André Villas-Boas bei Zenit: Wie der Portugiese derzeit einen Geheimfavoriten formt
Weitere Länder 4.November.2014 Rene Maric 0
André Villas-Boas gilt für viele als einer der talentiertesten Fußballtrainer der Welt. Obwohl er in seiner Zeit beim Chelsea FC scheiterte und letztlich auch bei den Tottenham Hotspurs Probleme hatte, waren es für viele eher strukturelle Probleme im Vereinsumfeld sowie mangelnde Erfahrung im Umgang mit Spitzenspielern in einem anderen Land, welche für seine Demission sorgten. Fachlich gibt es zwar einzelne Kritik an seinem Pressing und der bisweilen hohen beziehungsweise schwach organisierten Abwehrlinie, alles in allem sehen ihn aber nach wie vor viele als kommenden Trainer eines europäischen Spitzenvereins. Zurzeit beweist er bei Zenit, dass diese Ansicht keineswegs abwegig ist; obwohl einige Aspekte nach wie vor kritisch zu betrachten sind.
Erfolgslauf in der heimischen Liga
Natürlich gehört die russische Liga nicht zu den Topligen Europas, insbesondere seitdem Rückzug der großen Investoren bei Rubin Kazan und auch kleinerer Investoren bei Mannschaften wie Terek Grozny ist die Konkurrenz nicht so hoch ausgeprägt. Allerdings gibt es mit den Moskauer Mannschaften ZSKA, Dynamo und Lokomotiv sowie den zwei Teams aus Krasnodar, FC Krasnodar und Kuban, durchaus passable Gegner. Unabhängig davon ist Zenits Bilanz in dieser Saison absolut beeindruckend: In 12 Spielen verloren sie nicht ein einziges Mal und gewannen zehn Partien. Mit nur sechs Gegentoren und 34 Treffern ist auch die Tordifferenz überzeugend; sieben Punkte Vorsprung sprechen ebenso eine klare Sprache. Im europäischen Klubfußball läuft es allerdings noch nicht ganz nach Plan.
Kleine Probleme in der Champions League
Aktuell liegt Zenit nur auf Platz drei in seiner Gruppe und holte erst vier Punkte. Allerdings sei dazu gesagt, dass sie sich in einer schwierigen Gruppe befinden. Bayer 04 Leverkusen unter Roger Schmidt gehört in Topform zu den besten zehn bis fünfzehn Mannschaften Europas, Benfica Lissabon bewies unter Jorge Jesus in den letzten Jahren seine Qualität in der Europa League und der AS Monaco hatte zahlreiche große Transfers in den letzten Transferfenstern, die sie zu einer der drei besten Mannschaften Frankreichs machten.
Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass sie schon zwei ihrer drei Auswärtsspiele hatten; den Zweitplatzierten Monaco empfangen sie ebenso wie Tabellenführer Leverkusen noch zuhause. Die „Werkself“ bereits heute. Die Chancen für ein Weiterkommen stehen gut; und auch die bisherigen Partien waren in Ordnung. Sie zeigten Villas-Boas‘ Spielphilosophie eindeutig.
Ballbesitzfußball mit Flügelfokus
In den bisherigen Spielen hatten sie immer klar über 50% Ballbesitz und sowohl in der russischen Liga als auch in der Champions League sind sie die Mannschaft mit dem höchsten Ballbesitz. Ihr 4-3-3 in eigenem Ballbesitz wird oftmals zu einem 3-4-3, indem sich einer der Sechser zurückfallen lässt und unterstützt. Der abgekippte Sechser baut dann das Spiel auf und verteilt die Bälle; oftmals macht dies Javi Garcia, Stammspieler auf der Sechs. Vielfach bleiben die Russen jedoch im 4-1-2-3, schieben die ballnahen Außenverteidiger weit nach vorne und versuchen die Flügel zu fokussieren. Insbesondere über Danny und Hulk wollen sie mit individuellen Aktionen, Überladungen auf dem Flügel und schnellen Kurzpasskombinationen durchbrechen, was aber vereinzelt zu mangelnder Effizienz im Angriffsspiel führt. Die Mitte wird unpassend besetzt und die vielen Flanken finden selten keinen Abnehmer.
Keine Dogmatik im Aufbauspiel
Manchmal wurde das Ballbesitzspiel aber auch ad acta gelegt. Gegen Benfica mit der Führung im Rücken und gegen die im Pressing extrem starken Leverkusener spielten sie zum Beispiel mit vielen langen Bällen und einem Fokus auf die zweiten Bälle. Dabei nutzten sie die zwei Innenverteidiger, um sich bei Abstößen des Torwarts anzubieten. Sie standen breit auseinander und schlugen daraufhin lange Bälle entlang der Außenlinie nach vorne. Wurden die Innenverteidiger zugestellt, kamen die langen Bälle auch vom Torwart direkt nach vorne und sie agierten aggressiv gegen den Ball. Dies ist grundsätzlich eine Möglichkeit das Pressing des Gegners und die erste Aufbauphase zu überbrücken, um in höheren Zonen den Ball zu erobern und direkt in die Spitze zu spielen. Diese Spielweise funktionierte gegen einige Mannschaften ganz gut, schlug aber gegen Leverkusen zum Beispiel komplett fehl; und erinnerte an Villas-Boas‘ Probleme in England.
Hohe Pressingintensität, aber leichte Kompaktheitsprobleme
Der Laufbereitschaft und Aggressivität Zenits kann man nichts vorwerfen. Sie machen im Sprint lange Wege, das gesamte Kollektiv bewegt sich und sehr häufig geht man ins Pressing über. Das passiert auch häufiger als bei vielen anderen Teams, welche anstatt zu pressen passiv bleiben, den Gegner in Ruhe aufbauen lassen und eher gemächlich ballorientiert verschieben. Allerdings hat Zenit noch einzelne Probleme in puncto Kompaktheit; die vertikale Kompaktheit hat sich schon verbessert, was insbesondere in Villas-Boas‘ erster Zeit bei Chelsea noch problematisch war. Die horizontale Kompaktheit und das Einrücken der ballfernen Spieler hingegen sind noch immer nicht ideal, wodurch sich der Gegner unter Druck noch befreien kann. Besonders nach Verlagerungen lassen sie zu viele Chancen zu, weil die Räume hinter den Flügelstürmern nicht ordentlich verteidigt werden.
An sich sind aber schon viele positive Ansätze zu sehen, welche bei weiterer Arbeit daran voraussichtlich zu hoher Stabilität bei Zenit führen werden. Besonders die Variabilität gegen den Ball überzeugt.
Formative Flexibilität gegen den Ball
Obwohl sie noch nicht perfekt in ihren Positionswechseln und herausrückenden Bewegungen sind, sind die grundsätzlichen Ideen eindrucksvoll. Im höheren Pressing ist ein 4-3-3 ebenso möglich wie ein 4-1-3-2, ein 4-4-1-1 oder ein 4-2-3-1. Hulk zum Beispiel agiert in bestimmten Spielen nicht als Flügelstürmer, sondern steht höher und unterstützt den Mittelstürmer im Pressing. Des Weiteren kann Hulk zocken und nach Ballgewinnen wird sofort über ihn umgeschaltet; dann erhält der rechte Achter die Aufgabe den Flügel hinter Hulk abzusichern, was vergleichsweise gut funktioniert.
Auch im 4-1-4-1, welches vorrangig im tieferen und im Mittelfeldpressing praktiziert wird, lässt man Hulk situativ zocken. Sehen wir uns eine Szene aus dem Spiel gegen Benfica an. Hier hat Zenit ein 4-1-4-1/4-3-3 und Javi Garcia begeht ein Foul. Man erkennt den rechten Außenverteidiger, der mannorientiert herausrückt und Benficas Linksaußen attackiert.
In der nächsten Situation spielt Benfica den Ball zurück und Zenit geht sofort wieder drauf. Man erkennt im nächsten Bild, dass Hulk, der nach der Balleroberung im Konter das Tor erzielen wird, ebenso wie sein Gegenüber tief steht. Der linke Innenverteidiger Benficas verliert den Ball; im Mittelfeld Zenits ist aber einer der beiden Achter herausgerückt und stellt somit ein 4-4-1-1 her. Zenit kontert, Hulk rückt auf rechts dynamisch auf, erhält den Ball und trifft.
Grundsätzlich spielt Zenit eine Raumdeckung, hat aber eben ein solch mannorientiertes Herausrücken, wodurch sie zahlreiche Balleroberungen haben. Das ist nichts Innovatives, die pure Intensität und ihre Variabilität mit und ohne Ball sind aber beachtlich.
Ein Geheimfavorit für den EL-Sieg und CL-Achtungserfolge?
Sollte sich die Erfolgsstabilität von Zenits Ausrichtung noch verbessern und die (komplexen) Abläufe besser organisiert werden, dann könnte Zenit auf Europa durchaus für Furore sorgen. Ein Weiterkommen im Achtelfinale, falls man die Gruppe übersteht, ist ebenso möglich wie eine Finalteilnahme in der Europa League. Wichtig ist hierbei auch der sehr gut besetzte Kader. Mit Domenico Criscito hat man einen herausragenden Halb- und Außenverteidiger, Danny und Hulk bilden eine gut eingebundene Flügelzange, Garay ist ein Weltklasseverteidiger, Javi Garcia ein passabler Sechser, Shatov ist ein sehr guter Offensivallrounder und Rondón kann vorne für die Durchschlagskraft sorgen. Auch wenn man individuell mit vielen Topteams nicht mithalten kann, so ist man trotzdem durchaus für eine Überraschung gut.
Rene Maric, abseits.at
(Screens by InStat)
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