In dieser Serie wollen wir euch Porträts von Spielern liefern die außerordentliche Karrieren hingelegt haben. Natürlich gibt es in keinem Leben nur Höhen oder... Die Achterbahnprofis – Die wechselhaftesten Karrieren der Fußballwelt (2) – Grafite

Fußball in BrasilienIn dieser Serie wollen wir euch Porträts von Spielern liefern die außerordentliche Karrieren hingelegt haben. Natürlich gibt es in keinem Leben nur Höhen oder Tiefen, nachfolgende Herren mussten aber besonders harte Schicksalsschläge parieren oder erlebten seltene Glücksmomente. Wir gehen auf einmalige Lebensgeschichten ein, die exemplarisch für viele Sportler stehen sollen. Folgenden Profis durfte beim Achterbahnfahren nicht übel werden: Sie mussten mit Problemen kämpfen, hatten einmaliges Talent, konnten sich ihre Laufbahn hart erarbeiten oder wurden von Glücksgöttin Fortuna reich beschenkt. Wer warf seine überragende Begabung gar über Bord oder erlebte trotz Topform ein Unglück nach dem anderen? Wer hatte Startschwierigkeiten oder konnte den Versuchungen eines privilegierten Lebens nicht widerstehen? Teil zwei unserer Serie behandelt…

Grafite – „Warum denn warten von Tag zu Tag? Es blüht im Garten, was blühen mag.

Edinaldo Batista Libânio, genannt Grafite, wird den 4. April 2009 nicht so schnell vergessen. Im Ligaspiel gegen den FC Bayern München tanzt der anstürmende Wolfsburger drei Mal Defensivspieler Andreas Ottl im Strafraum aus. Auch der damalige FCB-Tormann Rensing kann den ballverliebten Brasilianer nicht von der Kugel trennen, Grafite befördert diese mit der Ferse an drei Bayern vorbei und der Ball kullert hinter dem unglücklichen Ottl ins Tor. Selbst eine Grätsche des Münchners kann den Treffer nicht mehr verhindern. An diesem Frühlingstag bricht der „Samba“ in der Industriestadt los: Der 30-Jährige vernascht nicht etwa die Abwehr des FC Hintertupfing, sondern „demütigt“ den deutschen Rekordmeister und mächtigen Weltverein durch sein legendäres Tor. Der Schlusspunkt eines 5:1-Heimsieges der Wölfe wird von der ARD später zum „Tor des Jahres“ gewählt.

 „Diese Woche gibt es wieder spezielle Angebote.“

Füllmenge: 20 Kilogramm, außen schwarz und innen gut vernäht. Genau so müssen qualitativ-hochwertige Müllsäcke sein. Die Ummantelung von Abfällen sorgt eine Zeit lang dafür, dass Grafite seine Miete bezahlen und sich sattessen kann. Der spätere Fußballprofi geht in seiner Jugend einem unsteten Vertreterjob rund um Sao Paolo nach. Tag für Tag klopft er an Haustüren und versucht seine Abfallbeutel an den Mann zu bringen: „Guten Tag! Ich bin wieder einmal im Viertel und kann ihre Bestellung gerne aufnehmen.“ Keine Grätschen, keine Dribblings: Acht Jahre lang überbringt der spätere Offensivspieler die neuesten Angebote in Sachen Haushaltsmistentsorgung. „In dieser Zeit habe ich viel gelernt, wie etwa Kleinigkeiten wertzuschätzen.“, erinnert sich der Spieler 2009 in einer Rückblende an seine frühen Jahre.

