Leos englischsprachiger Wikipedia-Artikel hat auf Klublevel fast ausschließlich positive Überschriften. In der Nationalmannschaft musste der Floh aber besonders bei Endspielen herbe Enttäuschungen hinnehmen, die... Denn euch ist heute der Messias geboren –  Lionel Messi ist 30 Jahre alt (2/2)

_Lionel Messi - ArgentinienLeos englischsprachiger Wikipedia-Artikel hat auf Klublevel fast ausschließlich positive Überschriften. In der Nationalmannschaft musste der Floh aber besonders bei Endspielen herbe Enttäuschungen hinnehmen, die schließlich zu einem zweimonatigen Rücktritt führten. Die Fans der Gauchos sind hart. Messi musste sich ordentlich Kritik gefallen lassen: Immer wieder wird ihm vorgeworfen, er sei kein Aufrüttler wie Maradona, der immer das Epizentrum seiner Mannschaften war.

El Clarín schrieb nach dem Aus bei der WM 2010: „Messi musste alle Verantwortung tragen und der ist nun mal kein Maradona.“ Bereits damals wollte sich der Offensivspieler nie wieder das himmelblau-weiße Trikot überstreifen. Freunde vermuten, dass die Tatsache, dass Messi mit 13 Jahren seine Heimat während der Wirtschaftskrise verließ und heute in Spanien lebt, Neid bei vielen seiner Landsleute erzeugt. „Niemand weiß, wie sehr ich Argentinien liebe.“, seufzt der fünffache Ballon d’or-Gewinner. Diese Liebe führte im August zu seinem Rücktritt vom Rücktritt.

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Er sei ein normaler Mensch, hat Messi einmal erklärt. Schwer vorstellbar, dass er sich tatsächlich so fühlt. Er muss den Spagat zwischen einem Spitzensportler und Celebrity schaffen. Abgesehen vom Kicken, interessieren ihn nur seine Familie und Freunde. In Castelldefels, einem Küstenort etwa 20km vor Barcelona, kauft Leo sein erstes Haus. Dort lebt er anfangs mit seinem Vater und seinem Bruder. Heute mit seiner Lebensgefährtin und seinen beiden Söhnen. Nach der Geburt seines Ältesten, lässt er sich am Vatertag dessen Handabdrücke auf die Wade tätowieren. Das Konterfei seiner Mutter trägt er schon seit einiger Zeit auf dem Rücken. Messi hat sich einen Arm und ein Bein ausmalen lassen und wirkt jetzt erwachsener als vorher. Damals lief es sportlich nicht optimal. War diese Maßnahme also Teil eines bewussten Imagewandels?

In Castelldefells legt er auf Einrichtung zunächst keinen Wert. Anfangs stehen überall eingepackte Schuhe und Kleidungsstücke seiner Sponsoren herum. Leo trainiert in der Ciutat Esportiva Joan Gamper und lässt zuhause die Spielkonsole glühen. Er hat immer einen Hund: Zunächst einen Boxer namens Facha, heute die Bordeaux-Dogge Hulk. Das war‘s dann schon mit dem Leben außerhalb des Platzes. Er behauptet, dass er nicht einmal wüsste, wieviel Geld er auf dem Konto habe. Seine Mutter kümmert sich um seine Stiftung, sein Vater und seine Brüder regeln sein Management. Als der Fußballstar 2015 Probleme mit den Finanzbehörden hat und der spanische Fiskus eine Geldstrafe von 4,1 Millionen Euro fordert, erklärt er, er wüsste nicht, worum es geht. Seine Verteidigungsstrategie ist immer die gleiche: Ich will nur Fußballspielen. Ich unterschreibe alles, was mir mein Vater gibt ohne es zu lesen. Ich habe nichts Böses getan. Papa Jorge nimmt alle Schuld auf sich. Die Staatsanwaltschaft argumentiert jedoch, dass die Vorkommnisse dem Profi spanisch vorkommen hätten müssen: Konkret geht es um die Errichtung einer in Panama registrierten Stiftung. Die einzigen Begünstigten des Konstruktes mit fünf Scheindirektoren sind ein Jorge Horacio Messi und Lionel Andrés Messi. Sie haben Bildrechte an Offshore-Firmen verkauft und damit Werbeeinnahmen über Briefkastenfirmen praktisch nicht versteuert. Nicht einmal die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung und zu einer saftigen Geldstrafe – die für ihn sicher nicht ins Gewicht fällt – können etwas am Image des Floh ändern. Messi präsentiert sich als ein Athlet auf dem Feld und daneben als ein Schattengewächs, das die Ruhe der familiären Idylle benötigt. Ganz anders als sein Kontrahent CR7, der sich mit michelangelo-gemeißeltem Körper, Traumbeißerchen à la Doktor Best, sündteuren Autos und Fetzen rundum als Megastar darstellt. Die Diskussion, wer von den beiden denn der beste Fußballer aller Zeiten sei, kann man sich an dieser Stelle ersparen. Vincente del Bosque meint dazu knapp: „Sie sind sehr unterschiedlich. Das Einzige, was sie verbindet, sind erzielte Tore.“ Damit sollte man es auch belassen. Ronaldo scheint in seinem Image gefangen zu sein, während Messis Zurückhaltung ihn für den Durchschnittszuschauer sympathischer macht. Wer weiß wie es unter der Oberfläche aussieht. Wissen Sie beispielsweise wie die Offshore-Agentur heißt, die Jorge Messi bei Mossack Fonseca – der Rechtsanwaltskanzlei, die Protagonistin der Panama-Papers war – gründen ließ? Mega Star Enterprises.

Barcelonas große Liebe

Gegen Albacete erzielt Messi als jüngster Spieler, dem bei seinem ersten Spiel ein Tor gelang, den Siegtreffer. Der Rekord wird später von Bojan Krkić gebrochen. In der Mixed Zone widmet er das Tor seiner Mutter und seinem Neffen, der noch nicht einmal geboren ist. Als Messi in der Ersten von Barcelona Fuß fasst, prägt ihn das Zusammenspiel mit Ronaldinho am meisten. Ronnie spielt lieber Fußballtennis, als sich bei Sprintübungen zu verausgaben. Er weckt Leos Ehrgeiz für immer diffizilere Tricks und kitzelt ungeahnte Feinheiten aus ihm heraus. Der Brasilianer ist großer Basketballfan und überredet den Floh Eigenheiten dieses Sportes auf den Fußball zu übertragen. Als er ihn jedoch nicht nur mit der NBA konfrontiert, sondern mit ihm auch um die Häuser zieht, schreitet der Verein ein. Mittlerweile ist Leo zur Lebensversicherung der Katalanen aufgestiegen, einen zweiten Ronaldinho verkraftet der Klub nicht.

Leos erste Profisaison ist von zwei Muskelfaserrissen geprägt, dazu kommen Probleme mit der UEFA und ein unmoralisches Angebot von Inter Mailand. Er verzweifelt und lebt ungesund. Der Oberschenkel ist bis heute seine empfindlichste Stelle. Trotzdem schafft er es bis zum CL-Finale 2006 fit zu werden, Rijkaard beschließt aber ihn nicht in den Kader aufzunehmen. Zu groß ist das Risiko einer Folgeblessur. Messi weint vor Zorn. Nach dem Sieg der Katalanen will er nicht einmal seine Medaille entgegennehmen. Deco schnappt sie sich, hängt sie Leo um und sagt: „Eines Tages wirst du erkennen, was für ein besonderer Abend das ist.“ Tatsächlich begreift er später welche Bedeutung diese Nacht hatte und bereut, dass er nicht mit dem Team gefeiert hat. An Frank Rijkaard hat er durchwegs positive Erinnerungen: „Ich verdanke Rijkaard praktisch alles. Er hatte Vertrauen in mich, er ermöglichte mir mein Debüt als Jugendlicher.“ Nach Rijkaard kommt Pep Guardiola, der zunächst keinen Zugang zum flinken Argentinier findet. Er setzt ihn am Flügel ein, Eto’o spielt den Mittelstürmer. Es dauert, bis das neue System greift. Viel wichtiger ist jedoch der Einfluss des jetzigen Man. City-Trainers auf Messi selbst. Als Leo im September 2007 die dritte Verletzung des Jahres hat, sind die Mediziner ratlos: Soll man seine Ernährung umstellen? Wärmt er sich nicht richtig auf? Ist es am Ende gar nur Pech? D’Agostino, Mannschaftsarzt der Gauchos, hat eine andere Erklärung: „Die Hauptursache für Messis häufige Verletzungen ist meiner Meinung nach in den hohen Ansprüchen zu suchen, die er an sich selbst stellt.“ Pep gibt seinem Superstar trotzdem einen neuen Ernährungsplan und verlangt, dass er einen persönlichen Physiotherapeuten vor und nach dem Training konsultiert. Dieser begleitet ihn bis heute auch zur Nationalmannschaft. Messi hasst den Milkshake, den er jetzt nach dem Training in die Hand gedrückt bekommt und auch die ausgeprägten Stretch-Einheiten nerven. Am Allermeisten geht ihm aber auf den Zeiger, dass er lernen muss geduldig zu sein. Die Umstellungen greifen: Nur zehn Tage fehlt der Floh während Guardiolas vierjähriger Amtszeit bei Barça. Als falsche Neun kann er seine Stärken ausspielen. Diese Position brachte Johan Cruyff, der sie von Rinus Michels bei Ajax zugeschnitten bekam, nach Barcelona. Der Trainer Cruyff ließ dann Michael Laudrup auf dieser Position spielen, jetzt holte Guardiola so mit Messi das Triple. Schon bei der Premiere panieren die Blaugranas Real Madrid daheim mit 6:2. „Die Verteidiger wussten nicht, was sie tun sollten, und Leo hatte jede Menge Platz.