turnieres in einer bestimmten Zeit der Kindheit und Jugend. Der größte Zufall, ist sicherlich das nationale Gebilde, in das man hineingeboren wird. Kaum einer sucht sich seine Nationalmannschaft aus. Längere Erfolglosigkeit des eigenen Landes oder generelle Sympathie für andere bewirken häufig das Phänomen der „Zweitmannschaft“, die vor allem Bewohner kleinere Länder für ihr Fan-Sein adoptieren. Was paradox klingt, ist in einem Zeitalter, in dem Nationalstaaten an Bedeutung verlieren, ein einfacher Weg, um sich als Teil einer im Sport erfolgreichen Gruppe zu fühlen. Die Folgen der zufälligen Staatsangehörigkeit, können durch das selbstgewählte Lieblingsteam zumindest für eine paar Momente abgeschwächt werden. Absurd wird so etwas dann, wenn mit dem anziehenden Erfolg auch andere Dinge mitschwingen: Wie viel Reflexion ist wohl dabei, wenn ein Wiener Fan des FC Barcelona inbrünstig für einen katalanischen Staat argumentiert? Die Grenzen von Klubfußball und Verbandsfußball lösen sich in Europa auf. Diverse Brüderpaare wie die Boatengs oder die Xhakas spielen für verschiedene Nationalteams, Einbürgerungen sind sportliches Kalkül der Verbände und karrieretechnisches der Spieler. Unterm Strich ist es einfach: Gekickt wird überall und Geld wischt viele Probleme vom Tisch.

Beliebt ist, wer gewinnt.

Die große Hoffnung

Wie im Klubfußball auch, passiert das Gewinnen und Verlieren für alle in Zyklen. Aktuell sind Belgien, Österreich und sogar Island mit dem Gewinnen dran, Griechenland und die Niederlande wandern durchs Jammertal. Die Niederländer gelten seit 1974 als konstante Top-Nation, haben aber immer wieder krisenhafte Pausen eingelegt – so verpassten sie unter anderem die Großereignisse 1982-86 und 2002. Nun sind es eben ihre südlichen Nachbarn, die ernsthaft auf einen Titelgewinn abzielen können. Anderlecht, der erfolgreichste Klub Belgiens, leistet hervorragende Arbeit im Scouting und der Nachwuchsausbildung – effizienter und besser organisiert als die österreichischen Pendants – und macht große Geschäfte mit Transfers. Von einem CL-Achtelfinale ist man in Brüssel aber fast genauso weit weg wie die Spitzenklubs hierzulande. Die Belgier sind auch für die EURO 2016 nicht der Top-Favorit, aber Überraschungs-Sieger wären sie keiner. Und das ist das Schöne am Fußball der Nationalteams: Dass einem kleinen Land der Titel zugetraut wird. Von allen anderen und sogar sich selbst.

Ist irgendwann Schluss?

Die Europameisterschaft im Fußball wird 2016 erstmals mit 24 Teilnehmern ausgetragen, das entspricht mehr als 40% der 54 europäischen Verbände. Zum Vergleich: Eine Fußball-WM wird unter 32 der 211 Verbände weltweit ausgespielt. An der Qualität der sportlichen Leistungen wird die größere Teilnehmerzahl wenig ändern, die lange Klub-Saison wird sich viel stärker auswirken, wovon bekannte Namen wie Reus und Varane wegen ihrer verletzungsbedingten Absagen ein trauriges Lied singen könnten. In immer mehr Bereichen eifern die Verantwortlichen des Ländermatch-Fußballs ihren Kollegen bei den Profi-Klubs nach. Die Anzahl der Spieltage wurde in der vergangenen Saison massiv erhöht –  diese Maßnahme „week of football“ zu nennen, war kein besonders einfallsreicher Zug der UEFA. Denn Fußball als Unterhaltungsangebot ist heutzutage wie die meisten Dinge sowieso fast immer verfügbar, die Jahres- und Uhrzeiten wurden hier längst abgeschafft.

Ein großer Teil der Faszination des schönen Spiels liegt natürlich in der Vorfreude. Die mittlerweile seltene Teilnahme Österreichs an Großereignissen, die erstmals sportlich erreichte an einer EM, wiegt das ganze Land in diesem speziellen Gefühl. Dass es dieses Gefühl auch in Zukunft geben kann, wird zukünftig nicht nur von den Leistungen des Nationalteams, sondern einer maßvollen Zahl an ausgetragenen Spielen abhängen.

Raphael Gregorits, abseits.at

Raphael Gregorits

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