Sein Arbeitsplatz ist unsicher, die Konkurrenz drückt und von „Grafite“, dem Fußballer, ist damals noch keine Rede: Edinaldo sehnt sich aber nach einer Karriere als Spieler, er will es als professioneller Kicker raus aus Südamerika schaffen. Die Initialzündung dieses Wunsches ist die Ankunft einer jungen Dame: Maria-Luisa wird 1998 geboren. Der Jung-Vater beginnt zu überlegen, ob er in diesem Leben wirklich nur schwarze Säcke verkaufen möchte. Wie fast jeder Brasilianer ist Grafite fußballverrückt und jagt schon als kleines Kind der Kugel nach. Im Unterschied zu vielen anderen Jungs, spielt „Dina“, so sein Spitzname als Jugendlicher, aber zunächst bevorzugt Hallenfußball. Als 13-Jähriger beginnt er zu arbeiten, denn die Aussicht auf eine Profi-Karriere scheint trübe, später muss er mit seiner Vertretertätigkeit seine kleine Familie durchbringen. Etwa zwei Jahre nach der Geburt seiner Tochter beschließt Edinaldo aber doch alles auf eine Karte zu setzen.

Aller Anfang ist schwer

Der am 2. April 1979 in Campo Limpo Paulista, einer Kleinstadt vor den Toren São Paulos, Geborene heuert bei 2000 der SE Matonense an, mit der er in der ersten Liga der Staatsmeisterschaft spielt. Dort verpasst ihm ein Trainer seinen „Trikotnamen“: „Grafite“, sprich „Grafitsch“ oder „Grafitschi“, bedeutet „Bleistiftmine“ auf Deutsch. Die Bezeichnung passt zu dem dünnen und langen Spieler, so wie die Copacabana zu Rio de Janeiro.

Zunächst findet die Mine aber nicht zu ihrem Spitzer: Der Stürmer spielt durchwachsen und kommt bis 2003 noch bei vier weiteren Vereinen zum Einsatz. Sein erstes Auslandsengagement in Seoul verläuft schlecht. Grafite zerstreitet sich mit seinem Trainer und bricht seinen Aufenthalt nach nur wenigen Monaten ab. Mitte 2003 zieht es ihn wieder in seine Heimat zurück. Bei Goiás EC in Goiânia, Zentralbrasilien, ist dem 189 cm großen Angreifer erstmals Erfolg beschieden. Er schießt zwölf Saisontore und wird mit dem Bola de Prata als bester Spieler des Jahres auf seiner Position ausgezeichnet. Nun beginnt sich sein „Heimatverein“ für ihn zu interessieren: Der FC São Paulo holt Grafite zurück und kann 2005 die Meisterschaft feiern. Ein Jahr darauf wird die Copa Libertadores und die Vereinsweltmeisterschaft gegen den FC Liverpool gewonnen. Eine ruhmreiche Zeit, doch der Mittelstürmer hat schon von Anfang an Fernweh.

„Einmal will jeder brasilianische Spieler in Europa spielen.“, sagt der Familienvater. Die abendländische Fußballwelt ist viel verlässlicher als ihr südamerikanisches Gegenstück. Im Land der Strandkicker ticken die Uhren etwas anders, wenn es um Gehaltszahlungen und Zusagen seitens des Vereines geht. In diesem Punkt ist Brasilien das Italien Südamerikas. Doch auch der öffentliche Druck ist in Grafites Heimatland ab und an unmenschlich (!) groß: Erpressungen und Entführungen im Verwandtschaftskreis erfolgreicher Menschen kommen in Südamerika öfters vor. Auch der spätere Legionär ist davon betroffen: Seine Mutter wird im Februar 2005 verschleppt. Gottseidank kann sie aber nach einem Tag befreit werden. Der Schock sitzt dennoch tief und Grafite macht sich mit seiner Familie nach Europa auf.

„Graffas“ erster Halt wird Le Mans UC in Frankreich. In seiner ersten vollen Saison 2006/07 wird er der beste Goalgetter seines Teams und Dritter in der Torschützenkönigliste der Liga. Bald haben höherklassige Vereine den damals 28-Jährigen auf ihrer Wunschliste. Am letzten Tag der Transferzeit, am 31. August 2007, waren schließlich jene Verträge unter Dach und Fach, die den Stürmer nach Wolfsburg lotsten.

