Wie schon in der vergangenen Sommertransferperioden gehen wir in dieser Rubrik auf einzelne fixe Transfers zumeist größerer Vereine ein, wo die Hintergründe und Motive beleuchtet werden. Wieso holt eine Mannschaft diesen Spieler? Wer ist dieser Spieler überhaupt? Was erwartet sich sein neuer Verein von ihm? Kann er die Erwartungen in seinem neuen Verein erfüllen?
Diese Fragen sollen hauptsächlich beantwortet werden. Auch die taktische Perspektive soll nicht zu kurz kommen, immerhin ermöglicht ein neuer Spieler oftmals eine Vielzahl neuer Kombinationen und Synergien, die ebenfalls kurz erläutert werden sollen.
Dieses Mal geht es um den Wechsel Sami Khediras zu Juventus Turin, den viele Experten skeptisch sehen. Teilweise wird Khedira gar als Antifußballer gesehen – doch sein Lebenslauf zeigt etwas ganz anderes.
Unterschätzter Schlüsselspieler?
Sami Khedira war ein Bestandteil von zwei Rekordmannschaften. Bei der Weltmeisterschaft 2014 war er erster Ersatzspieler im zentralen Mittelfeld der deutschen Nationalmannschaft, begann drei Spiele sogar von Beginn an und war einer der Schlüsselspieler beim legendären 7:1-Erfolg gegen Brasilien. Ebenfalls ein Schlüsselspieler war er bei der „La Liga de los Récords“ („Die Liga der Rekorde“) Real Madrids in der Saison 2011/12.
Gegen das als übermächtig geltende FC Barcelona Josep Guardiolas setzten sich die Königlichen über 38 Spiele hinweg in der Liga mit 100 zu 91 Punkten durch; auf den Dritten Valencia hatte man gar 39 Punkte Vorsprung. Die Königlichen erzielten auch die meisten Tore in der Geschichte von La Liga (121, 14 mehr als beim vorherigen Rekord) und zeigten eine enorm dominante Leistung. In der Champions League schied man im Halbfinale denkbar knapp im Elfmeterschießen gegen die Münchner Bayern aus.
Khedira hatte die elfmeisten Startelfeinsätze und Einsätze generell, trotz einer einmonatigen Verletzungspause. Doch wie viel Anteil hatte Khedira an diesen Erfolgen? Und womit?
Weiträumiger Abräumer und starker Spieler für zweite Bälle
Vielfach gilt Khedira als rein defensiver Akteur; hierbei gibt es allerdings zwei Probleme. Einerseits ist Khedira zwar defensiv durchaus stark, allerdings bringt er seine Defensivfähigkeiten oftmals nicht in den klassischen Defensivzonen und ist dadurch auch keiner für die alleinige Sechs und sogar nicht unbedingt für die tiefere Rolle bei einer Doppelsechs geeignet. Andererseits ist er in der Offensive deutlich aktiver und präsenter, als viele Experten ihn einschätzen.
Khedira ist ein sehr guter Akteur, um viel Raum in hohen Zonen abzudecken und im Pressing sehr aktiv viel Druck aufzubauen. Beim 7:1-Sieg gegen Brasilien war er beispielsweise häufig der zweithöchste Spieler in der Formation, stellte die Räume hinter dem Mittelstürmer fast im Alleingang zu, rückte von der Achterposition im eigentlichen 4-1-2-3/4-3-3 immer weit nach vorne, kreierte dadurch asymmetrische Formationen und war letztlich mitverantwortlich für die relevanten Ballgewinne bei diesem historischen Kantersieg. Dies kann er hervorragend und man sieht diese Spielweise häufig von ihm, auch wenn er in einzelnen Partien sogar Manndeckungsaufgaben vor der eigenen Abwehr erfüllte (z.B. einmal gegen Iniesta im Clásico).
Bei Real war es ebenfalls Xabi Alonso, der eine absichernde Funktion einnahm, während Khedira vielfach nach vorne schob und die langen Bälle auf die Flügelstürmer oder in die Spitze absicherte. Die zahlreichen Diagonalbälle Ramos‘ und Alonsos sollten im Idealfall natürlich auf Cristiano Ronaldo und Co. kommen, doch Khedira war quasi das Sicherheitsnetz. Er verhinderte Konter nach Ballverlusten, holte sich Abpraller, oder fungierte als Anspielstation, die den Ball schnell wieder auf die großen bzw. größeren Stars zurückspielte. Das war seine primäre Aufgabe – doch offensiv war Khedira keineswegs nur darauf limitiert.
