Jeden Sonntag wollen wir in dieser Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder im... Men to (re)watch (32) –  Simen Agdestein (KW 32)

Jeden Sonntag wollen wir in dieser Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder im Konjunktiv stecken blieb, die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt radikal verändert haben oder sonst außergewöhnlich waren und sind: Sei es, dass sie sich nach dem Fußball für ein völlig anderes Leben entschieden haben, schon während ihre Profizeit nicht dem gängigen Kickerklischee entsprachen oder aus unterschiedlichen Gründen ihr Potenzial nicht ausschöpften. Auf jeden Fall wollen wir über (Ex)-Fußballer reden, die es sich lohnt auf dem Radar zu haben oder diese (wieder) in den Fokus rücken. Wir analysieren die Umstände, stellen Fragen und regen zum Nachdenken an. Der 32. „Man to (re)watch“ ist Stürmer und Schachgroßmeister…

Schwarz und weiß, diese (Nicht)-Farben haben es Simen Agdestein angetan. In einem TV-Beitrag über ein Schachturnier 2008 sieht man den damals 41-jährigen ein klassisches Klavierstück auf einem Flügel spielen. Behutsam gleiten seine Finger in unperfekter Haltung über die schwarzen und weißen Tasten; kurze Zeit später spricht er im Interview über seine Profifußballkarriere, ehe die Konversation das „Spiel der Könige“ zum Thema hat. Klavier, Fußball, Schach – wenn man berücksichtigt, dass die Wuchtel oft als weißer Lederball mit schwarzen Flecken dargestellt wird – kann man frei nach den Worten Ivica Osims sagen: Diese Dinge decken alles, was schwarz ist in Agdesteins Leben. Alles, was weiß ist, auch.

Debüt gegen Maldini

„Ich bin ein bisschen berühmt, weil ich bei einer TV-Sendung, in der Prominente tanzen (Anmerkung: „Skal vi danse“), teilgenommen habe.“, erzählt der Ex-Stürmer in jenem Interview. Berühmt ist Agdestein vielleicht nicht, bewundern sollte man ihn jedoch umso mehr. Gibt es doch kaum jemanden, der in zwei unterschiedlichen Sportarten so große Erfolge wie der gebürtige Norweger gefeiert hat: Der heute 55‑jährige schaffte es Profifußball mit einer Schachkarriere zu vereinen.

Als Fußballer lief der Angreifer längere Zeit unter dem Radar, erst als 17-jähriger wurde er erstmals in Norwegens Juniorennationalteam einberufen. Vier Jahre später war er plötzlich A-Nationalspieler und feierte sein Debüt gegen Italien. Plötzlich musste der unerfahrene Offensivspieler gegen den weltberühmten Verteidiger Paolo Maldini anlaufen; ein steiler Aufstieg. „Ich dachte, ich wäre ein gewöhnlicher Zweitliga-Spieler und hätte fast schon mit dem Kicken aufgehört, weil ich mich voll auf das Schachspielen konzentrieren wollte.“, erzählte er einst der New York-Times. Das „Spiel der Könige“ hatte der kleine Simen bereits als Fünfjähriger beigebracht bekommen.

Geboren wurde Agdestein am 15. Mai 1967 in Asker, einer norwegischen Kommune, die im Nordosten zum Stadtgebiet Oslos gehört. Sein Vater war Ingenieur, die Mutter arbeitete als Sekretärin. Familie und Freunde waren schachbegeistert und so wurden auch Simen und sein älterer Bruder Espen früh mit dem Brettspiel vertraut gemacht. Daneben war der spätere Nationalspieler ein begeisterter Kicker, der im Alter von acht Jahren erstmals bei einem Verein anheuerte. „Wenn ich aus der Schule nachhause kam, schlief ich ein bisschen. Dann war es Zeit für das Fußballtraining und wenn ich dann wieder nachhause kam, habe ich bis in die Nacht Schach gespielt. Ich war die meisten Schultage müde.“, erinnert sich der Schachgroßmeister an seine Kindheit.

Im Alter von 15 Jahren wurde Simen erstmals norwegischer Schachlandesmeister. 1984 wechselte er zu Lyn Oslo, einem Verein, der in der zweiten Liga seiner Heimat spielte. Lyn (norwegisch: Blitz) galt als Underdog und hatte seinen zweiten und letzten Meistertitel geholt, als Agdestein erst ein Jahr alt war. Der Stürmer sollte bis 1992 für die Hauptstädter aktiv bleiben. Sein dortiger Coach, Egil Olsen, gab ihm zwei, drei Wochen im Jahr Sonderurlaub, damit er auf Schachtour gehen konnte. Während seine Kollegen am Feld schwitzten, spielte Agdestein nicht mit dem Fuß, sondern mit den Händen und verschob auf den Philippinen, in Israel oder Ecuador Bauern, Pferde und Türme.