Felix Magath, der damalige Trainer der „Wölfe“, beendet seinen „Einkaufsbummel“ mit so vielen neuen Kickern, dass der Verein keine Wohnungen in der niedersächsischen Stadt übrig hat. Grafite zieht nach Gifhorn, eine Stadt, die etwas mehr als halb so viele Einwohner, wie sein Heimatort hat. „Quälix“ hat keinen quirligen Edelzangler von Ipanema verpflichten lassen, sondern einen 88 Kilogramm schweren Angreifer, der weiß, wie man sich im Strafraum behauptet. Für 7,5 Millionen Euro möchte Magath aus dem Brasilianer die Speerspitze im Angriff der Werkself machen, nicht ohne genügend Zweifel an seinem Projekt zu hegen: „Ich war mir nicht sicher. Grafite hatte zuvor einen Kreuzbandriss. Sie wissen nie, ob das Knie dann hält. Und er ist Brasilianer. Er hatte zwar schon in Europa gespielt, aber jeder weiß, die Brasilianer kommen aus dem warmen Wetter, dann ist das Klima hier so, dass sie manchmal denken: „Oh Mist, was ist das denn?“ Und dann werden sie nicht glücklich.“

Mit Marcelinho und Josué hat der VfL aber schon zwei Spieler vom Zuckerhut engagiert, sodass sich Grafite nicht alleine fühlen muss. „Ich mag die Organisation, die klaren Regeln und deren Einhaltung. Mir gefällt auch, wie hier Kinder erzogen werden und dass man sich gegenseitig respektiert.“, lobt der Spieler 2009 sein „Gastland.“ Kaum einer denkt sich, dass der Stürmer neben dem Stammpersonal des VfL etwas zu melden haben wird. Doch sie irren sich gewaltig: Grafite zerbombt die deutsche Bundesliga und setzt die Reihe „erfolgreiche Samba-Kicker in der niedersächsischen Provinz“ gebührend fort. Radu, Boakye und Dzeko werden zu den Nebendarstellern der grün-weißen Erfolgsgeschichte. Schon in seiner ersten Saison kann der Stürmer mit Anlaufschwierigkeiten elf Mal netzen.

Mit Magaths Fitnessideen scheint der erfahrene Kicker überhaupt keine Probleme zu haben: Mit den schicksalshaften Worten „Maschine kaputt“ quittiert er seinen Kollaps während eines Berglaufes und meint danach lapidar: „Sie (die Trainingsmethode, Anm.) war nicht übertrieben, hätten alle Spieler Probleme gehabt, wäre sie übertrieben gewesen.“

„Du narrischer Grafite, warum erwacht so spät in dir des Frühlings Lebenslust?“

Es ist so, als ob man mit einem Magneten über Eisenteilchen fährt: Plötzlich lenkt sich jede Faser im Fußballer Grafite in die richtige Richtung. Er, dessen oft stümperhafter und rauer Umgang mit dem Ball einst für Spottrufe gesorgt hat, entwickelt nun natürliche Klebestreifen an seinen Füßen. Er führt die Kugel eng am Fuß, trickst durch die Gegend und verschafft sich mit seinem wuchtigen Körper Platz. Wenn Grafite im Strafraum ist, dann brennt es. Der Brasilianer trifft aus allen Lagen und wird zum „Meister-Knipser“ Wolfburgs.

Ist es die bleischwere Luft in der VW-Stadt oder schafft es Trainer Magath mit einem  Geheimrezept die letzten Prozent aus dem Kicker herauszukitzeln? Mit dreißig Jahren entwickelt der „Spätzünder“ auf einmal ungeahnte Kräfte. Schließlich kann er am 23. Mai 2009 die Meisterschale mit Wolfsburg in die Höhe stemmen, zum Drüberstreuen sichert er sich mit 28 erzielten Toren (in 25 Einsätzen!) die Torjägerkanone. Sein legendärer Treffer gegen Bayern München wird für den Puskás-Preis der FIFA nominiert und landet bei der anschließenden Wahl auf dem dritten Platz. Das Fachmagazin Kicker und der Verband Deutscher Sportjournalisten wählen den Stürmer zum Fußballer des Jahres 2009 und gemeinsam mit Edin Džeko geht er als das beste Sturmduo in die Bundesligageschichte ein.

