Taktikanalyse: Antonio Conte und das „zentrale Clustering“ in Napoli
ItalienTaktik & Theorie 30.November.2024 Daniel Mandl
Antonio Conte, bekannt für seine pragmatische, defensivstarke Spielweise, überrascht bei seiner neuen Aufgabe beim SSC Napoli mit einem fundamentalen Wandel in seiner Taktik. Die einstigen Markenzeichen seiner Mannschaften – Angriffe mit starkem Breitenfokus, dynamische Flügelspieler und schnelles Umschaltspiel – weichen einer zentrumsorientierten Strategie, die durch vertikale Pässe und präzise Laufwege besticht. Dieser Ansatz hat Napoli nach einem enttäuschenden zehnten Platz in der Vorsaison wieder auf Kurs gebracht. Doch was macht diese taktische Umstellung aus, und wie beeinflusst sie das Spiel der Traditionsmannschaft aus Kampanien?
Vom Flügel ins Zentrum: Der taktische Paradigmenwechsel
In der Vergangenheit setzte Conte zumeist auf Formationen mit einer Dreierkette, etwa das 3-5-2 oder das 3-4-2-1. Der Fokus lag dabei auf den Flügeln, wo schnelle Außenverteidiger wie Victor Moses oder Marcos Alonso in seinen vorherigen Stationen die Hauptlast des Spiels trugen und eine hohe Intensität in Bezug auf Ballaktionen und Pässe hatten. Bei Napoli hingegen hat Conte dieses Schema verworfen und auf eine Viererkette umgestellt. Dadurch rücken etatmäßige Flügelspieler – wie Khvicha Kvaratskhelia und Matteo Politano – ins Zentrum, um Überzahlsituationen in der Mitte zu schaffen.
Die Umstellung verfolgt klare Ziele: Statt wie gewohnt über Flanken zu kommen, kombiniert Napoli jetzt in engen Räumen mit kurzen, präzisen Pässen und Angriffen durch die Mitte. Diese sogenannte „zentrale Cluster-Bildung“ ermöglicht nicht nur eine schnellere Ballzirkulation, sondern bindet auch mehrere Gegenspieler, wodurch sich Räume auf den Außenbahnen öffnen. Zudem sorgt Conte mit dieser Herangehensweise auch stark dafür, dass sich der Gegner an Napoli anpassen und gegen den Ball häufig gruppentaktisch die Verantwortung übergeben muss. Das macht Spiele gegen die Neapolitaner derzeit so schwierig…
Neue Rollen für Lukaku und Co.
Eine zentrale Figur in diesem neuen Napoli-System ist Romelu Lukaku. Während er in der Vergangenheit vor allem als Zielspieler und Torjäger überzeugte, übernimmt er bei Napoli eine spielmacherähnliche Rolle. Seine Aufgabe besteht darin, Bälle durch seine bekannte, hohe körperliche Präsenz im Zentrum zu sichern und auf nachrückende Spieler abzulegen. Dabei profitiert er von der Flexibilität seiner Mitspieler – etwa Kvaratskhelia, der oft in die Tiefe geht, um die Verteidigung auseinanderzuziehen – aber auch Spielern wie Scott McTominay, der sich nach festgemachten Bällen ebenfalls in die Tiefe des Raumes bewegen kann und somit Gegenspieler bindet – oder diese aber im „luftleeren Raum“ belässt, weil die Bewegungen des physisch starken Achters so nicht antizipiert werden.
Die taktischen Veränderungen spiegeln sich in den Zahlen wider: Napolis Flanken pro Spiel haben deutlich abgenommen, während die Zahl der vertikalen Pässe und Schnittstellenbälle zugenommen hat. Diese Spielweise nutzt nicht nur Lukakus physische Stärke, sondern auch die technische Versiertheit von Spielern wie Kvaratskhelia, der immer wieder gefährliche Laufwege ins Zentrum und hier mit Vorliebe hinter den eigentlichen Zielspieler Lukaku ansetzt.
Defensive Stabilität trotz Offensivfokus
Trotz der neuen Offensivstrategie bleibt Napoli defensiv kompakt. Sobald der Ball verloren geht, wechselt die Mannschaft blitzschnell in eine 5-3-2-Formation. Die Außenverteidiger ziehen sich zurück, während die Mittelfeldspieler die zentralen Räume verdichten. Diese Variante eines eher passiven Mittelfeldpressings zwingt den Gegner häufig zu unpräzisen Pässen oder Spielverlagerungen.
