Es ist Sommer 2014 und wieder einmal ist eine Fußballweltmeisterschaft in Südamerika, so wie damals 1962 in Chile, wo ein gewisser Josef Kadraba mit... Mein Nachbar, der Vizeweltmeister – Ein Nachruf auf Josef Kadraba

Es ist Sommer 2014 und wieder einmal ist eine Fußballweltmeisterschaft in Südamerika, so wie damals 1962 in Chile, wo ein gewisser Josef Kadraba mit der Nationalmannschaft der Tschechoslowakei ins Finale vordringt. Er ist zum Zeitpunkt der in Brasilien stattfindenden WM bereits 80 Jahre alt und mein Nachbar. Es reizt mich, dass ich ein Stockwerk hinaufgehe, um mit ihm über dieses Ereignis plaudern, damit ich danach dieses Gespräch für die Nachwelt niederschreibe. Doch wenn man solche Sachen aufschiebt, dann wird man sie nie machen. Dies sollte sich ziemlich genau fünf Jahre später wieder einmal bewahrheiten, denn Josef Kadraba ist trotz seines hohen Alters am 05.08.2019 überraschend gestorben. Aber wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit gekommen, die Anekdoten meines Nachbarn, der in einem WM-Finale spielte, niederzuschreiben.

Über Prag und Chile nach Wien 13

Meine Erinnerungen beginnen in den späten 80er-Jahren. Beim Besuch meiner Großeltern lerne ich den Herrn Kadraba kennen, einen älteren Herrn mit tschechischem Akzent, der die gute Seele in einem Mehrparteienhaus in Wien 13 ist. Mit meiner Großmutter und meinem Vater versteht er sich besonders gut, wohl auch deswegen, weil er – so wie meine Großmutter – aus Böhmen bzw. der Tschechoslowakei emigrierte und er zusammen mit meinem Vater die Leidenschaft für den Fußball teilte. Ich erfahre auch, dass er bei der WM 1962 gespielt hat, was dies bedeutet, konnte ich als Volksschulkind noch nicht begreifen.

Es vergehen mehr als zehn Jahre, ich bin erwachsen, Student und beziehe die leerstehende Wohnung meiner mittlerweile verstorbenen Großeltern. Die gute Seele in diesem Haus ist immer noch Herr Kadraba. Er erkundigt sich nach dem Befinden meines Vaters, als er auf dem Weg in die Garage ist, um mit seinem silbernen Ford Focus mit dem markanten Kennzeichen „W-CHILE 2“ loszufahren. Das Kennzeichen erinnert mich wieder an die Worte meines Vaters und ich recherchiere etwas. Der rüstige Senior ist mittlerweile beinahe 70 Jahre alt. Er wurde 1933 im Ort Řevničov geboren und spielte Mitte der fünfziger Jahre für Sparta Prag. Mitte der sechziger Jahre spielte er auch für den Stadtrivalen Slavia. Dazwischen war er sieben Saisonen lang in Kladno tätig, wo er zu einem besten Stürmer der damaligen ersten tschechoslowakischen Liga avancierte. Dies führte auch zu einer Einberufung in die Nationalmannschaft der Tschechoslowakei, für die er insgesamt 17 Mal auflaufen sollte. Neun Tore sollten ihm bei diesen Einsätzen gelingen.

1962 war dann zweifelsohne sein Karrierehöhepunkt, denn der stand im Aufgebot der Tschechoslowakei für die in Chile stattfindende Endrunde. Nachdem er in der Vorrunde nicht eingesetzt wurde, stand er im Viertelfinale beim Sieg gegen Ungarn auf dem Platz. Im Halbfinale steuerte er den ersten Treffer zum 3:1-Sieg gegen Jugoslawien bei, wodurch er auch im Finale gegen Brasilien in der Startformation stand. Doch dort waren die Brasilianer auch ohne den verletzten Pele eine Nummer zu groß. Sie gewannen dieses Endspiel mit 3:1 und verteidigten ihren WM-Titel von 1958.