„Ich habe die Jugendmannschaften nicht durchlaufen, sondern auf Bolzplätzen und in der Halle spielen gelernt. Daher hatte ich Probleme mit einigen grundlegenden Dingen.“, bringt der Spieler seine „Lehrzeit“ unter Magath auf den Punkt. Er schlägt wie eine Granate ein und verpuffte leider auch schnell wieder.

Schon im Herbst der Folgesaison kann der dreifache Familienvater nicht mehr an seine vorherigen Leistungen anschließen. Meistermacher Magath hat sich verabschiedet und „Graffas“ Torquote fällt in den Keller. Wiederum ein Jahr später kommt der gebürtige Aschaffenburger zurück in die Industriestadt, die alten Tage als Spitzenreiter sind jedoch vorbei: Der VfL spielt um den Abstieg und kann erst am letzten Spieltag das rettende Ufer erreichen. Ein Abstauber ist das letzte Tor des 3:1-Sieges und zugleich der letzte Treffer des brasilianischen „Naturwunders“ Grafite. Fairerweise muss man allerdings erwähnen, dass der Stürmer in seiner letzten Wolfsburger Saison mit schweren Verletzungssorgen zu kämpfen hatte und wohl deshalb nicht mehr im Stande war an alte Leistungen anzuknüpfen. Nach 10.111 Minuten und 130 Spielen kehrt er der Industriestadt den Rücken und wechselt zu Al-Ahli, dem vierfachen Meister der Vereinigten Arabischen Emirate.

Der Nachsommer

2012 schafft es die „Maschine“ noch einmal in die deutschen Schlagzeilen: Ihm drohe wegen Unterhaltsschulden gegenüber seiner Tochter aus erster Ehe eine Gefängnisstrafe. Ansonsten hört man wenig von Grafite, dem Mann, der mit 30 Jahren zum Top-Stürmer der deutschen Bundesliga wurde. Für manche ist er überschätzt. Sie sehen in ihm eine Eintagsfliege, die einfach nur einen Lauf hatte.

Doch ein gewisses Grundpotenzial scheint bei dem kräftigen Spieler nie zu versiegen: 55 Treffer erzielte der gläubige Katholik seit 2011 in 60 Partien in der arabischen Liga und stellte mit 13 Toren einen neuen Rekord im Etisalat-Pokal auf. „Ich kann mir vorstellen, hier meine Karriere zu beenden.“, meinte er vor zwei Jahren, als er über sein Leben in Dubai erzählte. Neben seinem fußballerischen Geschick bemängelten Kritiker öfters Grafites Hitzkopf: 2008 fasste er sogar eine Sperre über vier Spiele aus. „Neginho“ (kleiner, schwarzer Mann), wie der Stürmer von seiner Frau genannt wird, wollte sich auch mit unfairen Mitteln den Ball erkämpfen, dafür sah er öfters gelb-rote Karten. 2008 wurde er drei Mal mit glatt Rot vom Platz gestellt.

Grafite oder Edinaldo Batista Libânio ist in jedem Fall ein Phänomen: Er begann seine Karriere in fortgeschrittenem Alter und ging einen steinigen Weg, der ihn zu einer grandiosen Saison in Niedersachsen führte. Der vierfache Nationalspieler der Seleção ließ sich sein Supertor gegen die Bayern sogar in Öl verewigen. Das Gemälde hängt jetzt über seinem Fernseher, dieser ist auch ein brauchbares Hilfsmittel um vergangene Erlebnisse aufzufrischen. Grafite kann sich in jedem Bundesligarückblick beobachten, wenn es um die Saison 2008/09 geht. Das bleibt für die Ewigkeit.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag

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