Wer die letzten Spiele des FC Barcelona sah, der wunderte sich kaum, dass sich die Katalanen vorzeitig von Trainer Ronald Koeman trennten. Sergi Barjuan wird interimistisch an der Seitenlinie stehen, bis der Nachfolger übernimmt. Dieser steht laut Medienberichten auch schon fest, denn Vereinslegende Xavi soll seinem Stammverein neues Leben einhauchen.
Stratege und Titelhamster
Xavi prägte als Mittefeldspieler die goldene Ära des FC Barcelona und der spanischen Nationalmannschaft. Er gewann mit den Katalanen acht Mal die nationale Meisterschaft und vier Mal die Champions League. 2008 und 2012 wurde er Europameister, dazwischen Weltmeister. Er gehörte nicht zu den spektakulärsten Spielern, war aber einer der größten Strategen der Fußballgeschichte, der seine Gegenspieler aus ihren Positionen zog, in praktisch jeder Situation offene Räume fand und seine Mitspieler um sich herum besser aussehen ließ. Xavi war einer der effektivsten und intelligentesten Mittelfeldstrategen aller Zeiten.
Meister ohne Punkteverlust
Der 41-Jährige spielte sein gesamtes Leben lang nur beim FC Barcelona, bis er seine Karriere beim al-Sadd Sports Club in Katar ausklingen ließ. Dort bereitete er sich bereits als aktiver Spieler auf seine Trainerrolle vor, die er zu Beginn der Saison 2019/20 ebendort begann. Vergangene Saison führte er seine Mannschaft von der Seitenlinie aus zum Meistertitel und verlor dabei keine einzige Partie. In 22 Spielen gab es 19 Siege und drei Unentschieden, die Tordifferenz lautete 77:14. Auch in der aktuellen Saison ist seine Mannschaft nach sieben Partien noch ohne Punkteverlust.
Xavi sah seine Trainerrolle in Katar nach eigenen Aussagen als Vorbereitung auf den Job in Barcelona an. Er wollte bei den Katalanen nicht gänzlich unerfahren als Trainer einsteigen, wobei er sich auch als Spieler öfters Diskussionen rund um die taktische Ausrichtung mit seinen Trainern lieferte, insbesondere mit dem ehemaligen Spanien-Coach Vicente del Bosque. Xavi wollte lieber wie im Verein auf der Acht statt auf der Zehn spielen und schlug deshalb eine Umstellung vom 4-2-3-1 auf ein Barca-typisches 4-3-3 vor.
Dreierkette und fünf Offensivakteure
Als Trainer in Katar experimentierte Xavi was Formationen anging, allerdings ließ er meist mit drei Innenverteidigern, zwei defensiven Mittelfeldspielern und fünf offensiv ausgerichteten Akteuren spielen, etwa in einem 3-2-4-1-System. Er setzt auf einen beidfüßigen Tormann, der von hinten das Spiel mitaufbauen soll und auf Innenverteidiger, die mit dem Ball am Fuß in offene Räume stoßen sollen, wann immer sich diese Möglichkeit ergibt.
Die vier zentralen Mittelfeldspieler haben gänzlich verschiedene Vorgaben. Während die beiden Sechser positionstreu agieren und beim Aufbauspiel kurze Anspielmöglichkeiten anbieten sollen, genießen die beiden Achter viele Freiheiten in positioneller Hinsicht. Der mittlerweile 36-jährige Santi Cazorla kann als Paradebeispiel dafür bei al-Sadd gelten, was die Rolle des offensiven Mittelfeldspielers betrifft. Die Achter sollen immer wieder in die Halbräume abdriften, viel in Bewegung sein und kreative Impulsgeber sein.
Auch am Flügel findet man einen weiteren der ansonsten eher wenigen bekannten Akteuren bei al-Sadd. André Ayew, ein nomineller Linksaußen und ehemaliger Premier-League-Spieler, kommt auf der rechten Außenbahn zum Zug. Im Gegensatz zum FC Barcelona, wo die Flügel viel Breite geben, rücken die Außenspieler unter Xavi stark ins Zentrum.
Mittelstürmer Baghdad Bounedjah zerbombt Saison für Saison die katarische Liga, hat aber unter Xavi eine tiefere Durchschnittsposition und soll sich immer wieder weit zurückfallenlassen, um seine Mitspieler in tieferen Zonen zu unterstützen. Das geht zwar ein wenig auf Kosten seiner noch immer starken Trefferquote, macht das Team aber kompakter.
