Am Sonntag entscheidet sich wer das französische Präsidentenamt für die kommenden fünf Jahre übernehmen wird: Wird es der intellektuelle Yuppie, das jugendliche Illustrierten-Chéri, Emmanuel... Die bunten Bleus  –  Wie Frankreich seine Nationalspieler rekrutiert

_Frankreich - FlaggeAm Sonntag entscheidet sich wer das französische Präsidentenamt für die kommenden fünf Jahre übernehmen wird: Wird es der intellektuelle Yuppie, das jugendliche Illustrierten-Chéri, Emmanuel Macron, der mit seiner Ex-Lehrerin im Arm zwischen Sozialdemokratie und Wirtschaftsliberalismus hin und hertänzelt oder Marine mit der Reibeisenstimme, die überzeugt ist, dass nur Fremde am Unglück der Franzosen schuld sind, die Anwältin, die sich angriffslustig und polemisch gibt und Xenophobie schon mit der Muttermilch eingesogen hat? Marine wird dieser Artikel nicht gefallen. Certainement pas. Schwamm drüber, sie spricht sowieso kein Deutsch und erfährt davon nichts. Ob sie schon einmal dazu befragt worden ist, wie sie es findet, dass in der aktuellen équipe tricolore mehr Spieler mit Migrationshintergrund kicken, als zwischen Lille und Arles geborene Bio-Franzosen? Selbst der französische Fußballgott der jüngeren Vergangenheit hat algerische und somit ausländische Wurzeln.

Il était une fois …

Als Frankreich am 12. Juli 1998 im WM-Endspiel Brasilien besiegte, jubelte das ganze Land. Für Le Monde-Redakteur Gattegno hatte der Sieg eine politische Bedeutung: „Der Schwung einer vielfarbigen Gruppe, geformt aus jungen Menschen, deren etliche aus nicht unproblematischen Schichten der Gesellschaft stammten, erweckten den Geist der Republikaner.“  Angeführt wurde die Mannschaft von jenem Superstar, der mit dem Ball tanzt und es trotz einer Kindheit à la Charles Dickens ganz nach oben geschafft hat: Zidane wuchs in Castellane, einem Marseiller Außenviertel auf, wo vorwiegend Familien aus dem Maghreb leben. Unverblümt erzählte Zizou später, dass er hier auf der Straße gelernt hat, wie das Leben so läuft. Das Recht des Stärkeren war sein Gesetz. Vater Smail jobbte in einem Supermarkt, seine vier Söhne mussten sich im Wohnblock-Dschungel durchsetzen. Als Bub drückte der spätere Real-Madrid-Legionär dem Team seiner Heimatstadt die Daumen: Olympique Marseille verfügt seit langem über den konsolidiertesten Fanblock des Landes. Die vielen Fans stammen aus dem Arbeitermilieu, das sich rund um die Industrieanlagen der Stadt gebildet hatte. Seit jeher kamen viele Gastarbeiter nach Marseille, gleichzeitig machte die geografische Lage den Ort zu einem Hotspot für Schmuggel und Drogenkriminalität. Als die Öl- und Chemiebranche in die Krise schlitterte und Marseille die höchste Arbeitslosenquote Frankreichs vorzuweisen hatte, erschienen die Populisten von links und rechts auf der Bildfläche. Marines Papa, Jean-Marie, vergiftete das ganze Land mit seinem beratungsresistenten Weltbild, die Linke suchte verzweifelt nach populistischen Gegenargumenten. Der damalige Präsident Mitterand spannte Bernard Tapie, einen Unternehmer aus der Halbwelt, für seine Zwecke ein. Was dieses Politikum mit Fußball zu tun hat? Nun ja, Tapie wollte die Sympathien der Marseiller – nach dem altrömischen Motto Brot und Spiele – durch Investitionen in ihren Herzensklub gewinnen.  Woher das Geld kam, das Tapie in den Verein steckte, ist bis heute nicht ganz geklärt. Erfolg hatte der Geschäftsmann jedoch kurzfristig: 1993 war OM der erste französische Verein, der Champions League-Sieger wurde. Die Mannschaft entwickelte viele Spieler, die fünf Jahre später mit Frankreich auch Weltmeister wurde. Am Höhepunkt stürzte Tapies Konstrukt jedoch in sich zusammen. Es war zu schön um wahr zu sein: Der 1943 geborene Pariser hatte vor einem Match seiner Mannschaft gegen den Abstiegskandidaten Valenciennes zumindestens einen gegnerischen Spieler bestochen, damit sich seine Jungs für die CL schonen konnten. Als die Affäre entdeckt wurde, musste Marseille bitter dafür brennen: Der Meistertitel wurde aberkannt, der Verein musste zwangsabsteigen und wurde von der Teilnahme an europäischen Wettkämpfen ausgeschlossen. Tapie selbst kam nicht ungeschoren davon. Seinen politischen Rückhalt hatte er mit dem Machtwechsel schon im Frühling verloren, er meldete danach Insolvenz an und wurde mehrfach zu Geld- und Freiheitsstrafen verurteilt.