Mit 1,88 Meter Körpergröße war Agdestein als Mittelstürmer aktiv und machte sich aufgrund seines physischen Spiels und starken Willens rasch einen Namen in der heimischen Liga. Im Schach lief es für den Fußballer sogar noch besser: Mit 16 Jahren war er bereits ein „internationaler Meister“, zwei Jahre später verlieh ihm der Weltschachbund als erstem Norweger den Großmeistertitel. Während er der heimischen Schachnationalmannschaft bereits seit 1982 angehörte und insgesamt an neun Schacholympiaden teilnahm, sollte er auf dem Rasen auf acht internationale Spiele kommen. Seinen einzigen Treffer erzielte er dabei bei der 3:2-Niederlage gegen die Tschechoslowakei. Agdesteins Erfolgsbilanz im Schach glänzt dagegen: Bei seiner ersten Schacholympiade konnte er am vierten Brett eine Goldmedaille gewinnen.

Bereits in seinen Jugendjahren hatte Agdestein die nordische Schachszene dominiert; sein erstes Ausrufezeichen war ein zweiter Platz bei der Juniorenweltmeisterschaft, wo er sich nur dem Kubaner Walter Arencibia geschlagen geben musste. Irgendwann erreichte der Spieler jedoch einen Scheidepunkt: Die Tatsache, dass er zwei Sportarten professionell betrieb, verlangte ihren Tribut. Der Offensivkicker war gezwungen Abstriche zu machen und als er 1989 ein Angebot von Beşiktaş Istanbul ablehnte, musste er seine Karriere in der Nationalmannschaft unfreiwillig beenden. Der damalige Nationaltrainer erklärte sich bereit ihn erst wieder einzuberufen, wenn er bei einem ausländischen Klub sein Spiel verbessern würde. Simen waren jedoch die regelmäßigen Schachpartien in seinem Klub Oslo Schakselskap wichtiger als internationale Fußballauftritte.

Der größte Amateur

„Die Vorbereitung für meine Fußballspiele und meine Schachpartien war sehr ähnlich: Ich habe allein gearbeitet, mich konzentriert und viel geschlafen. Es war eine gute Balance. Ich war physisch stark und bin Risiken eingegangen. Und ich war oft unterlegen, kämpfte aber und kam zurück, um Spiele zu gewinnen, die ich eigentlich nicht gewinnen sollte. Der physische Aspekt war entscheidend.“, erklärte der Norweger sein „Doppelleben“. Tragischerweise sollte die „körperliche Komponente“ seiner dualen Laufbahn aber den Gar ausmachen: Als 23-jähriger zog sich Agdestein eine komplizierte Knieverletzung zu, die seine Karriere als Fußballer beendete. Zwar probierte der Stürmer mit allen Mitteln wieder seine alte Form zu erreichen, musste jedoch 1992 nach ungefähr 100 Spielen für Lyn seine Fußballschuhe an den Nagel hängen.

Vier Jahre später tauchten plötzlich Konzentrationsschwierigkeiten und Schmerzschübe in Armen und Beinen auf und der Ex-Fußballer konnte nicht mehr Schachspielen. Er und seine frisch angetraute Ehefrau lebten damals von den Einnahmen, die sie durch zwei vermietete Wohnungen, die sich Adgestein während seiner Zeit als Profi zugelegt hatte, generierten. Außerdem arbeitete der Fußballpensionist als Schachkolumnist.

Doch Agdestein der einen Master in Politikwissenschaften hat, wurde wieder gesund. Noch vor der Jahrtausendwende trainierte er wieder am Brett und spielte in Norwegen und Deutschland Vereinsschach. Garri Kasparow nannte ihn den „größten Amateur unter den Großmeistern“. Agdesteins Stärke als Stürmer und Schachspieler lag in seiner Kreativität: „Ich war zwar der Stürmertyp, der gerne hundertprozentige Chancen vermasselt, aber ich war auch gut darin Tormöglichkeiten zu kreieren. Ich spielte unvorhersehbar.“ 1999 gewann Agdestein erstmals wieder ein großes Turnier, die Cappelle la Grande Open“, bei der er sich gegen 104 andere Großmeister durchsetzen konnte. Ob mit Figuren oder mit seinen Füßen – Simens Stärken lagen in seiner Aggressivität und seinem Erfindungsgeist.

Als Fußballpensionist verlegte sich der Ex-Stürmer schließlich aufs Coachen. Doch statt am Platzrand mit Pfeiferl zu stehen, wurde der neunfache Teamspieler Schachlehrer. Sein prominentester Schüler ist Magnus Carlsen, der heute als bester Schachspieler der Welt gilt. 2004 wurde der damals 13-jährige Großmeister, zwei Jahre später besiegte er seinen Lehrer Agdestein bei den norwegischen Meisterschaften. Simen unterrichtete ihn nach den Methoden, die er sich unter anderem bei seinem früheren Trainer Olsen abgeschaut hatte. Er legt dabei sehr viel Wert auf körperliche Fitness; auch Carlsen gilt als begeisterter Fußballer. Heute wird der 32-jährige von Simens Bruder Espen unterrichtet, während Simen Schach und Sport an einer norwegischen Elitesportschule lehrt. Der Ex‑Stürmer hat mehrere Bücher über Schach verfasst, unter anderem eine Biografie über die frühen Erfolge Carlsens: „Wonderboy“ – ein Titel, der auch auf Simen Agdestein selbst passen würde.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag