Nach dem tragischen Rücktritt von Tito Vilanova übernahm Gerardo Martino das Amt des Cheftrainers des FC Barcelona. Als Schüler von Marcelo Bielsa, der ebenfalls... Martinos Barcelona – Die Katalanen auf dem Pfad zu Flexibilität und Normalität

FC Barcelona Logo 2Nach dem tragischen Rücktritt von Tito Vilanova übernahm Gerardo Martino das Amt des Cheftrainers des FC Barcelona. Als Schüler von Marcelo Bielsa, der ebenfalls Pressingfußball und Kurzpassspiel predigt, verknüpfte sich mit ihm die Erwartung, Barcelona erneut an die Spitze des Weltfußballs zu führen.

Obwohl Martinos Ansichten den Idealen von Pep Guardiola, der diese Mannschaft kreiert hat, ähneln, kann Martino auch pragmatischer agieren, was er mit Paraguay bewiesen hat. Dort ärgerte er Spanien im WM-Viertelfinale und zog zudem mit einem eher defensiven Ansatz ins Finale der Copa Amerika ein. Wo Vilanova die Mannschaft primär verwaltet hat, waren durch Martino neue Impulse zu erwarten. Er musste den anspruchsvollen Spagat bewältigen, einerseits die spielerische Identität Barcelonas nicht zu stark umzuwälzen, anderseits die Schwachstellen zu beheben.

Schließlich verlief die vorherige Saison nicht ideal, obwohl die Blaugrana den Meistertitel errang und ins Champions-League-Halbfinale einzog. National erreichten sie beeindruckende Konstanz gegen schwächere Gegner, allerdings strauchelten sie in den Clásicos. In der Liga setzte es ein Unentschieden und eine Niederlage, zudem scheiterten sie im Pokal am erbitterten Rivalen. Barcelona gelang es nicht, mit dem Konterfußball Madrids umzugehen. Der FC Bayern wählte einen zurückhaltenderen Ansatz, womit sie Barcelona sogar in zwei Partien insgesamt 7:0 demütigten. Es schien, dass die Teams endgültig entdeckt haben, wie man den Raum zwischen den Linien so massiv komprimiert, dass selbst Barcelona ihn kaum bespielen kann.

Das gravierendste Problem war das Pressing. Die Defensive wirkte äußerst instabil, des Weiteren eroberte Barcelona den Ball nicht so zügig wie gewohnt. Barcelona jagte meistens in einem 4-1-4-1 dem Ball nach. Da Messi nur einen marginalen Beitrag zur Defensive leistete, mussten die Mittelfeldspieler weit aufrücken, um Druck auszuüben. Da die Spieler jedoch weder besonders koordiniert noch schnell attackierten, bildete sich eine sehr flache Stellung, die der Kontrahent überbrücken konnte. Anstatt dass sich die Mittelfeldspieler gegenseitig absicherten und Räume verengten, rannten sie häufig alle nach vorne. Meistens wurden vom Gegner Verlagerungen auf den Flügel mit anschließendem Pass ins Zentrum oder lange Pässe mit folgender Kopfballablage angewandt, um das auszunutzen.

Martino dämmte das ungeheuer variable Pressing Guardiolas, das in der letzten Saison nicht mehr funktionierte, ein, um der Mannschaft mehr Stabilität zu verleihen. Sie pressen nun öfter aus einer klaren 4-3-3-Struktur heraus, aus der situativ Akteure vorschieben. Somit wird der Raum vor der Viererkette besser zugestellt. Allerdings gab es Spiele, wo ihr Pressing eher wie ein 4-4-2 wirkte, obgleich die äußeren Mittelfeldspieler sich relativ hoch positionierten und ein zentraler Mittelfeldspieler vorne unterstützte. Weiterhin ziehen sie sich manchmal etwas weiter zurück, um den Gegner herauszulocken. Das führte zum Beispiel dazu, dass mit Rayo Vallecano zum ersten Mal seit fünf Jahren ein Team in einem Pflichtspiel die Ballbesitzhoheit gegenüber den Katalanen hatte.