Deshalb ist die katarische Liga so schwach
Xavis Mannschaft dominiert die Liga komplett nach Belieben und der Trainer zeigt in taktischer Hinsicht einige interessante Aspekte – etwa bevorzugt kurz abgespielte Eckbälle – die man auch beim FC Barcelona sehen wird. Die allesentscheidende Frage ist aber, was die bisher gezeigten Statistiken überhaupt wert sind. Auch wenn es viele Scheichs nicht wahrhaben wollen – die katarische Liga ist sehr schwach und jeder österreichische Bundesligist würde sie gewinnen oder hinter Al Duhail zumindest Zweiter werden, wenn er den Platz mit al-Sadd tauschen würde. Das Leistungsgefälle ist sehr groß, denn während Xavis Mannschaft und Konkurrent Al Duhail ihre Qualitäten haben, sind die anderen Teams viel weiter unten anzusiedeln.
Wie kann das sein, wenn doch sicher die reichen Eigentümer der Klubs viel Geld in ihre Vereine pumpen wollen? Die Antwort liegt an der strengen Regel was die Anzahl der Legionäre betrifft. Die Klubs können nur drei Legionäre holen (in al-Sadds Fall Ayew, Cazorla und Guilherme) plus einen weiteren Spieler aus dem AFC-Verband (Woo-young Jung) sowie einen Kicker aus dem arabischen Raum (Baghdad Bounedjah). Der Rest der Spieler muss die katarische Staatsbürgerschaft besitzen.
Katar hat zwar rund drei Millionen Einwohner, davon sind jedoch nur rund zehn Prozent katarische Staatsbürger, sodass der heimische Spielerpool sehr klein ist. Xavis Verein hat sich natürlich die besten Spieler aus dem Land geschnappt und insbesondere die Mannschaften aus der unteren Tabellenhälfte können nicht ansatzweise mithalten. Der einzige Klub der ebenfalls über mehrere katarische Nationalspieler verfügt ist Al Duhail.
Xavi hat dementsprechend seine Mannschaften sehr offensiv ausgerichtet, da sein Team alle Spiele dominiert und so gut wie nie Gefahr läuft einen Punkt abzugeben. Vor rund zwei Wochen gab es aber eine Partie, in der seine Mannschaft durchaus eklatante defensive Schwächen zeigte und vier Gegentore kassierte. Die drei Punkte blieben trotzdem bei Xavis Mannschaft, da seine Schützlinge gleich sechs Mal trafen. Dass Xavis Mannschaft jedoch gegen einen weit schwächeren Gegner vier Gegentore einstecken muss, wird dem einen oder anderen zu denken geben.
Die größte Chance ist der Nachwuchs
Wenn Xavi eine funktionierende Mannschaft übernehmen würde, wäre es weit weniger schlimm, doch sein zukünftiges Team ist nicht mehr mit den Mannschaften vergleichbar, mit denen Xavi bei den Katalanen brillierte. Die Katalanen haben nicht mehr diese Dominanz, dass sie sich rein auf die Offensivabteilung verlassen können, da jeder Gegner in der Liga dominiert wird. Dennoch ist Xavi die logische Wahl und die Chance auf eine Neuausrichtung des Vereins. Xavi würde neben den wenigen etablierten älteren Haudegen wie Busquets und Jordi Alba auf zahlreiche junge Spieler setzen, die auch durchaus zur Verfügung stehen, zum Teil aber noch den nächsten Schritt Richtung Weltklasse machen müssten. Neben Pedri, Fati, Puig und einigen anderen könnte auch Yusuf Demir von dem neuen Trainer profitieren, auch wenn es der Leihspieler natürlich unter jedem Coach schwerhaben wird einen Platz in der Startaufstellung zu ergattern.
Die größte Chance des FC Barcelona ist sicherlich sich wieder über den eigenen Nachwuchs zu definieren. Die Jugendakademie La Masia muss in den nächsten Jahren und Jahrzehnten wieder den Großteil der Spieler stellen und mit Xavi kommt ein Trainer, der diese Richtung forcieren könnte. La Masia muss wieder eine Institution werden, ein Alleinstellungsmerkmal, das den FC Barcelona von den anderen finanzkräftigeren Spitzenklubs unterscheidet. Sonst wird man mit den neuen und alten Premier-League-Eigentümern auf Dauer nicht mehr mithalten können.
Demir passt perfekt in Xavis Flügelspieler-Profil – aber reicht die Qualität?
Sollte Xavis taktische Ausrichtung beim FC Barcelona – unabhängig von der jeweiligen Formation – ähnlich ausfallen wie bei al-Sadd, dann könnte Demir auf beiden Flügelpositionen perfekt zum Zug kommen, da es ohnehin eher seiner Natur entspricht von außen nach innen zu dribbeln bzw. zu kombinieren, als bis zur Grundlinie hinunterzulaufen. Es wird aber in erster Linie an Demir selbst liegen, ob er den nächsten Schritt machen kann. Wenn er sich im Training aufdrängt und weiterhin zumindest im Kader der Kampfmannschaft bleibt, wird er von Xavi einiges lernen können, insbesondere was die Abläufe und Automatismen in der Offensive angeht. Die waren nämlich selbst bei al-Sadd teilweise wunderbar anzusehen.
Stefan Karger, abseits.at
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Stefan Karger
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