Mitfavorit auf den EM-Titel im eigenen Land? Eine Kaderanalyse der Équipe Tricolore (2)
Weitere Länder 15.Oktober.2014 Martin Roithner 0
Während die europäischen Nationalteams in diesen Tagen in den Gruppenspielen zur EM-Qualifikation 2016 um wichtige Punkte spielen, kann eine Mannschaft ihre Partien ziemlich gelassen absolvieren. Der zweifache Europameister Frankreich ist in zwei Jahren Gastgeber und somit automatisch für die Titelkämpfe im eigenen Land qualifiziert. Zur Vorbereitung bestreiten die Franzosen an den Qualifikationsterminen gegen den spielfreien Gegner in Gruppe I jeweils ein Freundschaftsspiel. Nachdem wir im ersten Teil die Tormänner und Abwehrspieler analysierten, wollen wir nun auf die restlichen Mannschaftsteile blicken.
Zentrales Mittelfeld als Prunkstück
Frankreichs Schaltzentrale muss sich vor keiner anderen Nationalmannschaft verstecken, eine ganze Fülle von guten Kickern matcht sich um die Plätze in der Startelf. Sicher gesetzt sein dürfte Paul Pogba. Der Stern des 21-jährigen Mittelfeldasses ging 2013 auf, als er mit der französischen U-20-Auswahl den WM-Titel gewann und auch zum besten Spieler des Turniers gewählt wurde. Pogba, der bei Juventus Turin die Fäden zieht, ist im Dribbling sehr stark, im Zweikampf fast unüberwindbar und verfügt auch über einen ziemlich harten Schuss. Kein Wunder, dass Europas Top-Klubs beim besten Nachwuchsspieler der Weltmeisterschaft in Brasilien reihenweise Schlange stehen.
Einer seiner Nebenmänner in der Nationalelf ist zumeist Blaise Matuidi von Paris St. Germain. Der Linksfuß ist auf dem Feld ein echtes Arbeitstier, gewinnt aufgrund seiner Athletik viele zweite Bälle. Bei der WM in Brasilien machte der 27 Jahre alte Matuidi mit guten Leistungen auf sich aufmerksam, bei den 32 Länderspielen für „Les Bleus“ wird es sicher nicht bleiben.
Als weiterer Paris-Akteur darf sich Yohan Cabaye Hoffnungen auf ein Fix-Leiberl machen. Cabaye zeichnen neben seinen präzisen Pässen – etwa 90 % seiner Zuspiele finden einen Abnehmer – seine gefährlich getretenen Standards aus. Im Spiel selbst ist der 28-Jährige eher offensiv ausgerichtet und sucht dadurch auch öfters den Abschluss aus der zweiten Reihe.
Ein ziemlich ähnlicher Spielertyp ist der um vier Jahre jüngere Morgan Schneiderlin, der in England bei Southampton unter Vertrag steht. Erst heuer im Juni gab er sein Debüt für die Nationalelf, seitdem hält er bei sechs Einsätzen. Schneiderlin spielt nicht spektakulär, er besinnt sich seiner Pass-und Zweikampfstärke und ist somit eine eher konservative Alternative zu seinen oben genannten Mitspielern.
Rio Mavuba vom OSC Lille bestritt bereits vor zehn Jahren sein erstes Länderspiel, kommt jedoch trotzdem nicht über 13 Partien für Frankreich hinaus. Mavubas Wurzeln liegen in Afrika, er kam er auf einem Boot in internationalen Gewässern weit vor der Küste Angolas zur Welt. Die Stärken des 30-Jährigen liegen im Antizipieren und Verteilen von Bällen, auch deshalb ist er für Deschamps ein Kandidat.
Relativ neu im Kader des Nationalcoaches ist auch Josuha Guilavogui, 24-jähriger defensiver Mittelfeldmann vom VfL Wolfsburg. Allerdings gehört Guilavogui dem spanischen Meister Atlético Madrid und ist nur an die Deutschen verliehen. Für Frankreich hat der zweikampfstarke Sechser fünf Länderspiele auf dem Buckel, sein letztes liegt über ein Jahr zurück.
