Man muss heutzutage schon lange suchen, um den ehemaligen deutschen Erstligisten KFC Uerdingen 05 auf der Fußballlandkarte zu finden. Die Oberliga Niederrhein ist die... Spiele, die man nicht vergisst: Das Wunder von der Grotenburg

Man muss heutzutage schon lange suchen, um den ehemaligen deutschen Erstligisten KFC Uerdingen 05 auf der Fußballlandkarte zu finden. Die Oberliga Niederrhein ist die höchste Spielklasse im Fußball-Verband Niederrhein und die fünfthöchste Klasse im deutschen Ligasystem. Dass hier eine Mannschaft ihr Fußballdasein fristet, die vor mehr als 30 Jahren noch im Europacup spielte, ist der heutigen Spielergeneration sicher nicht mehr geläufig.

Doch drehen wir das Rad zurück. Im DFB-Pokalfinale 1985 schrieben die von Trainerlegende Kalli Feldkamp betreuten Krefelder den ersten Teil ihrer Fußballgeschichte. Im Berliner Olympiastadion traten sie gegen den haushohen Favoriten Bayern München an. Erwartungsgemäß ging das Starensemble von der Isar durch ein Tor von Dieter Hoeneß nach acht Minuten in Führung. Rund 70.400 Zuschauer glaubten, dass der frischgebackene Meister zum Double spazieren würde. Doch sie machten nicht die Rechnung ohne den Kampfgeist der Werks-Elf.

Der Stadionsprecher hatte gerade den Namen des Torschützen zum 1:0 verkündet, ehe Horst Feilzer der Ausgleich gelang. Die anfängliche Euphorie des mitgereisten Bayern-Anhangs verstummte spätestens in Minute 68, als Wolfgang Schäfer den vielumjubelten 2:1-Siegtreffer zugunsten des Underdogs erzielte.

Der FC Bayern, der im Falle eines Pokalsieges sowieso in dem damaligen Europapokal der Landesmeister auf Torjagd gegangen wäre, war also geschlagen. Und in Krefeld wurde die Nacht zum Tag. Ein Fußballmärchen wurde geschrieben. Aber es aber nicht das letzte, wie wir wissen. Erstmals für den Europacup qualifiziert, schossen die Uerdinger in der ersten Runde den maltesischen Vertreter des FC Żurrieq mit einem Gesamtergebnis von 12:0 ab. Dem etwas mühevollen 3:0-Auswärtserfolg folgte ein standesgemäßer 9:0-Heimsieg. Die Gäste von der Mittelmeerinsel waren in allen Belangen unterlegen, sodass man fast Mitleid mit ihnen haben musste. Doch der Fußballsport, explizit auf hohem europäischem Niveau, ist kein Wunschkonzert.

In der zweiten Runde bekam das Kollektiv von Kalli Feldkamp die renommierte türkische Fußballadresse Galatasaray Istanbul zugelost. Doch auch der Gegner vom Bosporus entpuppte sich als überwindbare Hürde. Einem guten 2:0 vor heimischer Kulisse folgte ein etwas durchwachsenes 1:1 in Istanbul, doch der Treffer in der Türkei stieß das Tor in die nächste Runde weit auf.

Das dritte Spiel, gleichzusetzen mit dem Viertelfinale, wurde erst im Frühling 1986 ausgetragen. Im ZDF wollte man das Bayern-Spiel im Landesmeisterpokal gegen den RSC Anderlecht übertragen, doch nach der 0:2-Niederlage im Hinspiel gegen den sächsischen Traditionsverein Dynamo Dresden stimmte Kommentatorenlegende Rolf Töpperwien wohl seine Vorgesetzten um und die Fernsehanstalt aus Mainz übertrug das Rückspiel der Krefelder. Dabei wurde ein Stück deutsch-deutscher Fußballgeschichte geschrieben, das es wohl vorher nie gab und danach auch nie mehr geben sollte.

In Krefeld wollte man den Schaden vom Hinspiel einigermaßen begrenzen, als die Gäste – der Anpfiff des ungarischen Schiedsrichters Lajos Németh war gerade verstummt – nach wenigen Sekunden das spielübergreifende dritte Tor für die Sachsen erzielten. Eine Verlängerung war also schon mal nicht mehr im Rahmen des Möglichen. Eine Entscheidung musste so oder so nach 90 Minuten fallen. Nach dem zwischenzeitlichen 1:1-Ausgleich durch Wolfgang Funkel drehten die Sachsen auf. Frank Lippmann und Rudi Bommers Eigentor brachten die Dynamo-Elf mit 3:1 in Front. Nach 135 von 180 Minuten, zählen wir Hin- und Rückspiel zusammen, stand es 5:1 für Dresden. Beim ZDF rumorte es und wollte in diesem Moment lieber die sehr umstrittene Entscheidung zurücknehmen und die Bayern gegen Anderlecht zeigen. Doch erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.

