Joachim Löw ist seit dem Weltmeistertitel 2014 in Deutschland eigentlich unumstritten. Sicher gibt es immer mal wieder den einen oder anderen überflüssigen Kommentar der rustikaleren Sorte von Fans, die sich über seinen Schal oder die Nivea-Werbung lustig machen. Aber eigentlich ist Löw in der deutschen Öffentlichkeit recht wohlgelitten. Das war nicht immer so. Nach dem Ausscheiden im Halbfinale der Europameisterschaft 2012 stand er massiv in der Kritik. Und das lag vor allem an einem Mann: Andrea Pirlo.
Löw musste sich monatelang dafür rechtfertigen, Toni Kroos im Spiel gegen Italien als persönlichen Bewacher Pirlos eingeteilt zu haben und sich so zu sehr dem Gegner angepasst zu haben. Noch dazu ging die Maßnahme nicht auf: Pirlo schaltete und waltete wie er wollte und sezierte die deutsche Hintermannschaft regelmäßig mit seinen traumhaften Pässen, die eben nur er spielen konnte.
Die Erkenntnis von Löw, dass das Spiel der Squadra Azzurra mit Pirlo steht und fällt war natürlich richtig. Er war es, der seiner Mannschaft den Rhythmus vorgab; er war es, der mit seinem unnachahmlichen Raum- und Spielverständnis gefährliche Situationen kreierte, wo diese vor ein paar Sekunden nicht einmal im Ansatz zu erahnen waren. Dies alles tat er mit einer Lässigkeit, die immer an Arroganz grenzte, ihm aber nie als solche ausgelegt wurde. Pirlo war eben der Maestro: er musste so spielen, um dem Orchester diese herrliche Musik zu entlocken. Das alles tat er mit einem Gesichtsausdruck, der sich nie zu verändern schien – egal wie das Geschehen auf dem Platz lief, Pirlo schaute darauf stets mit einer Art melancholischen Ignoranz.
Er war dabei mehr Künstler als Fußballer im klassischen Sinne. Laufen war nicht sein Ding; Tore schoss er so gut wie nie aus dem Spiel. Sondern besonders gerne per Freistoß, die oft ebenfalls eher einem Kunstwerk, statt einer profanen Standardsituation glichen. Das war wohl Pirlos größte Leistung: er nahm dem Fußball an ganz besonderen Tagen seine Profanität, hob ihn auf eine andere Stufe.
Sein Spiel glich dabei immer dem eines Quarterbacks aus dem American Football. Immer auf der Suche nach dem Fenster, das ich während des Spiels öffnet und in das er seine Pässe spielen konnte. Wie auch ein Quarterback war auch Pirlo auf den Schutz seiner Mitspieler angewiesen. Sein treuester Soldat war dabei Gennaro Gattuso. Mit ihm an seiner Seite gewann Pirlo zweimal die Champions League mit dem AC Milan und den Weltmeistertitel 2006 in Deutschland. Gattuso war es auch, der das vielleicht beste Zitat über Pirlo lieferte: „Wenn ich Pirlo zuschaue, wie er den Ball behandelt, dann frage ich mich, ob ich mich ernsthaft als Fußballer bezeichnen kann.“
Bei Milan hatte man ihn bei seinem Abgang als zu alt bezeichnet. Einer der größten Fehler des Klubs in den letzten zehn Jahren: Pirlo wechselte anschließend zu Juventus Turin und holte als deren Maestro fünf Meisterschaften in Folge. Sein letztes großes Spiel in Europa war das Finale der Champions League gegen den FC Barcelona. Die alte Dame verlor mit 1:3. Danach verließ er zum ersten Mal in seiner Karriere Italien und wechselte nach New York, in die MLS.
„Nicht nur mein Abenteuer in New York neigt sich dem Ende entgegen, sondern auch meine Reise als Fußballer.“, hatte Pirlo zum Abschied auf Instergram geschrieben. Mehr hatte der mittlerweile 38-Jährige nicht zu sagen. Nach seinem letzten Spiel, einem 2:0-Erfolg seines Team New York City FC gegen Columbus Crew SC, ging er unter tosendem Applaus. Es war trotzdem ein eher stiller Abgang. So wie es eben zu Pirlo passte, der nie ein Lautsprecher war und um den es keine Skandale gab.
Pirlo wurde nie als Weltfußballer ausgezeichnet. Eigentlich eine Schande. Ihm wird es egal sein.
Wir empfehlen euch auch unsere Buchrezension: Ich denke, also spiele ich“ von Andrea Pirlo
Ral, abseits.at
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