Wesentlich reicher an Länderspielerfahrung ist der 25-jährige Moussa Sissoko von Newcastle United. Der variabel einsetzbare Mittelfeldakteur hat bereits 25 Spiele für die Équipe Tricolore absolviert, die meisten davon als Einwechselspieler. Im Verein agiert Sissoko in der Regel aufgrund seiner Dribbelstärke auf dem rechten Flügel, er kann jedoch auch im Zentrum spielen. Weil er eine eher schwache Passquote von weniger als 80% aufweist, kommt er in der Mitte aber selten zum Einsatz.
Eine weitere Option auf der Sechserposition wäre Lyons Kapitän Maxime Gonalons, der bei Not auch in der Innenverteidigung aushelfen kann. Der 25-Jährige ist ein solider Mittelfeldmann, der keine signifikanten Schwächen aufweist. Trotzdem stand er für Frankreich zuletzt vor ziemlich genau zwei Jahren auf dem Platz, da es für ihn an der Konkurrenz im Zentrum nie ein Vorbeikommen gab.
Sein Klubkollege Clément Grenier ist eine interessante Option für Didier Deschamps. Grenier hat seine Stärken im Offensivspiel, schießt gerne und gut aus der Distanz und ist auch bei ruhenden Bällen eine echte Waffe. Aktuell befindet sich der fünffache Teamspieler nach einer Leistenoperation im Aufbautraining.
Technik und Dynamik an den Flügelpositionen
Nach dem Rücktritt von Bayern-Star Franck Ribéry aus der Nationalelf ist die Aufgabenverteilung im französischen Team auf mehreren Schultern verteilt – so auch an den Flügelpositionen. Ribérys Platz nimmt nun der 23 Jahre junge Antoine Griezmann ein. Vergangene Saison spielte der Linksaußen bei Real Sociedad bereits groß auf, Atlético Madrid sicherte sich im Sommer seine Dienste. Oft spielt Griezmann im Verein auf der „falschen“ Seite, um nach innen ziehen zu können und mit seinem stärkeren linken Fuß den Abschluss zu suchen. In der Offensive kann der Youngster jede Position bekleiden und ist ob seiner Schusskraft auch eine Gefahr bei Standards.
Auf der rechten Offensivseite Frankreichs wirbelt Matthieu Valbuena, der lediglich 1,67 groß und 58 Kilo schwer ist. Nach acht Jahren bei Olympique Marseille wechselte Valbuena heuer nach Russland zu Dinamo Moskau. Dort soll der 42-fache Nationalspieler seine Stärken wie Schnittstellenpässe und Tempodribblings zur Geltung bringen. Defizite weist der Legionär logischerweise im Luftkampf aus, daher ist er bei Frankreich auch für die Ausführung der Ecken und Freistöße zuständig.
Valbuenas erster Backup ist mit Dimitri Payet sein ehemaliger Teamkollege bei Marseille. Auch sonst haben die beiden durchaus Ähnlichkeiten in ihrem Spiel, Payet ist ebenso stark bei ruhenden Bällen. Darüber hinaus sucht der beidfüßige 27-Jährige oft das Eins-gegen-eins-Duell und schlägt viele Flanken in den Strafraum.
Erstmals 2014 im Teamkader dabei war Newcastle-Legionär Rémy Cabella. Der auf beiden Außenpositionen einsetzbare Flügelflitzer hält bislang bei vier Länderspielen, hat es jedoch schwer, seine Konkurrenten zu verdrängen. Von der Spielanlage her ist Cabella mit Valbuena und Payet zu vergleichen, jedoch fehlt im noch die Erfahrung auf internationaler Ebene. Zudem verzettelt er sich im Spiel nach vorne immer wieder, verliert dadurch wichtige Bälle.
Qual der Wahl im Sturmzentrum
Im Angriff der Franzosen tummeln sich jede Menge toller Stürmer, einer scheint gegenüber seinen Konkurrenten jedoch die Nase vorn zu haben. Dem Fußballinteressierten muss man Karim Benzema vermutlich nicht mehr näher vorstellen, dennoch war der Real-Madrid-Angreifer im Nationalteam nicht immer unumstritten. Für die Madrilenen erzielte der Franco-Algerier in 165 Ligaspielen beachtliche 75 Tore, im Nationalteam hält er bei 25 Treffern in 74 Einsätzen. Bei diesen Quoten vergisst man schnell, dass Benzema erst 26 Jahre alt und dennoch schon ein kompletter Torjäger ist. Sein größtes Plus ist, dass er sowohl mit rechts als auch mit links den Abschluss sucht, kombinationssicher ist und mannschaftsdienlich spielt.
