Welches ist das erste Spiel, an das man denkt, wenn man über hitzige Fußballpartien spricht? Vielen kommt dabei die Partie bei der Weltmeisterschaft 2006... 36 Platzverweise: Das Rekordspiel zwischen Claypole und Victoriano Arenas

Welches ist das erste Spiel, an das man denkt, wenn man über hitzige Fußballpartien spricht? Vielen kommt dabei die Partie bei der Weltmeisterschaft 2006 zwischen Portugal und den Niederlanden in den Sinn, bei welcher es 16 gelbe Karten regnete. Ebenso mag man an das Viertelfinale zwischen Argentinien und den Niederlanden bei der WM 2022 denken, als der Schiedsrichter Mateu Lahoz den WM-Rekord mit Verwarnungen für 18 verschiedene Spieler aufstellte. So wurden noch zahlreiche sehr aufgeheizte Partien ausgetragen, doch es wurden wohl bei keinem Spiel so viele Platzverweise ausgesprochen wie bei einem Spiel im argentinischen Unterhaus im Jahre 2011. Das ist die Geschichte der Partie zwischen Claypole und Victoriano Arenas.

Die Liga

Die Liga, in deren Rahmen die Partie ausgetragen wurde, war die sogenannte Primera D. Sie stellte zum damaligen Zeitpunkt die fünfte Liga in Argentinien dar und war die niedrigste der drei Ligen, in denen „direkte Mitglieder“ des argentinischen Fußballverbandes (AFA) spielten. Der Unterschied zwischen „direkten“ und „indirekten“ Mitgliedern der AFA ist geographischer Natur, sodass ab 1986 eine Zweiteilung von der dritten bis zur fünften Spielklasse eingeführt wurde, die bis heute besteht. Die Primera D existierte als fünfte Spielklasse, bis sie 2024 vom „Torneo Promocional Amateur“ ersetzt wurde. Dieses wird in seiner ersten Ausgabe als U25-Turnier mit 14 Mannschaften im Jeder-gegen-Jeden-Modus ausgetragen, wobei die in Südamerika übliche Aufteilung in Apertura („Hinrunde“) und Clausura (Rückrunde“) erfolgt.

Das Ligensystem in Argentinien seit 2024.

Club Atlético Claypole

Claypole ist ein kleines Städtchen im Süden von Gran Buenos Aires, wie der Ballungsraum von Buenos Aires genannt wird, genauer gesagt, im Verwaltungsgebiet Almirante Brown. Neben dem gleichnamigen Club Atlético beherbergt der Ort noch den 1952 gegründeten Amateurverein Taponazo Fútbol Club. Der Club Atlético Claypole ist knapp 30 Jahre älter und wurde am 1. Oktober 1923 gegründet. Er ist ein klassischer Unterhausklub. In seiner Geschichte kam der Verein nie über die vierte Liga hinaus, in der er auch heutzutage seit dem letzten Aufstieg im Jahre 2020 noch spielt. Sein Sportplatz, das Estadio Vicente Capocasa, in dem das berüchtigte Spiel mit den 36 Platzverweisen stattfand, verfügt über eine Kapazität von 4.000 Plätzen.

Victoriano Arenas

Die Heimat von Victoriano Arenas ist die Gemeinde Valentín Alsina im touristisch wenig interessanten Verwaltungsgebiet Lanús, welches sich als industrieller Vorort im Süden von Buenos Aires charakterisiert. Sie ist vor allem bekannt als Geburtsort von Oscar Garré, der 1986 mit Argentinien Weltmeister wurde, und als Kindheitsort von Rockstar Roberto Sánchez-Ocampo. Dieser ist besser bekannt als Sandro oder Sandro de América und gilt als einer der Gründerväter der argentinischen Rockmusik. Der Club Atlético Victoriano Arenas (CAVA), gegründet am 2. Januar 1928, ehrte Sandro nach seinem Tod im Jahr 2010 und druckte sein Gesicht auf die Vorderseite der Trikots. El Guapo de Alsina (der Schöne aus Alsina), so der Spitzname des Vereins, kam nie über die dritte Spielklasse hinaus und spielt seit 2018 wieder in der vierten Liga. Für Aufmerksamkeit sorgt ihr Estadio Saturnino Moure, denn es liegt auf einer Halbinsel, die vom Fluss Riachuelo umgeben ist, und nur über eine Zufahrtsstraße erreichbar ist.

