Nicht nur im Pressing stark: Atléticos durchdachte Mechanismen im Offensivspiel
Spanien 14.Mai.2016 Fabian Schaipp 0
Über das Defensivverhalten und Pressing von Atletico Madrid wurde ja bereits viel geschrieben. Dieses gehört zweifellos zu den besten und diszipliniertesten in Europa. Doch auch im Angriffsspiel verfügen die Spanier über durchaus interessante und vor allem erfolgreiche Mittel. Diese sollen hier genauer untersucht werden.
Grundformation
Atletico spielt zumeist in einem 4-4-2 mit den Außenverteidigern Juanfran und Felipe Luis. Im Mittelfeld spielen Kapitän Gabi und Augusto Fernández auf der Doppelsechs, rechts und links davon spielen meist Koke und Saul. Vorne bilden Fernando Torres und Griezmann das Sturmduo. Bei Rückstand oder um eine offensivere Ausrichtung aufs Feld zu schicken, ist Fernando Carrasco die erste Wechseloption, der dann meist im linken offensiven Mittelfeld spielt. Situativ lässt Griezmann sich im Pressing auch in die Viererkette im Mittelfeld zurückfallen. Dann spielt Atletico ein 4-5-1 oder Saul nimmt Griezmanns Position ein. Dies hat dann natürlich auch Einfluss auf das offensive Umschalten von Atletico.
Bei der Analyse soll der Fokus auf den Angriffsstrategien liegen, die in den Duellen mit Barcelona und den Bayern zu sehen waren, da im Hinblick auf das Champions-League-Finale gegen Real Madrid wohl ein ähnlicher Matchplan von Atlético zu erwarten ist.
Überladungen und vertikales Spiel
In den genannten Spielen waren die Ballbesitzphasen von Atletico natürlich sehr kurz, allerdings scheint dies genau der Plan von Diego Simeones Team zu sein. Bei Ballgewinn in der eigenen Hälfte wird meist sofort der vertikale Pass gesucht, um die Mittelfeldlinie des Gegners zu überspielen und vorne einen Durchbruch zu schaffen. Dies sieht man deutlich daran, dass Atlético auf den ballfernen Flügeln –oftmals der linke – auf einen Breitengeber verzichtet. Stattdessen werden stets das Zentrum und die (bzw. meist der rechte) Halbräum(e) überladen, was bei Anbetracht der Spielertypen Atléticos sehr viel Sinn ergibt. Denn außer Carrasco gibt es nicht einen klassischen Flügelspieler (wie z.B bei den Bayern Ribery oder Coman). Trotzdem verzichtet man dadurch auf schnelle Verlagerungen (beispielsweise von halbrechts auf halblinks), die bei zu langsamen Verschieben der Abwehr sehr gefährlich werden könnten. Schafft man keinen Durchbruch auf dem überladenen Flügel, bedeutet dies meist einen Ballverlust.
Im obigen Bild sieht man eine typische Raumaufteilung von Atletico nach Ballgewinn: auf rechts wird häufig mit bis zu fünf Spielern überladen, da Gabi und Koke extrem weit nach rechts rücken und sich Griezmann zudem in den Halbraum fallen lässt. Links steht zwar Carrasco für Verlagerungen bereit, ist aber eher in die Mitte hinein orientiert und zudem isoliert.
Solche Staffelungen haben natürlich den Vorteil, dass lokal eine Gleich- oder Überzahl geschaffen wird. Durch das extreme Herausrücken der Sechser (vom Zentrum nach halbrechts) und das oftmals verspätete Aufrücken der Abwehrreihe, bietet Atletico bei Ballverlusten allerdings auch sehr viel Raum an (im Bild oben der gesamte Mittelkreis). Dies war gegen die Bayern im Rückspiel teilweise problematisch, da durch das überragende Gegenpressing der Bayern aus den offensiven Umschaltmomenten Atléticos oft eine gefährliche Situation für die Bayern entstand. Zumeist schaffen es die Spanier aber durch eigenes Gegenpressing und extrem vertikales Spiel, die Gefahr nach Ballverlusten zu minimieren.
Die Perfektion des offensiven Umschaltmoments
Nicht immer schalten sich wie in der obigen Aktion derart viele Spieler in das Angriffsspiel ein. Oftmals reichen Torres, Griezmann und zwei nachrückende Mittelfeldspieler wie Koke und Saul oder Gabi, um gefährliche Toraktionen zu provozieren. Grund dafür ist einerseits der erwähnte Fokus auf die Halbräume und das Zentrum, andererseits auch die individuelle Stärke der Atlético-Spieler für genau solche Aktionen. Insbesondere Griezmann und Torres sind antrittsstark und können auch bei hohem Tempo schnelle Richtungswechsel vornehmen. Mit Koke, Gabi und Saul hat man drei äußerst körperlich robuste, aber zugleich technisch gute Spieler. Diese sind essentiell für das Nachrücken nach Ballgewinn um zweite Bälle oder Ablagen zu sichern.