Mit Arsenal-Goalgetter Olivier Giroud hat Benzema einen ausgezeichneten Ersatzmann. Zwar ist Giroud bei Weitem nicht so torgefährlich, mit seinen Qualitäten kann er trotzdem überzeugen. Er läuft viel, weicht auch zur Seite aus und beteiligt sich an der Defensivarbeit. Bei der WM in Brasilien spielte er meistens auf dem linken Flügel, teilte sich das Sturmzentrum aber gut mit Benzema auf. Mit 1,92 Metern beherrscht Giroud den Luftraum und kommt so häufig per Kopf zu Torchancen. In 35 Länderspielen netzte er bislang neun Mal, zurzeit laboriert Giroud an einer Knöchelverletzung.
Immer für Treffer gut ist auch Loic Rémy, der seit dieser Saison beim FC Chelsea sein Geld verdient. Der 27-Jährige kommt in der Nationalmannschaft zumeist nur zu Kurzeinsätzen, da er mit seiner Schnelligkeit gegen Ende einer Partie für Gefahr sorgen soll. Für Frankreich hat Rémy bei 30 Auftritten sieben Treffer erzielt. Der ehemalige Marseille-Akteur kann offensiv auf beiden Außenbahnen oder als alleinige Solospitze spielen – falls Frankreich auf Konter spielt ist er sicherlich eine gute Wahl.
In bestechender Form ist momentan Marseille-Angreifer André-Pierre Gignac. Mit neun Treffern in ebenso vielen Spielen führt der 28-Jährige die Torschützenliste der Ligue 1 an. Obwohl Gignac im Passspiel seine Schwächen hat (nur 75 % seiner Pässe kommen an den Mann), gibt er pro Spiel im Schnitt vier Torschüsse ab. Im Nationalteam hat er fünf Tore bei 19 Einsätzen zu Buche stehen. Sollte er seine überragende Quote in der Liga halten können, wäre er auch im Team von Didier Deschamps eine echte Überlegung für die Startelf.
Nicht weniger gut in Verfassung ist auch Lyons Alexandre Lacazette, der in der noch jungen Saison schon sieben Mal ins Schwarze getroffen hat. Lacazette ist ein echter Offensivallrounder, der als guter Finisher gilt – im Nationalteam wartet er noch auf sein Premierentor. Für den 23-Jährigen bleibt angesichts der enormen Konkurrenz auf seiner Position aber wohl nur die Zuschauerrolle bei der EM in zwei Jahren.
Fazit
Frankreichs Kadertiefe kann sich sehen lassen – die meisten Akteure sind in den europäischen Top-Ligen absolute Leistungsträger. Vorbei sind die Zeiten, als die Franzosen von einem Genieblitz à la Ribéry abhängig waren. Interessant ist die Tatsache, dass das Auftreten bei der Weltmeisterschaft in Brasilien der Mannschaft einen Ruck gegeben hat. Man ist ohne Ribéry insbesondere in der Offensive viel schwieriger auszurechnen, Einzelaktionen sind nur mehr ganz selten der Fall. Dazu kommt, dass der Großteil der Spieler zwischen 25 und 30 Jahre alt ist und sich somit im besten Fußballeralter befindet.
Didier Deschamps hat seit seinem Amtsantritt den Fußball vielleicht nicht revolutioniert, dafür einen zerstrittenen Haufen wieder zusammengeschweißt. Sein 4-3-3-System scheint zu funktionieren, Frankreich dominiert in fast jedem Spiel den Gegner. Defensiv stehen sie nicht zuletzt dank einer gut organisierten Viererkette sicher, die drei zentralen Mittelfeldspieler rotieren häufig und sorgen so für wesentlich höheren Spielfluss. Im Angriffsdrittel bieten sich dem Trainer ohnehin jegliche Aufstellungsmöglichkeiten, viele Spieler können auf unterschiedlichen Positionen agieren.
Knapp eineinhalb Jahre vor der Heim-Europameisterschaft scheint der Gastgeber schon gut in Form zu sein. Allein im Kalenderjahr 2014 gewann Frankreich neun von dreizehn Länderspielen, die einzige Niederlage setzte es im WM-Viertelfinale gegen den späteren Weltmeister Deutschland. In dieser Form ist mit den Franzosen bei der EM 2016 definitiv zu rechnen.
Martin Roithner, www.abseits.at
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