Nachdem Spanien sang-und klanglos in der Vorrunde der WM scheiterte, erweist sich ein Umbruch als unvermeidbar. Die Spielergeneration um Xavi und Casillas, die dreimal in großen Turnieren triumphierte, wird durch frisches Blut ersetzt werden. Wir beleuchten, wie die Zukunft des spanischen Nationalteams aussehen könnte.
Spielgestalter auf dem Flügel oder vertikale Außenstürmer?
Um sich auf die eigenen elaborierten Kombinationen zu fokussieren, besetzten in den vergangenen Jahren zwei weitere Mittelfeldspieler die Außenpositionen anstatt echter Flügelstürmer. Iniesta und David Silva hielten die Ballzirkulation am Laufen und zogen weit nach innen, um das Zentrum zu überladen, dafür mangelte es aber an Läufen in die Tiefe. 2010 setzte Del Bosque mit Villa oder Pedro zumindest einen Außenstürmer ein, der Wege hinter die Abwehrkette ging. 2012 agierten teilweise mit Fabregas als falscher Neun nur Mittelfeldspieler dort, so dass es, mit der rühmlichen Ausnahme des Finals, komplett an Durchschlagskraft fehlte. Spanien war darauf angewiesen, den Kontrahenten durch das Kurzpassspiel zu ermüden, bis er einbrach oder Einwechslungen von Pedro oder Jesus Navas die Offensivbemühungen beschleunigten.
Doch Niederlande unter van Gaal und Chile nutzten bei der WM die Unfähigkeit zu schnellem Spiel in die Tiefe, indem sie hoch pressten und das Zentrum versperrten. Sie torpedierten den spanischen Spielaufbau bereits in der gegnerischen Hälfte. Dafür mussten sie weit aufrücken, doch diesen Preis zahlten sie gerne, da sie wussten, dass Spanien, falls sie das Pressing überwanden, die resultierenden Räume nicht mit dynamischem Vertikalspiel ansteuern würde. Also ist es gegen manche Taktiken notwendig, dass man situativ schnell und direkt die Spitze ansteuern kann. Gleichzeitig wird Spanien angesichts der Auswahl an feinen Technikern nicht vom grundlegenden Ballbesitzstil abweichen. So erscheint ein Kompromiss sinnvoll, bei dem eine Position von einem direkten, torgefährlichen Turbodribbler besetzt wird, während ein einrückender Kreativer das Zentrum verstärkt.
Für die erste Rolle herrschte lange Zeit ein Engpass, Del Bosque verfügte nur über zwei Außenstürmer auf hohem Niveau: Pedro und Jesus Navas, wovon letzterer wegen einer Verletzung nicht fit für die WM war. Doch mit Gerard Deulofeu und Jese sind zwei Talente bereit, sich ins Rampenlicht zu spielen, die genau dem geforderten Profil entsprechen. Jese konnte, bevor er sich eine Verletzung zuzog, bereits sporadisch Gareth Bale auf die Bank verdrängen. Er wird bestimmt 2016 im Kader stehen. Deulofeu ist vom Potential her der bessere Dribbler, muss allerdings noch reifen. Er übersieht noch zu häufig den besser postierten Mitspieler und fabriziert zu viele Ballverluste.
Das Pendant auf der anderen Seite könnten diverse Spieler darstellen. Der kombinationsfreudige David Silva, Mata, der Spezialist für den tödlichen Pass, Isco, der in engen Räumen wegen seiner Dribbelstärke brilliert oder das Talent Iker Muniain. Alle sind auf ihre Art hervorragend, zudem könnten auch Herrera, Thiago, Koke oder Iniesta, die eher für das zentrale Mittelfeld in Frage kommen, diese Rolle bekleiden.
Echter Mittelstürmer oder falsche Neun?
Nachdem Diego Costa eingebürgert wurde, kann die „Seleccion“ auf einen hochkarätigen Mittelstürmer zurückgreifen. Während des Turniers war er noch nicht optimal ins Kollektivspiel integriert, doch es gab auch vielversprechende Ansätze. Er war in den ersten beiden Partien der Spanier mit den meisten Torchancen und schuf auch immer wieder durch ausweichende, diagonale Läufe Raum. Dieser wurde jedoch nicht gut bespielt. Es haperte noch etwas an der Abstimmung, so dass Diego Costa nicht vollends mit seinen Kollegen harmonieren konnte. Da David Villas große Zeit in der Nationalauswahl passé ist, gibt es keinen Besseren. Alvaro Morata drängt als Talent in den Kader, das sich vor allem durch Durchsetzungsfähigkeit im Offensivzweikampf, Schnelligkeit und zumindest vereinzelte Beteiligung am Passspiel charakterisiert. Dennoch dürfte er ein paar Jahre brauchen, bis er sich mit Costa messen kann.