“, erinnert sich Gerard Piqué. Wo Gewinner, da sind auch Verlierer und bei Barcelona gibt es einen prominenten Fall: Zlatan Ibrahimovic. Der Schwede macht 2010 mehr Tore als Messi und muss am Ende der Saison gehen. Zlatan sieht es bis heute so: Er wird für den Zwerg „geopfert.“ Seine Meinung unterscheidet sich dabei gar nicht so von der offiziellen Version der Barça-Leute. Sportdirektor Beguiristain gibt unverblümt die Prioritätsverteilung bekannt: „Es war nicht im Interesse von Barcelona seine [Anmerkung: Messis] Entwicklung zu stoppen.“ Nach 99 Punkten in der Liga, ist die Zeit des jetzigen Man.United-Stürmers in Barcelona vorbei. Das Auftreten der Blaugranas wird auf Messi ausgerichtet. Seine Räume sollen geblockt werden, damit er seine Kreativität voll ausleben kann. Als Guardiola seinen Vertrag 2012 nicht verlängert, gibt es anlässlich des 14.Titelgewinns noch eine herzliche Umarmung der Beiden: „Danke, Leo! Wir haben viel gewonnen und ohne dich wäre es nicht einmal halb so viel geworden.“, flüstert der Katalane in Messis Ohr. Messi ist gerührt und retourniert das Kompliment. Heute ist der Kontakt abgebrochen. So ist Fußball, Profifußball.

10.000 Stunden Übung benötigt es um Weltklasse zu werden – überall.                                   

Sein Vater, sagt Messi, habe ihn immer kritisiert. Lob bekam er nur nach außergewöhnlichen Partien zu hören. Manchmal scheint es, als ob Messi gar nicht in seine Familie passt: Er ähnelt seinen Brüdern körperlich überhaupt nicht. Er ist klein, wendig und verfügt über sensationelle Beine. 4,5 Schritte macht er pro Sekunde. Das ist ein besserer Wert als jener von Asafa Powell, der 2007 über 100 Meter Weltrekordhalter wurde. Messi kann problemlos 3-4 Tempodribblings nacheinander abspulen und ist unberechenbar. Er hat ein natürliches Gespür für den Ball, weiß wieviel Raum er zur Verfügung hat und kann diesen optimal nutzen. Außerdem verfügt er über ein gutes visuelles Gedächtnis. Doch ohne Förderung wäre aus Leo nicht der beste Fußballer der Welt geworden. In seiner Heimat gilt ein gewisser Carlovich als bester Fußballer Argentiniens: Von dem in Rosario geborenen Spieler gibt es keine Filmaufnahmen, keine Geschichten, sondern nur Legenden. Er hatte geniale Fähigkeiten, war aber ein Anarchist, der nur tat, was ihm Spaß machte. Er wollte spielen, hatte aber nicht den Ehrgeiz oder die Disziplin aus seinem Talent in einer großen Liga viel Geld zu machen. Carlovich ist ein Mythos und wenn Messi nicht so ehrgeizig, so diszipliniert und fokussiert wäre, würde er – wie Carlovich – nur eine Referenz für argentinische Buben bleiben. Er ist aber ein harter Arbeiter und keinesfalls ein Messias, der vom Himmel gefallen ist. Von Kindesbeinen an schulte sich Leo selbst und bewies erstaunliche Ausdauer, die ihm später fünf Ballon d’or einbrachte.