Fünf Jahre später setzte sich Kadraba nach einem Europacupspiel Slavia Prags in Israel bei dem über Wien gehenden Rückflug ab und blieb in Österreich, wo er eine Aufenthaltsgenehmigung für fünf Jahre erhielt, allerdings unter der Bedingung hier nicht mehr im Profifußball zu spielen. Er schnürte daher für den SC Hinteregger in der drittklassigen Wiener Stadtliga seine Fußballschuhe. Mit diesem Verein gelang ihm sogar der Aufstieg in die Regionalliga, der damals zweithöchsten Spielklasse in Österreich. Nachdem der SC Hinteregger durch eine Fusion mit dem Post SV 1973 von der Fußballlandkarte verschwand, wechselte Kadraba noch zum SK Slovan Wien, wo er noch sechs weitere Saisonen spielte, ehe er mit 46 Jahren seine aktive Karriere beendete. Inzwischen war Kadraba bereits österreichischer Staatsbürger geworden. Diese nahm er an, weil man ihn in der Tschechoslowakei nach dem Ablauf seiner Aufenthaltsgenehmigung in Abwesenheit zu zwei Jahren Haft verurteilte.

Auch in Wien zogen die Jahre ins Land. Ich stehe bereits mitten im Berufsleben, als er sich mit meiner damaligen slowakischen Freundin entweder über die Waschküchennutzung oder einfach nur über das Tagesgeschehen in seiner Muttersprache unterhalten kann. Das Leben wird für ihn schon etwas beschwerlicher und seine Frau ist krank, aber er hält sich nach wie vor mit Tennis spielen fit und ist die gute Seele in diesem Wohnhaus geblieben. Immer wieder bekomme ich Stadionhefte der beiden Prager Großklubs, mit darin befindlichen Widmungen für ihn. Wenn wir uns im Stiegenhaus treffen, reden wir nicht nur über die neuen Mieter und die immer größer werdende Anonymität in unserem Wohnhaus, sondern es werden auch immer die Europacupergebnisse der österreichischen und tschechischen Teams besprochen.

Wieder einige Jahre später ist mittlerweile mein Sohn auf der Welt. Wenn ich ihm begegne, erkundigt er sich immer nach dem Wohnbefinden der 4. Generation meiner Familie, die er seit seinem Aufenthalt hier in Wien kennenlernt. Wenn er mich einmal abends sieht, meint er auch lächelnd: „Man darf seine Familie nicht vernachlässigen, aber wenn Du zum Fußball gehst, dann hat das natürlich immer Vorrang!“ Er sieht noch die ersten Schritte meines Sohnes und auch dessen Vorliebe für Fußbälle aller Art. Doch mit meinem Umzug in eine größere Wohnung verlieren wir uns im Sommer 2018 aus den Augen.

Mit seinem Ableben kommen nun all die Erinnerungen an ihn zurück. Diesmal halte ich sie fest, diese Erinnerungen an meinen Nachbarn, der 1962 im WM-Finale gestanden ist, der den Fußball über alles lebte und liebte, aber Zeit seines Lebens bodenständig geblieben ist. Die Fußballwelt hat wieder eine Legende verloren. Eine Legende aus einer Zeit des Fußballs, die heute völlig unvorstellbar geworden ist, denn Vizeweltmeister wie Lionel Messi oder Luka Modrić werden wohl kaum meine Nachbarn in einem Wiener Mehrparteienhaus werden.

heffridge, abseits.at

Heffridge

Philipp Karesch alias Heffridge wurde 1979 in Wien geboren und hatte von Kindesbeinen an die Lust am Reisen und Fußball zu spielen. Durch diese Kombination bedingt, zieht es ihn nach wie vor auf die Fußballplätze dieser Welt. Die dort gesammelten Eindrücke sind ein fixer Bestandteil der abseits.at-Kolumne Groundhopper's Diary.