Eine Alternative ist die falsche Neun. Sie ist ein wenig verpönt, weil sie gelegentlich dazu beitrug, dass Spaniens Stafetten in langweiliges Ballgeschiebe ausarteten. Das lag aber daran, dass Spanien dieses taktische Mittel mit unpassenden Spielertypen kombinierte. Wenn die falsche Neun ins Mittelfeld zurückfällt, müssen andere Akteure Läufe in die Tiefe anbieten und Torgefahr ausstrahlen. Da sich mit Jese und Deulofeu neben dem etablierten Pedro neue Flügelstürmer ankündigen, kann sie für Spanien erneut eine valide Variante werden. David Silva oder Juan Mata heißen die Spieler, deren Eigenschaften sie am ehesten dafür prädestinieren. Cesc Fabregas könnte diese Rolle ebenfalls übernehmen, wobei generell unklar ist, wo auf dem Spielfeld er seine Heimat finden wird. Er ist sehr gut am Ball, jedoch kein Dribbler oder Stratege, sondern eher ein vertikaler Spieler. Da so jemand im herkömmlichen System nicht vorgesehen ist, sah man bei Barca kein Einsatzgebiet für ihn. Bei Spanien könnte er einen torgefährlichen Zehner spielen, worunter jedoch die Verbindung zwischen Mittelfeld und Angriff leiden würde. Am besten könnte er dort wohl mit einem zurückfallenden Stürmer vor sich harmonieren. Denkbar ist außerdem, ihn als torgefährlichere falsche Neun einzusetzen oder als andersartiger Flügelspieler. Allerdings scheinen diese Ideen allesamt nicht perfekt zu passen.
Neue Flexibilität und die Emanzipation vom FC Barcelona
Was deutlich zu erkennen ist, ist die steigende Unabhängigkeit vom katalanischen FCB. In der Blütezeit beider Teams lag die ganze Zentralachse des Teams fest in blauroter Hand. Das Mittelfeld um Xavi als brillanten Kopf verpflichtete stets zu einer engen Verbindung zwischen Barca und der Nationalauswahl. Diese wird sich nun lockern, da der große Dirigent abtritt und sich mit Koke, Thiago und Fabregas, der nie wirklich barca-typisch agierte, neue Leute bewerben, den Taktstock zu übernehmen. Der Abgang wird aber auch durch Etablierte aufgefangen werden, die in verantwortungsvollere Rollen schlüpfen. Sergio Busquets wird dafür ein Schlüsselspieler sein. Da nicht nur in La Masia, sondern überall im Land neue Rohdiamanten schlummern, wird Spanien keine allzu lange Übergangszeit benötigen. Sie verfügen weiterhin über das beste Spielerpotential weltweit für eine Elf, die einer dominanten, ballbesitzorientierten Spielidee frönt.
Doch dazu ist es nötig, zu den Wurzeln des „Tiqui-Taca“ zurückzukehren, die immer auch taktische Flexibilität beinhalteten. Spanien hat verlernt, situativ schnell in die Spitze zu spielen und die Flügel konstruktiv zu nutzen. Beide Fähigkeiten sind aber wichtig, da Chile und die Niederlande mit ihrer zentrumsfokussierten, aggressiven Spielweise ein Rezept entwickelt hatten, gegen das sich Spanien hilflos zeigte. Schon 2012 offenbarte Spanien hier Probleme, doch im entscheidenden Moment, dem EM-Finale, gelang es ihnen damals noch, Ballbesitz mit situativem direkten Vertikalspiel zu kombinieren. Auch die Flügel müssen wiederbelebt werden. Die beiden „Weltmeister-Bezwinger“ 2014 errichteten massive Zentrumspräsenz, um, nach erzwungenem Pass auf den Flügel, die Außenspieler Spaniens vom Zentrum zu isolieren. Insbesondere Chile verbuchte so viele Balleroberungen. Die Iberer hatten weder die Mittel, um direkt und linear den Flügel zu bespielen, noch um sich diagonal ins Zentrum zurückzukombinieren.
Fernab aller Fußballtaktik kann man sich aber nur schwer des Eindrucks erwehren, dass diese Mannschaft „satt“ war. Nach zahllosen Triumphen wäre es jedenfalls nur natürlich, wenn irgendwann die unbedingte Gier auf den Erfolg verschwinden würde. Deswegen wird eine neue Generation um neue Stars zum Gesicht der Nationalelf avancieren, die die bedingungslose Entschlossenheit hat, den Titel zu jagen. Mit dieser neuen Motivation, die wiederum in taktische Verbesserungen wie ein deutlich verbessertes defensives Umschalten umschlagen sollte, werden sie auch in den nächsten Jahren zu den Topfavoriten jedes Wettkampfes zählen. Trotzdem ist die Zeit, wo Spanien unangefochten über allen anderen Teams thront, wohl erstmals vorbei.
Leonard Dung, abseits.at
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Leonard Dung
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