Das Estadio Saturnino Moure. Quelle: Google Maps

Vor dem Spiel

In die Saison 2011 startete Claypole zuerst wenig überzeugend. Aus den ersten vier Partien sprangen lediglich zwei Punkte hinaus, doch dem Negativtrend setzte man mit acht Siegen in den nächsten neun Runden ein Ende. Nach vier weiteren Niederlagen fand der Tambero, so der Spitzname des Klubs, wieder auf die Siegerstraße zurück und startete in Runde 19 einen Positivlauf, in den auch das Aufeinandertreffen mit Victoriano Arenas hineinfiel.

El Guapo de Alsina eröffnete die Primera D-Saison 2011 zwar mit einem Remis und einem Sieg, ging allerdings in den fünf folgenden Partien, darunter dem Hinspiel gegen Claypole, als Verlierer von Platz. Anschließend schien man sich mit vier Siegen aus den nächsten fünf Spielen wieder zu verbessern, aber holte dennoch nur zwei Punkte vom 13. bis zum 18. Spieltag. Nach zwei Siegen und zwei Niederlagen kam es zum Gastspiel bei Claypole, welches sich als historische Begegnung entpuppte.

Das Spiel

Die existierenden Videoaufnahmen sind spärlich, was angesichts der Tatsache, dass es sich um ein Viertligaspiel handelt, nicht verwunderlich ist, doch mittels diverser Aussagen lassen sich die Ereignisse des 26. Februars 2011 rekonstruieren. Bereits vor Anpfiff war klar, dass es ein schwieriger Tag werden würde. So erklärte der Vereinspräsident von Victoriano Domingo Sganga: „Die Beziehungen mit dem Vorstand von Claypole waren bereits schlecht, da wir ihnen unseren Platz nicht verleihen wollen.“ Und Sergio Colucci, neben Carlos Torino damaliger Cheftrainer des Guapo de Alsina, stellte fest: „Bereits vor dem Spiel war alles schon aufgeheizt. Einige Fans sprangen auf dem Dach der Kabine umher. […] Das versetzt die Spieler ein bisschen unter Spannung.“

In der ersten Halbzeit passierte fußballerisch wenig und das Spiel wurde vor allem von physischen Duellen gekennzeichnet, wodurch sich die Stimmung zwischen den Mannschaften nach und nach aufheizte. Auch die Zuseher taten mit Zwischenrufen ihr Übriges. So zeigen die Bilder nach dem Anstoß bereits den ersten Platzverweis. Schiedsrichter Damián Rubino verwarnte nach einem kurzen Handgemenge je einen Spieler beider Teams. „Der hat schon gelb.“ riefen ein paar Zuschauer. Damit gemeint ist Claudio Leiva, denn für ihn war es bereits die zweite Verwarnung und er wurde gegen Ende der ersten Halbzeit zum Duschen geschickt. Colucci erläuterte: „Er lief an einem Verteidiger vorbei, der ihm einen Schlag aufs Ohr gab, woraufhin er schlecht reagierte. Er erwiderte die Tätlichkeit und der Schiedsrichter verwies ihn des Feldes.“

In Halbzeit zwei bestätigte Claypole seine Favoritenrolle und ging durch Ariel Honoroz in Führung, der eine Flanke von links perfekt mit dem Kopf verwertete. Die Emotionen bei den Spielern von Victoriano kochten zu diesem Zeitpunkt bereits hoch, denn bis zu dem Spiel war man die Mannschaft mit den zweitmeisten Niederlagen in der Liga, spielte schon zu zehnt und lag auch noch 0:1 hinten. So kam es, dass nun dem nächsten Kicker die Sicherungen durchbrannten. Stürmer Rodrigo Sánchez, der sich verbalen Angriffen der gegnerischen Fans ausgesetzt sah, sollte ausgewechselt werden, doch dies machte ihn nur noch zorniger und er war kaum zu bändigen. Wild umher gestikulierend wetterte er gegen seinen eigenen Trainer und musste dabei sogar noch zurückgehalten werden. Nach einer kurzen Diskussion sah Schiedsrichter Rubino keine Alternative als ihm sein verfrühtes Spielende aufzuzwingen. Beim Gang in die Kabine hatte Sánchez noch nicht fertig. Er rief Beleidigungen durch die Gegend, packte die Gittertür, die den Weg in die Katakomben versperrte, und knallte sie mit aller Kraft gegen die Wand. Das Spiel konnte mit noch etwa einer Viertelstunde verbleibender Spielzeit fortgesetzt werden.

Kurz vor Schluss kam der Guapo de Alsina trotz der zweifachen Unterzahl sogar noch vors Tor. Eine Freistoßflanke aus halbrechter Position wurde in den Strafraum geschlagen, doch die einzig nennenswerte Chance des CAVA wurde vergeben und der Kopfball landete über dem Tor. Im Gegenzug machte Claypole mit dem 2:0 in der Schlussmintue den Sack zu, als Jonathan Ledesma im Eins-gegen-eins den Ball am gegnerischen Torwart Gastón Rudniezki vorbei schob.

Nun begann die Rauferei. Claypoles Torschütze Honoroz, der übrigens nach dem Spiel noch die rote Karte sah, erklärte: „Wir begannen, den Sieg zu feiern [und] die Gegner zu verabschieden, als einer herkam, um [uns] zu treten.“ Die vorhandenen Bilder zeigen, wie sich zwei Spieler direkt nach dem Abpfiff die Stirn boten. Sie wurden zwar voneinander getrennt, doch beide Teams gerieten heftig aneinander und schubsten und schlugen sich. Rubino zückte prompt nochmal rot.

Die Auseinandersetzungen eskalierten und Trainer, Betreuer sowie Auswechselspieler beider Mannschaften rannten auf das Feld. Sofort flog eine Faust nach der anderen. Auch Sánchez, mittlerweile in Kappe, rotem T-Shirt und dunkler Shorts unterwegs, kehrte zurück auf das Grün. Es ist klar auszumachen, wie er in Richtung eines Claypole-Spielers läuft und diesem mit voller Wucht einen Schlag ins Gesicht verpasst. Trotz der Schmerzen sinnte er nach Rache und stand Sánchez mit erhobenen Fäusten gegenüber. Für ein paar Momente hätte man denken können, dass sich Carlos Monzón und Pascual Pérez auf dem Platz befinden, doch die beiden argentinischen Boxlegenden hätten bei diesem Anblick wohl nur gelacht.

Beide entfernten sich wieder voneinander, doch einige Claypole-Spieler hatten es nun auf Sánchez abgesehen und verfolgten ihn. Somit wurde aus dem Boxer ein Sprinter. Prompt wählte er denselben Weg wie schon nach seiner roten Karte und rannte in die Umkleidekabine gefolgt von einigen Spielern des CAVA. Die Polizei eskortierte den Übeltäter später, dem wohl dadurch die ein oder andere Körperlichkeit verschont blieb.

Ein Handgemenge definiert die letzten vorhandenen Videoaufnahmen. Die Lage schien sich leicht beruhigt zu haben, doch weiterhin gaben die Spieler ein lautes Gewirr von querdurcheinander rufenden Stimmen von sich, während sie sich weiterhin schubsten im erfolglosen Versuch, der Unruhe ein Ende zu setzen.

Schließlich legten sich die Tumulte und beide Teams machten sich auf den Weg in die Kabinen, um die letzten zwei Stunden zu verarbeiten und etwas Ruhe einkehren zu lassen. Schiedsrichter Damián Rubino besprach sich mit seinen Kollegen und kam zu dem Schluss, dass er alle in die Liste der vom Feld verwiesenen einträgt. Somit wurden neben allen Spielern auch Trainer und Betreuer, beispielsweise der Zeugwart von Claypole, gesperrt und der Weltrekord der 36 Platzverweise wurde geboren.

Nach dem Spiel

Von beiden Mannschaften hörte man im Nachgang Kritik an der Handhabe, die Damián Rubino an jenem Samstag im Süden von Buenos Aires an den Tag legte. Zwar waren die Platzverweise während des Spiels angemessen, doch gleich beide Teams in ihrer Gänze mit einer Sperre zu belegen, wurde als übertrieben angesehen, da nicht alle beteiligt gewesen sein sollen. CAVA-Präsident Sganga urteilte: „Der Schiedsrichter hat sich fein herausgehalten. […] Wenn er nicht entscheiden kann, wer wen geschlagen hat, kann er nicht einfach alle bestrafen.“ Auch Claypole-Coach Sergio Micieli war der Ansicht, dass „es Spieler gab, die sich mit niemandem geschlagen haben.“