Wenige Minuten vor dem Pausenpfiff verletzte sich Dynamo-Torhüter Bernd Jakubowski, der bis dahin eine mehr als solide Partie zeigte. Bei einem als Foul von Wolfgang Funkel gewerteten Zusammenstoß brach er sich die Schulter. Für den sächsischen Schlussmann kam der unerfahrene Jens Ramme ins Spiel. Zu allem Überfluss bedeutete die Verletzung das Karriere-Ende Jakubowskis.

Als es nach 57 Minuten immer noch 3:1 für die kontrolliert agierenden Sachsen stand, dachte wohl niemand mehr an ein Aufbäumen der Krefelder. Das eine oder andere Tor wäre sicher im Bereich des Möglichen, so die einhellige Meinung damaliger Fußballexperten, jedoch schien ein Einzug ins Semifinale utopisch. Nach einem Foul von Minge erzielte Wolfgang Funkel in Minute 58 mittels Foulelfmeter das 2:3. Lárus Guðmundsson, der isländische Legionär im Dress der Werks-Elf, traf fünf Minuten später zum 3:3-Ausgleich. Mit diesem Resultat konnte Dresden, seinerseits betreut von Matthias Sammers Vater Klaus Sammer, noch leben, denn man konnte sich ja auf die beiden im Hinspiel erzielten Treffer verlassen.

Was aber dann geschah, glaubte keiner mehr. Zuschauer, die zur Halbzeit gingen, strömten wieder ins Stadion zurück. Nicht nur die Gäste rieben sich verwundert die Augen. Wolfgang Schäfer brachte in der 65. Minute erstmals die Feldkamp-Elf in Führung. Und Dietmar Klingers 5:3 zwölf Minuten vor dem Schlusspfiff sorgte dafür, dass beide Teams, auf zwei Partien aufgeteilt, fünf Tore erzielten. Noch waren die Dresdner dank der bekannten Auswärtstorregel in der Vorschlussrunde.

Wolfgang Funkel fasste sich eine Minute später bei einem Handelfmeter ein Herz und traf zum 6:3. Die sichtlich geschockten Gäste kamen durch Jörg Stübner und Ralf Minge durchaus zu sehenswerten Torchancen, doch Wolfgang Schäfers 7:3 versetzte sie in Schockstarre. 86 Minuten waren gespielt, das Wunder von der Grotenburg vollendet. Dass die Uerdinger im Europacup-Halbfinale danach ausgelaugt waren und gegen Atlético Madrid den Kürzeren zogen, interessierte keinen mehr. Dresden-Trainer Klaus Sammer musste am Ende der Saison zurücktreten.

Mehr als 200 Journalisten, Spieler und Betreuer wählten dieses deutsch-deutsche Duell rund 20 Jahre später zum größten Fußballspiel aller Zeiten. Die Krefelder belegten in der Abschlusstabelle in der gleichen Saison den dritten Platz. Nur der FC Bayern München und das hanseatische Kollektiv des SV Werder Bremen waren besser. Der DFB-Pokal konnte aufgrund einer 2:9-Viertelfinalklatsche gegen Borussia Mönchengladbach nicht verteidigt werden. Trotz einiger Achtungserfolge verschwand eines Tages die Werks-Elf aus der ersten Liga. Derzeit fristet Uerdingen sein Dasein im Fußball-Niemandsland. Und trotzdem muss man danken, dass die derzeitige graue Maus viel Freude und Farbe ins damals von Bayern München, dem Hamburger SV und Werder Bremen dominierte deutsche Europacupgeschehen gebracht hat.

Zudem ist noch zu sagen, dass der WDR eine interessante Dokumentation über das Spiel drehte. Diese wurde vor zehn Jahren im Krefelder Cinemaxx uraufgeführt und im Fernsehen gezeigt. Dabei blieb den 100 geladenen Gästen kein Auge trocken. Man kann sich sicher sein, dass die Emotionen auch über zwei Jahrzehnte später hochgingen.

Andreas Raffeiner, abseits.at

Andreas Raffeiner

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