Diese sind nämlich ein weiteres Muster, das bei Atletico scheinbar einstudiert und trainiert wird. Bei Ballgewinn in der eigenen Hälfte wird sofort der Pass auf einen der beiden Stürmer gesucht. Dieser wiederum versucht oftmals nicht, den Ball zu sichern, sondern legt ihn auf einen dritten Mann ab, meist einer der nachrückenden Mittelfeldspieler. Daraufhin können die Stürmer Sprints in offene Räume ansetzen, während der dritte Mann mit einer zum gegnerischen Tor orientierten Körperstellung (und eben nicht mit dem Rücken zum Tor wie der Stürmer nach dem ersten Pass) ein Dribbling starten kann, oder direkt den vertikalen Pass spielt. Ein weiterer Vorteil dieser Ablagen: der gegnerische Abwehrspieler muss sich entscheiden, ob er dem Stürmer folgt oder direkt den ballführenden Mittelfeldspieler presst. Trifft er die falsche Entscheidung oder reagiert zu spät, ist Atletico schon fast vor dem Tor. Bestes Beispiel: das Tor von Griezmann im Rückspiel gegen den FC Bayern. Hier sieht man sogar zweimal die Ablage auf den dritten Mann, einmal auf Koke und dann auf Torres.
Koke hat ein besseres Blickfeld als Gabi. Durch die Ablage, kann er auf den startenden Griezmann passen. 8 Sekunden später fällt das Tor.
Die Abwehrreihe der Madrilenen rückt im Gegensatz zu den Mittelfeldspielern kaum auf. Dies ist ein verwundbarer Punkt, da bei Ballverlusten zwischen Mittelfeld und Abwehr viel Raum klafft. Durch das extrem disziplinierte Umschalten in die Defensive kann man zwar oft Gefahr abwenden, dennoch wurde vor allem beim Spiel in der Allianz Arena diese Schwäche offengelegt.
Ballbesitzspiel aus der eigenen Hälfte
Ein weiterer Aspekt des Angriffsspiels ist natürlich das Verhalten bei Ballbesitz in der eigenen Hälfte ohne die Möglichkeit eines schnellen Umschaltens, zum Beispiel bei einem Abstoß. Auch hier vertraut das Simeone-Team auf simple, aber offensichtlich gut trainierte und zu den Spielern passende Mechanismen.
So sieht man relativ früh einen Pass auf einen der beiden Außenverteidiger, der dann versucht die Linie entlang mit scharfen, (halb)hohen Bällen das Mittelfeld zu überspielen. Meist startet zuvor einer der beiden Stürmer einen Lauf aus dem Zentrum auf den jeweiligen Flügel bzw. Halbraum und versucht dort dann den Ball zu sichern. Auch hier verlässt sich Atlético dann auf das probate Mittel der Ablagen auf nachrückende Mittelfeldspieler oder das Gewinnen zweiter Bälle bei verlorenen Luftduellen. Durch das schon angesprochene lokale Überladen in Ballnähe kann Atletico so relativ zügig Raum gewinnen und dann aber auch zu gefährlichen Aktionen kommen. Ist es gelungen, den Ballbesitz in der gegnerischen Hälfte zu sichern, rücken dann auch die Abwehrspieler nach, zum Teil gibt Filipe Luis Breite. Allerdings bleibt der Fokus auf das schnelle Überspielen der gegnerischen Linien durch Überladungen, meist auf rechts. Nach diesem Schema fiel ebenfalls das Tor im Hinspiel gegen Barcelona.
Szene vor dem Tor: Hier rückt Filipe Luis auf, dennoch fokussiert sich Atletico auf die rechte Seite und wird dann über einen Pass auf Koke gefährlich.
Hier könnte durchaus ein Schlüssel im Finale gegen Real Madrid liegen. Denn die Pressingaktionen der Sturmreihe der Königlichen sind oftmals nicht koordiniert oder nicht existent. Somit könnten die Pässe von Juanfran und Filipe Luis ohne Gegnerdruck und dadurch natürlich präziser gespielt werden. Bei fehlendem Rückwärtspressing auf die genannten Ablagen und zweiten Bälle hätte man dann im Mittelfeld Gleich- oder Überzahl und könnte mit den Schnellangriffen äußerst gefährlich werden.
Atletico bei Einwürfen
Zuletzt soll noch ein Detail beleuchtet werden, wo nochmals klar wird, dass die Angriffsmechanismen bei Atlético wohl detailliert geplant und eintrainiert werden. So sieht man bei fast jedem Einwurf in der gegnerischen Hälfte, dass der ballnahe Halbraum und Flügel wiederum extrem überladen werden. Oft findet man dann drei Spieler der Mittelfeld-Viererkette und beide Stürmer innerhalb der drei schnell erreichbaren horizontalen Zonen des Spielfelds (also ballnaher Flügel + Halbraum und Zentrum). Die ballfernen Zonen werden teilweise komplett ignoriert.
Durch die Zickzack-Staffelung wird zudem das Dreiecksspiel erleichtert. In solchen Aktionen versucht Atletico dann einen schnellen Durchbruch, Ballverluste können gut gegengepresst werden. Nach einem Einwurf und Ballverlust von Koke fiel so das 1:0 gegen Barcelona im Rückspiel, auch hier war die rechte Seite zuvor mit fünf Spieler (plus einwerfendem Spieler) besetzt.
Fazit
Ob man den Fußball von Atletico Madrid schön findet, bleibt Geschmackssache. Aber dennoch ist es ein großer Verdienst von Diego Simeone mit relativ simplen, aber eben gut eintrainierten und im Detail durchdachten Mechanismen, erfolgsstabil Gefahr zu erzeugen. Denn man sollte nicht vergessen, dass die Madrilenen in allen vier Duellen gegen Barca und den FC Bayern mindestens ein Tor geschossen haben. Bei den beschriebenen Angriffsstrategien werden die Fähigkeiten der Spielertypen optimal eingebunden und zusammen mit unglaublicher Effizienz kann sich Atletico Madrid auch gute Chancen im Champions-League-Finale ausrechnen.
Fabian Schaipp, abseits.at
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Fabian Schaipp
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