Menschen wie Tapie, die für fragwürdige Turbo-Erfolge plötzlich auftauchen und dann wieder verschwinden, gibt es überall. In Österreich zeigten Phänomene wie Kartnigs Sturm, Kerschers FC Tirol sowie Svetits GAK, dass die Zeche für unlauter erwirtschaftete Triumphe irgendwann bezahlt werden muss. Für die Vereine war dies meist existenzbedrohend. Einzig Sturm Graz erholte sich wieder nachdem der Preis der Herrlichkeit den Traditionsverein beinahe um Jahrzehnte zurückgeworfen hätte. Der faire Sport, der Fiskus, die Fans sind diejenigen, die letztendlich betrogen werden.

Zizou hat nie für jene Mannschaft gespielt, die er als Kind angefeuert hat. Bereits mit fünfzehn Jahren kam er in das Eliteinternat des AS Cannes und verlebte eine typisch französische Vereinsjugend. Sein Talent war zwar auffallend, aber nicht einzigartig. Als er ein Jahr darauf erstmals in der Kampfmannschaft eingesetzt wurde, buhlten andere nationale Klubs um ihn. Tapie wollte den Mittelfeldspieler nach Marseille zurückholen, doch der damalige Trainer befand den Burschen für „zu langsam“. Bei Girondins de Bordeaux reifte Zidane zu jenem Spitzenspieler, der sich bei Juventus in die Weltklasse spielen konnte. Heute zählt er zu den größten Spielern aller Zeiten wie Pelé, Maradona, Beckenbauer, Cruyff, Messi oder Ronaldo. „Zidane ist wie ein Gefäß, in dem sich die profunde Kenntnis des Spiels gesetzt hat.“, sagt Santiago Segurola, spanischer Fußballkenner. Gut Ding braucht Weile und deshalb ist es gut, dass Zidane in Marseille auf die Welt kam. Denn im französischen Nachwuchssystem hatte auch ein Bub aus sehr einfachen Verhältnissen eine Chance. Der Welt- und Europameister nutzte diese und wurde mit dem Glück des Tüchtigen belohnt. Wenn es darauf ankam, war er das Zünglein an der Waage und machte sich so unsterblich. In den wichtigen Spielen spielte Zidane oft als wäre er von einem anderen Stern: So wie damals als er mit zwei Kopfballtreffern den WM-Pokal nachhause holte oder als er im CL-Finale 2002 einen volleyübernommenen Kracher eindrucksvoll unter die Latte hämmerte.

Klassenkampf

Zidane steht exemplarisch für eine Sorte von Kickern, die Frankreich seit den 80ern und bis heute erfreuen. Der Deutsche Gernot Rohr, der zwölf Jahre in Bordeaux spielte und anschließend bei einigen französischen Klubs auf der Trainerbank saß, begründet die große Anzahl der Klassespieler in der Grande Nation folgendermaßen: „Es gibt eine Vielzahl von Talenten, auch dank der immigrierten Afrikaner, die aufgrund ihres sozialen Status noch richtig hungrig sind.“ Der französische Fußballverband begann noch in den 70ern in die Trainerausbildung und in die Leistungszentren zu investieren und schuf so neben Vorselektionen auch Horte der Ausbildung für talentierte Knaben. Zwar ist die Bedeutung der französischen Vereine insgesamt international nicht gestiegen, Franzosen glänzen heute aber bei vielen großen internationalen Klubs: Ob Giroud und Koscielny bei Arsenal, Varane bei Real Madrid oder Pogba bei Manchester United. Es scheint, als hätte man auf fußballerischer Ebene geschafft, was in Frankreich sonst so schwer wie nirgendwo auf der Welt ist: Die Überwindung der sozialen Klasse.

Das französische Bildungssystem gilt als das Elitärste der Welt. Seit Jahrhunderten werden die führenden Posten in Wirtschaft, Militär, Justiz, Politik und Wissenschaft – verkürzt gesagt- innerhalb derselben Familien mit entsprechendem Background und Kleingeld weitergegeben. Knüppelharte Vorbereitungsklassen, die oft über Jahre dauern, und Aufnahmetests für die Eliteschulen sind selbst für die Kids aus der Mittelschicht hart zu stemmen. Leisten können es sich vorwiegend die Söhne und Töchter der Bourgeoisie. Gänzlich ausgeschlossen sind Sprösslinge der Einwandererfamilien. Parallel dazu schafft es die weltweite Entertainmentkultur nicht länger den aufgestauten Frust der Benachteiligten niederzudrücken, wie die zahlreichen Aufstände in den Banlieues im letzten Jahrzehnt schon gezeigt haben. Dass dieses System dabei ist gegen die Wand zu fahren, merkt eigentlich jeder. Morgenluft wittern jedoch nur Populisten wie Le Pen, die – so wie ihr Kontrahent Macron – als Produkt dieses Systems keine Lösung anbietet, wie man es überwinden könnte. Dann doch lieber dem Fremden die Schuld geben.