Eine weitere Besonderheit, die Napoli die Umschaltmomente und vor allem Ballsicherungen nach schnellen Ballgewinnen erleichtert: Conte lässt Lukaku und Kvaratskhelia in ihren offensiven Positionen verbleiben, selbst wenn die Mannschaft verteidigt. Das hat zwei Vorteile: Erstens sind sie sofort anspielbar, sobald der Ball zurückerobert wird und zweitens zwingt es den Gegner, mehr Spieler zur Absicherung abzustellen, was dessen Offensivpotenzial reduziert. Dem Gegner also praktisch „Restverteidigung aufzuzwingen“ ermöglicht Napoli bei entsprechendem defensivem Umschaltspiel also schnell wieder Überzahlsituationen, auch gegen den Ball.
Rotationen und dynamische Bewegungen: Wie Napoli Räume schafft
Das Spiel ohne Ball ist ein weiterer zentraler Aspekt von Contes Taktik. Besonders auffällig sind die Rotationen im Mittelfeld: Spieler wie Stanislav Lobotka oder André-Frank Zambo Anguissa lassen sich situativ zwischen die Innenverteidiger fallen, um eine Dreierkette zu bilden. Dadurch können die Außenverteidiger aufrücken, ohne die defensive Stabilität zu gefährden. Dieses sogenannte „La Volpe“-System, benannt nach dem mexikanischen Trainer Ricardo La Volpe, sorgt für zusätzliche Flexibilität und Variabilität im Spielaufbau.
Eine typische Szene aus dem Spiel gegen Juventus illustriert diesen Ansatz: Anguissa ließ sich zwischen die Innenverteidiger fallen, wodurch die Außenverteidiger aufrückten. Dadurch entstand Raum für McTominay, der sich ins Mittelfeld zurückfallen ließ und den Ball auf Politano weiterleitete. Politano nutzte den freien Raum und leitete einen Angriff ein, der zu einer Großchance führte.
McTominays zentrale Rolle
Erst im Sommer holte Napoli den schottischen Teamspieler Scott McTominay um 30,5 Millionen Euro von Manchester United. Im Vergleich zur Vorsaison ist der 191cm große Box-to-Box-Midfielder der Unterschiedsspieler, der vor allem die Herangehensweise zwischen den Strafräumen massiv verändert und flexibler macht. Er bringt im Dreiermittelfeld von Napoli die Facetten mit, die die alteingesessenen Mittelfeldakteure Lobotka und Anguissa im Gespann kompletter machen. In der Vorsaison fehlte Napoli mit Spielern wie Piotr Zielinski oder Eljif Elmas in dieser Rolle sowohl der Tiefgang in beide Richtungen, als auch die Physis, die es fürs Gegenpressing benötigt. Mit einem punktuellen Transfer konnten die Italiener also eine ihrer größten Schwachstellen abstellen und sich im Zentrum deutlich polyvalenter aufstellen.
Napoli wieder titelfähig?
Ein oft unterschätzter Faktor in dieser Saison ist Napolis bereits erwähnte physische Verfassung bzw. Verbesserung im Vergleich zum Vorjahr. Hinzu kommt das Fehlen von Europapokalspielen, wodurch das Team längere Regenerationszeiten hat, was vor allem in der entscheidenden Saisonphase gegenüber den stark eingespannten Konkurrenten ein Vorteil sein könnte. Gerade wenn ein Team sich auch taktisch so flexibel präsentiert, ist es für unausgeruhte Gegner schwierig die Konzentration aufrechtzuerhalten, was für die Neapolitaner auf lange Sicht zu einem möglicherweise entscheidenden Vorteil werden kann.
Die Frage bleibt, ob Conte mit seinen hochinteressanten Ansätzen langfristig Erfolg haben kann. Seine bisherigen Stationen zeigen, dass seine intensiven Systeme oft nur für wenige Jahre nachhaltig funktionieren. Doch wenn Napoli die Balance zwischen Offensive und Defensive halten kann, wird das Team nicht nur im Titelrennen mitmischen, sondern auch eine neue Blaupause für moderne taktische Systeme liefern.
Antonio Contes Arbeit beim SSC Napoli zeigt, dass selbst ein erfahrener Trainer wie er in der Lage ist, sich neu zu erfinden. Mit zentralen Clustern, flexiblen Formationen und einer durchdachten defensiven Struktur hat er aus einer verunsicherten Mannschaft einen Titelkandidaten geformt. Ob das reicht, um die Serie A zu gewinnen, bleibt abzuwarten – doch eins ist sicher: Napoli ist derzeit eine der spannendsten Mannschaften Europas und gerade für Taktikfreunde ein Team, dem man gerne zusieht, wenn man etwas Neues lernen möchte.