Bereits drei Tage später wurden beide Teams zu einer Stellungnahe vorgeladen, um dem Verband ihre Sicht der Ereignisse zu schildern, wobei sie sich in diesem Rahmen sogar direkt begegneten. Im Gegensatz zum letzten Aufeinandertreffen schlugen sie sich nicht die Köpfe ein und verhielten sich ruhig. Schließlich wollten alle wieder spielen und nicht Gefahr laufen, eine schwächere Reservemannschaft aufbieten zu müssen und sportlich den Anschluss an die Konkurrenz zu verlieren. Nach dem Studium der Bilder kam der argentinische Fußballverband AFA zum Ergebnis, lediglich sieben Spieler zu bestrafen. Die längste Sperre erhielt wenig überraschend Rodrigo Sánchez, der als Auslöser des Konflikts ausgemacht wurde und ganze sieben Spieltage nicht in einem Ligaspiel eingesetzt werden durfte. Die restlichen sechs Akteure erhielten Sperren zwischen einer und drei Partien.

Die Szenen des Spiels auf Video:

Saisonende

Den Positivlauf, in welchen auch das Duell gegen den Guapo de Alsina fiel, führte der Tambero bis in die 28. Runde fort. Dass ihre Saison allerdings ein ständiges Auf und Ab war, zeichnete sich jedoch auch durch ihren Schlussspurt aus. Aus den letzten verbleibenden 18 Punkten holte man lediglich zwei, einmal zuhause gegen Dock Sud und im letzten Auswärtsspiel der Saison gegen Barracas Bolívar. Nichtsdestotrotz führte die Platzierung an achter Stelle zur Teilnahme am Torneo Reducido, einem Vorturnier, dessen Gewinner den zweiten Relegationsplatz ausspielte. Claypole bekam dabei jedoch keine leichten Gegner zugelost. Zuerst schaltete man noch den Drittplatzierten San Martín de Burzaco aus, bevor man jedoch gegen Platz zwei der Saisontabelle Atlas keine Chance mehr hatte. Diese gewannen das Torneo Reducido, scheiterten aber an Sacachispas in der Relegation.

Victoriano Arenas beendete die Spielzeit ebenfalls unbefriedigend. Von den elf verbleibenden Duellen verlor man sechs, beendete drei mit Unentschieden und konnte zwei für sich entscheiden. Zum einen besiegte man zuhause den heutigen Erstligisten Deportivo Riestra mit 4:1 besiegte, zum anderen reichte auswärts bei Argentino de Rosario ein einziges Tor, um die Saison mit einem Erfolg abzuschließen. Victoriano beendete die Saison als Drittletzter auf Platz 16 und einem Torverhältnis von -23, wobei es ebenfalls zwei Mannschaften gab, die schlechter davonkamen.

Der Schiedsrichter

Damián Rubino war zu diesem Zeitpunkt kein unerfahrener Schiedsrichter und gab im Nachhinein sogar an, dass dieses nicht sein schwierigstes Spiel gewesen war. So sah er keine Anzeichen von drohenden Auseinandersetzungen, denn die Vereine saßen zu diesem Zeitpunkt der Saison im Tabellenmittelfeld und waren weder Titelaspiranten noch abstiegsgefährdet. Aus seiner Sicht verlief die Partie unkompliziert und er hatte das Gefühl, die Zügel trotz der Platzverweise in der Hand zu haben. Rubino war sich aber auch der gesamten Situation bewusst: „[…] Sie (die argentinischen Spieler) sind sehr lebhaft und kampflustig. Besonders weil es eine Amateurliga ist. Die Spieler haben ein normales Leben und einen normalen Job. Manchmal nehmen sie persönliche Probleme mit auf das Feld […] und drücken sie dort auch auf verschiedenen Wegen aus.“

Einige Zeit später erfuhr er den Grund von Rodrigo Sánchez‘ Aggressionen. Dieser lebte nämlich in Claypole und kannte auch all deren Spieler. Mit jenem Spieler, den er so rücksichtslos attackierte, hatte er nämlich ein persönliches Problem, weshalb er ihn direkt nach dem Schlusspfiff heimsuchte.

Trotz der Aufmerksamkeit, die das Spiel und sein Handeln auf sich zogen, ist Damián Rubino nicht stolz auf diesen besonderen Rekord. In der Nachbetrachtung war er zwar mit seiner Entscheidung zufrieden und sah es als das richtige an, so drastisch gegen die Ausschreitungen vorzugehen, würde dies aber nicht nochmal wiederholen und besser analysieren, welche Spieler beteiligt gewesen sind und welche nicht.

Tim Bosnjak

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