Die Verhältnisse in denen Messi aufwuchs waren ordentlich und nicht bitterarm. Er hatte genug zu essen und konnte medizinisch gut versorgt werden. Das sind entscheidende Fakten für einen Profisportler. Wie bei allen hochbegabten Fußballern musste auch der kleine Leo gegen Ältere antreten und zusätzlich noch den Nachteil seiner unterdurchschnittlichen Körpergröße wettmachen. Schon als Jugendspieler machte sich sein Torhunger bemerkbar. „Leo hatte etwas, das ich nicht bei vielen Jungs sehe. Es kam ihm nicht einmal in den Sinn, auch mal nach hinten zu spielen.“, erzählt Xavi. Niemand versuchte seinen Spielstil je zu verändern, dennoch machten sie in Barcelona einen Teamplayer aus ihm. Der wohl wichtigste Schlüssel um Erfolg zu haben, ist seine Gier nach ständiger Verbesserung: „Jetzt möchte ich noch besser werden, mehr Titel gewinnen, damit ich noch mehr schöne Erinnerungen habe.“, sagt er beispielsweise 2012 kurz nachdem er den Ballon d’Or gewonnen hat. In der FCB-Kabine hat er früh klargemacht: Ich will der Beste sein. Seine Mitspieler akzeptieren das, weil sie wissen, dass er das Zeug dazu hat. Psychologe Matthew Syed sagt über Profisportler: „Sie erleben viel schneller und intensiver als die meisten eine Antiklimax.“ Demütig, opferbereit, liebenswürdig nennen ihn Kollegen und Freunde. Das fällt Zuschauern, wie dem Schriftsteller Eduardo Sacheri, beim Torjubel auf: „Er sucht immer den Mitspieler, von dem die Vorlage kam. Dieser Junge versteht Fußball. Obwohl er der Beste ist, besitzt er die Demut zu erkennen, dass Fußball mit elf Spielern gespielt wird, nicht nur mit einem. Er hat moralische Grundsätze.“ Messi meint, dass seine Zurückhaltung keine Schüchternheit, sondern bewusste Reserviertheit ist. Er schützt sich selbst und hat nach eigenen Angaben noch nie mit dem Mannschaftspsychologen gesprochen. Für ihn ist dies Ausdruck seiner Kultur: Er ist ein gelassener Gaucho, der Zuflucht nur im familiären Nest findet. Wenn man Messi fragen würde, wann er zuletzt nervös war, fällt ihm bestimmt der Tag ein, an dem er in einem Fernsehstudio auf Maradona traf. Der Superstar aus vergangenen Tagen hatte seinen Nachfolger davor öfters angerufen und ihm zu tollen Spielen mit Barça oder der Junioren-Nationalmannschaft gratuliert. „Einfach unglaublich“, sagt ein verschwitzter Leo nach einer Stunde Fußballtennis im argentinischen TV. Obwohl die Hand Gottes einst sagte, dass nur Leo seinen Platz einnehmen könne, muss man heute feststellen, dass die beiden doch verschieden sind: Maradona ist ein Dirigent, Leo ist es nicht. Ihre gemeinsamen Pläne für die argentinische Nationalmannschaft sind nicht aufgegangen. Messi selbst schlägt dem Ex-Napoli-Legionär vor, in Südafrika das 4-4-2 durch ein 4-3-1-2 oder 3-4-1-2 zu ersetzen. Maradona revanchiert sich indem er dem knapp 23-jährigen höchstpersönlich die Kapitänsbinde aufs Zimmer bringt. Mit einem bitteren 0:4 gegen Deutschland im Viertelfinale platzt der Traum vom ganz großen Coup der beiden M’s mit der Nummer 10. Messis Leistungsbilanz unter dem Weltmeister von 1986 ist die schlechteste seiner Karriere: Drei Tore in sechzehn Spielen. „Du musst lernen damit zu leben“., betet ihm Vater Jorge vor. Selbst ein Superstar seiner Güteklasse erlebt Rückschläge. Mit den frustrierten Gegnern auf dem Platz kann der Argentinier dank seiner famosen Antizipation jedoch besser umgehen. Neben dem Platz hat er mit 30 Jahren vielleicht ein Level der Entspannung gefunden, wo er niemandem etwas beweisen muss. Es ist ihm zu wünschen.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag

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