Daniel Mandl, abseits.at
Das könnte dich auch noch interessieren:
Daniel Mandl Chefredakteur
Gründer von abseits.at und austriansoccerboard.at | Geboren 1984 in Wien | Liebt Fußball seit dem Kindesalter, lernte schon als "Gschropp" sämtliche Kicker und ihre Statistiken auswendig | Steht auf ausgefallene Reisen und lernt in seiner Freizeit neue Sprachen
- Besondere Tore
- Die bunte Welt des Fußballs
- Europameisterschaft
- Internationale Stars
- Argentinien
- Australien
- Belgien
- Brasilien
- Chile
- Dänemark
- Deutschland
- Andreas Brehme
- Andreas Möller
- Berti Vogts
- Christoph Daum
- Franz Beckenbauer
- Fritz Walter
- Gerd Müller
- Günther Netzer
- Helmut Rahn
- Jürgen Klinsmann
- Jürgen Klopp
- Karl-Heinz Rummenigge
- Lothar Matthäus
- Lukas Podolski
- Manuel Neuer
- Miroslav Klose
- Oliver Bierhoff
- Oliver Kahn
- Philipp Lahm
- Rudi Völler
- Sepp Maier
- Thomas Häßler
- Thomas Müller
- Thomas Tuchel
- Toni Schumacher
- Toni Turek
- Udo Lattek
- Uli Hoeneß
- Uwe Seeler
- Elfenbeinküste
- England
- Finnland
- Frankreich
- Irland
- Italien
- Alessandro Del Piero
- Alessandro Nesta
- Andrea Pirlo
- Christian Vieri
- Claudio Gentile
- Dino Zoff
- Fabio Cannavaro
- Francesco Totti
- Franco Baresi
- Gaetano Scirea
- Giacinto Facchetti
- Gianluca Vialli
- Gianluigi Buffon
- Giuseppe Bergomi
- Giuseppe Meazza
- Luigi Riva
- Marco Tardelli
- Mario Balotelli
- Paolo Maldini
- Paolo Rossi
- Roberto Baggio
- Sandro Mazzola
- Kamerun
- Kolumbien
- Liberia
- Mexiko
- Niederlande
- Nigeria
- Nordirland
- Norwegen
- Portugal
- Schottland
- Schweden
- Schweiz
- Spanien
- Ungarn
- Uruguay
- USA
- Wales
- Österreich
- Legendäre Legionäre
- Alexander Zickler
- Antonin Panenka
- Axel Lawaree
- Branko Boskovic
- Carsten Jancker
- Dejan Savicevic
- Geir Frigard
- Hamdi Salihi
- Hansi Müller
- Jan Åge Fjørtoft
- Jocelyn Blanchard
- Joey Didulica
- Jonathan Soriano
- Kevin Kampl
- Lajos Détári
- Maciej Sliwowski
- Marek Kincl
- Mario Kempes
- Mario Tokic
- Milenko Acimovic
- Nestor Gorosito
- Nikica Jelavic
- Nikola Jurčević
- Olaf Marschall
- Oliver Bierhoff
- Patrik Jezek
- Radoslaw Gilewicz
- Rene Wagner
- Roger Ljung
- Sadio Mané
- Samir Muratovic
- Sigurd Rushfeldt
- Somen Tchoyi
- Steffen Hofmann
- Szabolcs Sáfár
- Tibor Nyilasi
- Trifon Ivanov
- Valdas Ivanauskas
- Vladimir Janocko
- Zlatko Kranjcar
- Nationale Stars
- Aleksandar Dragovic
- Andi Ogris
- Andreas Herzog
- Andreas Ivanschitz
- Bruno Pezzey
- Christian Fuchs
- David Alaba
- Deni Alar
- Didi Kühbauer
- Ernst Happel
- Ernst Ocwirk
- Felix Gasselich
- Franz Wohlfahrt
- Friedl Koncilia
- Gustl Starek
- Hans Krankl
- Herbert Prohaska
- Heribert Weber
- Ivica Vastic
- Julian Baumgartlinger
- Kevin Wimmer
- Kurt Jara
- Marc Janko
- Marcel Sabitzer
- Mario Haas
- Marko Arnautovic
- Martin Harnik
- Martin Hinteregger
- Matthias Sindelar
- Michael Konsel
- Otto Konrad
- Peter Stöger
- Sebastian Prödl
- Toni Polster
- Ümit Korkmaz
- Veli Kavlak
- Walter Schachner
- Walter Zeman
- Zlatko Junuzovic
- Nationalmannschaft
- Österreichische Vereine
- Legendäre Legionäre
- Weltmeisterschaft