Situative Durchbrüche und Kombinationsausflüge
Khedira ist auch im Stande für Chaos in der Offensive zu sorgen. Zwar wirkt er teilweise technisch etwas unkoordiniert und unsauber, doch punktuell kann Khedira mit Ball am Fuß an Gegenspielern vorbeimarschieren oder sich in sehr schnellen, hochwertigen Kombinationen beteiligen und für Raumgewinn in engen Räumen sorgen. Diese Situation aus einer Partie gegen den FC Barcelona verdeutlicht dies:
Immer wieder kann Khedira situativ solche Läufe einbauen und damit Gegenspieler überrumpeln. Doch noch interessanter ist, wie Khediras Vertikalläufe in der Endfolge von Angriffen gefährlich werden können. Einen nominellen Sechser verfolgt man nicht bis hinter die Abwehr; hier muss der Gegner sich etwas einfallen lassen, was ohnehin für viele Mannschaften schon eine schwierige Aufgabe ist.
Zusätzlich visiert Khedira nicht nur die richtigen Räume mit der richtigen Dynamik an, er nutzt das auch oft um Räume für seine Mitspieler zu öffnen und er wählt häufig genau den richtigen Moment, wenn das Sichtfeld und die Aufmerksamkeit der Gegenspieler nicht im ausreichenden Maß gegeben ist, um unbemerkt durchzubrechen.
Wieso unterschätzt?
Hier stellt sich aber natürlich die Frage, wieso ein Spieler wie Khedira – bei einem solchen Lebenslauf und Fähigkeiten – ablösefrei und ohne große Gerüchte oder Hickhack in die Serie A zu Juventus wechselt. Einerseits ist natürlich klar, dass das schlichtweg ein gutes Angebot für beide Seiten war und sich der Wechsel darum so ruhig gestaltete. Andererseits gibt es auch zahlreiche Kritiker Khediras, die seine technische Unsauberkeit fälschlich mit genereller technischer Schwäche gleichsetzen. Ebenso erheben sich zahlreiche Stimmen, die schlichtweg taktische Wildheit mit taktischer Dummheit synonym sehen und darum Khedira unterschätzen.
Allerdings muss auch gesagt werden, dass Khedira eben nicht mehr der Spieler ist, der er 2012 noch war. Nach seinem Kreuzbandriss ist seine Dynamik und Athletik nicht mehr ganz auf dem Niveau, die fehlende Spielpraxis hat sich außerdem negativ auf sein Timing ausgeweitet. Doch auch darum dürfte Khediras Wahl für Juventus und vice versa genau richtig gewesen sein.
Rolle bei Juventus
Diesen Sommer könnte es bei Juventus einen kleinen Umbruch geben. Dabei geht es vorrangig darum, ob Pirlo geht – sein Abgang in die MLS scheint nämlich fast eine beschlossene Sache zu sein. Massimo Allegri dürfte Khedira wohl auch deswegen gewollt zu haben, um die Lücke Pirlos füllen zu können. Nicht falsch verstehen: Pirlo ist ein komplett anderer Spielertyp und Khedira kann ihm diesbezüglich nicht das Wasser reichen.
Die Lösung für den Pirlo-Abgang dürfte dennoch Khedira sein, weil er Claudio Marchisio – der Pirlo bereits mehrmals vertrat – oder Paul Pogba – der dies unter Conte einige Male tat – erlaubt, von den Halbpositionen in der Raute auf die Sechser-Position im 4-3-1-2/4-1-3-2 zu wechseln.
Dies würde das System durchaus komplettieren. Marchisio ist ein intelligenter, balancierende Mitläufer auf sehr hohem Niveau; Pogba ein dribbelstarker und sehr aktiver Spielgestalter mit einzelnen Problemen in Konstanz und Entscheidungsfindung. Khedira könnte mit Pogba hinter Allround-Zehner Arturo Vidal eine extrem durchschlagskräftige und laufstarke Mittelfeldzentrale bilden, welche von Marchisio auf der Sechs unterstützt wird. Besonders in der etwas trägeren Serie A wäre dies wohl sehr effektiv.
Ebenfalls denkbar wäre, dass Khedira als Rollenspieler fungieren wird, langsam zu alter Form zurückkommt und Juventus Zeit hat, um einen Nachfolger für Pirlo zu suchen; so soll Yohan Cabaye bei PSG auf der Abschussliste stehen…
Rene Maric, www.abseits.at
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