Ein weiteres Problem der vergangenen Saison war die Berechenbarkeit der Offensivreihe. Es mangelte an flexibleren Rochaden, was sich auch in der Verteilung der Torschützen manifestierte. Während Messi trotz seiner Verletzung allein in der Liga 46 Treffer erzielte, litt unter seiner Rolle die Flexibilität des Kollektivs. Die riesige Bedeutung von Messis Toren führte mit der Zeit dazu, dass er möglichst alle Partien absolvieren sollte. Um das zu realisieren, befreite ihn Vilanova von jeglicher Defensivarbeit und instruierte ihn, auf kraftraubende Sprints zu verzichten. Das gipfelte in der 0:2-Niederlage gegen den AC Mailand, wo der Argentinier lediglich sieben Kilometer Laufstrecke zurücklegte. Da Messi keine Räume für seine Mitspieler öffnete, waren jene dazu verdammt, strikt ihre Seiten zu halten. Deswegen fiel es Topgegnern zu leicht, die Flügel von den Zentrumsakteuren zu isolieren. Insgesamt rührte daher phasenweise eine hohe Statik im Barca-Spiel. Martino veranlasste ihn hingegen wieder zu einem freieren Positionsspiel. Er frequentiert die rechte Flanke stärker oder tauscht sogar für mehrere Minuten die Position mit dem Rechtsaußen. Außerdem beteiligt er sich intensiver im Gegenpressing. Um der Ansammlung an extraordinären Fußballern mehr Improvisation und Torgefahr hinzuzufügen, ergänzte Neymar den Kader. Das Überraschungsmoment mit gefährlichen Dribblings und Distanzschüssen rief vorher fast ausschließlich Messi hervor.

Die taktischen Veränderungen verschoben das Machtgefüge im katalanischen Mittelfeld. Auch wenn er noch immer europäische Spitzenklasse darstellt, macht sich bei Xavi der Alterungsprozess bemerkbar. Er glänzt weiterhin mit phänomenaler Übersicht und Passpräzision, jedoch hat er im Spiel gegen den Ball nachgelassen und kreiert nicht mehr tödliche Pässe am Fließband wie noch 2010. Dafür übernimmt Sergio Busquets nun mehr Verantwortung. Seine Ballsicherheit und Antizipation sind unglaublich, dennoch hielt er sich im Offensivspiel weitgehend zurück. Aufgrund des veränderten Systems, weshalb das Mittelfelddreieck enger agiert, erhält Busquets nun situativ die Lizenz, nach vorne zu rücken und das Pressing anzuführen. Zudem wählt er situativ den tödlichen Pass. Schließlich avancierte er in den vergangenen Jahren zu einem der konstantesten Spieler, weshalb er nun mehr Verantwortung schultern kann.

Xavi und Iniesta organisieren sich symmetrischer als unter Vilanovas Ägide. Damals ließ Xavi sich weiter zurückfallen und startete selten in die gefährlichen Zonen. Dafür gibt es gelegentlich die altbekannte Asymmetrie der Außenverteidiger, wobei in den letzten Spielen Dani Alves höher agierte als Adriano.

Als weitere taktische Alternative experimentierte er damit, die Außenverteidiger situativ ins Zentrum einrücken zu lassen, wie es auch der FC Bayern praktiziert. Diese Spielweise passte sehr gut zu Cesc Fabregas, der somit etwas von seinen Aufgaben im Spielaufbau entlastet wurde und offensiver agieren konnte. Außerdem verspricht sie besseres Gegenpressing.

Zudem postierte Messi sich im Clásico auf der rechten Seite, während Fabregas das Zentrum besetzte. Dadurch könnte Barcelona noch mehr Dominanz im Zentrum und Durchschlagskraft erlangen, um das Kombinationsfeuerwerk zu initiieren. Allerdings schwächte das die rechte Seite defensiv, da der emsige Sanchez sich mit der Bank begnügen musste.

Insgesamt will Martino seine Mannschaft flexibler gestalten. Dieses Vorhaben offenbart sich beispielsweise in Messis Rolle, neuen taktischen Varianten oder der wechselnden Pressingintensität. Im Kräftemessen mit Real Madrid wirkte Barcelona phasenweise wie eine Kontermannschaft, da sie ihre Pressinglinie nach hinten schoben und bei Ballgewinn schnell den Weg in die Spitze suchten. Die Mannschaft erreichte nur sporadisch die Fluidität, die sie in Guardiola-Zeiten prägte. Stattdessen traf Sanchez mit einem wunderschönen Heber nach einem guten Konter. Martinos Intention ist sinnvoll, da sich gegen Atletico Madrid oder den AC Mailand wieder mal zeigte, dass das Team nicht mehr jede Abwehr problemlos dekonstruieren kann. Allerdings ist mit Umstellungsproblemen zu rechnen. Im Spiel gegen Real Madrid schien es, als sei die Defensive den längeren Ballstafetten nicht gewachsen. In Halbzeit eins ließen sie nur eine Torchance zu, doch als Real sie tiefer einschnürte, brachen sie ein. Zudem muss die Zeit zeigen, ob die Qualität des Ballbesitzspiels erhalten werden kann, wenn sie auch andere Mittel nutzen. Kurz gesagt: Barcelona muss sich die Mittel der gewöhnlichen Teams aneignen, darf aber auf diesem Weg nicht seine außergewöhnlichen Eigenheiten einbüßen.

Leonard Dung, abseits.at

Leonard Dung

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