Einzig im Sport schaffte Frankreich, was kein anderes Land so gut hinbekam. Man schuf ein Scouting- bzw. Ausbildungssystem und koordinierte die Arbeit der Klubs mit dem Nationalverband. In Marseille arbeitet der Verein beispielsweise mit einem Psychologen zusammen, der anhand von Persönlichkeitsprofilen den Neulingen helfen soll, sich in das Team zu integrieren. Schließlich fehlen vielen Burschen aus sozialschwachen Verhältnissen grundlegende Werte. Die Klubs arbeiten nicht nur mit Internaten, sondern auch mit sorgfältig ausgewählten Gastfamilien zusammen. Langwierigen Einbürgerungsszenarien ist dank des ius soli ein Riegel vorgeschoben.

Ein Musterbeispiel für Akademiearbeit ist Auxerre. Die 34.000 Einwohner-Stadt im Burgund wäre eigentlich ein Ort von vielen, wenn sie nicht jedem französischen Fußballanhänger aufgrund ihrer Top-Nachwuchsausbildung bekannt wäre. Damals in den frühen 80ern machten die Burgunder aus der Not eine Tugend. „Als wir 1981 aufstiegen, war klar, dass wir nur durch die eigene Jugend bestehen könnten.“, erklärt Guy Roux, der über vierzig Jahre lang als Chefcoach die Zügel in der Hand hielt. Die lange Erfahrung machte Auxerre klug, sie schafften es mitunter bis zu 60% ihrer Fußball-Azubis in den Profibetrieb in ganz Europa zu integrieren. Mit Éric Cantona absolvierte zudem ein echter Superstar die Nachwuchsklassen. Roux definiert das simple Ausbildungskonzept, das in Auxerre seit jeher beherzigt wird: Bis in die U-15 wird der Fokus auf Technik gelegt, später kommen Taktik und Schnelligkeit als Schwerpunkte dazu. Ab dem 20. Lebensjahr wird punktuell auf die Feinheiten des Herrenfußballs hintrainiert. Auxerre stieg 2012 nach 32 Jahren in der Ersten Liga erstmals ab. Es gibt keinen anderen Verein in Frankreich, der öfter den französischen Fußballpokals für Jugendvereinsmannschaften gewinnen konnte.

Wenn der Staat will…

Einen großen Sprung machte Frankreich lange vor der Heim-Weltmeisterschaft ’98. Politiker aller Couleur sowie Fußballfunktionäre einigten sich auf staatliche Unterstützung bei der Renovierung der Liga sowie des nationalen Fördersystems. Es ist eine Besonderheit der französischen Republik, das die Regierung selbst mit einer klarformulierten Zielbestimmung schnell und effektiv handeln kann. Keine Landesverbände, fragwürdige Expertengruppen oder Kartelle, die unter dem Deckmäntelchen der Demokratie um Mitbestimmung penzen, können einer solchen Idee entgegen stehen. Mit dem Bau des Leistungszentrums, des Centre Technique, in Clairefontaine legte man den Grundstein für eine bessere Fußballzukunft. In dem schlossartigen Gebäude wird heute nicht nur das Nationalteam untergebracht, hier finden auch Fortbildungslehrgänge für Trainer oder sportmedizinische Untersuchungen sowie Forschungsarbeiten statt. In dieser Kaderschmiede soll neben Wissen und Können auch ein besonderer Teamspirit und eine eigene nationale Philosophie vermittelt werden. Beides war ausdrückliche Zielsetzung des Projektes. Die Geduld, die nötig war, bis die Franzosen ihren Weg fanden, überbrückte die Grande Nation mit ihrem legendären Nationalstolz.

Anno 2000 als Frankreich Europameister wurde, fühlten sich deshalb viele bestätigt. Der deutsch-französische Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit etwa propagierte die équipe tricolore mit ihrem „schönen Fußball“ als Gegenstück zu all jenen, die „einfache Weltbilder und Ausgrenzung“ als Reaktion auf wirtschaftlich und politische Schwankungen vorweisen würden. Tatsächlich ergaben Untersuchungen, dass der Triumph der „bunten“ Franzosen dem Front National kurzfristig einen schweren Dämpfer zufügte. Zweifelsfrei kann konstatiert werden, dass ein derartiges landesweites Konzept kaum Talente durch das Raster fallen lässt und so nicht nur in Frankreich gelebt werden sollte. Die Probleme der Immigrationen können nämlich nur durch eine solche Integration gelöst werden.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag

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