Wie stark ist Martin Ödegaard wirklich? Von Rechercheproblemen und Artikeln, die sicher nicht Unrecht haben
Weitere Länder 27.Dezember.2014 Rene Maric 1
Der Norweger Martin Ödegaard gilt als das am heißesten diskutierte und gefragteste Talent der Welt. Seit Wochen tourt er durch Europa, trainiert bei Mannschaften wie FC Barcelona und FC Bayern mit, wo er Berichten zufolge bislang sämtlichen Trainern und Managern den Kopf verdrehen konnte. Vermutlich ist in der Geschichte des Fußballs nie ein 15-Jähriger auf dem Markt so gefragt und in den Medien so gehyped gewesen. Insbesondere Letztere haben sich in die Diskussionen um Ödegaards kommenden Vereinswechsel eingeschaltet, doch offenbaren dabei einige Probleme.
Jonathan Wilson als Paradebeispiel
Der legendäre Fußballhistoriker und Taktikjournalist Jonathan Wilson schrieb letztens einen Artikel im Guardian über Martin Ödegaard. Das Problem dabei: Eigentlich schreibt Wilson nicht über Ödegaard. Zu Ödegaard finden sich ein paar Information über seine Familie und seine Spielweise, die auf Hörensagen basieren. Wilson schreibt vorrangig darüber, wie junge Talente generell durch eine Vielzahl von Dingen negativ beeinflusst werden können, insbesondere durch Vereinswechsel in ihrer fußballerischen Entwicklung. Zur Untermauerung dieser These werden keine quantitativen statistischen Studien verwendet, sondern zwei Anekdoten.
Eine – die den positiven Verlauf schildert – ist die Geschichte Lionel Messis, der bereits mit 17 beim FC Barcelona debütierte und bald zum Stammspieler wurde. Das Negativbeispiel ist Nii Lamptey, Jugendweltmeister in den frühen 90ern, der daraufhin nach Europa wechselte und dort weitestgehend scheiterte. Auch Freddy Adu wird als weiteres gescheitertes Supertalent erwähnt.
Liest man den Artikel, scheint die Argumentation und die Hypothese Wilsons schlüssig. Zumindest so lange, bis man merkt, dass es eigentlich keine gibt. Wilson geht nämlich davon aus, dass alles passieren kann. Er kann scheitern oder nicht, Ödegaard wirkt einerseits sympathisch und bescheiden, andererseits scheint er auf einer „Marketingtour“ zu sein, so Wilson. Doch sogar diese Stellungnahmen werden relativiert, wodurch Wilson schlichtweg nicht Unrecht haben kann – sämtliche Möglichkeiten ließ er sich offen. Aber wer nicht Unrecht haben kann, der kann auch nicht Recht haben.
Hypothesen müssen falsifizierbar sein
Ein großes Problem in der Entwicklung von Talenten und beim Scouting von Spielern ist, dass viele bei der Bewertung so extrem vorsichtig sind wie Jonathan Wilson. Wenn sämtliche Szenarien bedacht und offengelassen werden, so kann ein mögliches Scheitern ebenso wie der potenzielle Erfolg durch die unklaren Definitionen auf zahlreiche Ursachen zurückgeführt werden. Das Problem ist aber, dass diese häufig absolut nichts mit der Realität zu tun haben.
Junge Fußballer scheitern nur in den seltensten Fällen, weil ihre Eltern sich scheiden ließen oder sie in das falsche Land wechselten. Junge Fußballer scheitern, weil sie nicht gut genug sind, der Trainer sie taktisch nicht passend einbaut oder sie Verletzungspech haben. Es sind diese Faktoren, die einen Großteil der gescheiterten Jungstars ausmachen. Nii Lamptey lebte zum Beispiel im Vergleich mit Gleichaltrigen in der Jugend von seiner Physis und von der Ausrichtung einer guten Mannschaft auf ihn. Bei Adu halten sich die Gerüchte, er sei schlichtweg älter als auf seinem Ausweis steht. Zudem spielte Adu in einer damaligen Operettenliga, der noch jungen MLS, welche unbedingt einen neuen Star brauchte.
Soll heißen: Beide scheiterten nicht an irgendwelchen externen Umständen, sie waren schlichtweg nicht gut genug für jene Vereine, zu denen sie letztlich wechselten. Zwei Granden der Geschichte des Fußballs zeigten hingegen das Gegenteil.
Qualität setzt sich durch
Pelé wurde ähnlich wie Ödegaard mit 16 Jahren bei den Profis eingesetzt, wurde noch vor seinem 17. Geburtstag Stammspieler in der stärksten Regionalliga Brasiliens und Torschützenkönig beim FC Santos. Zur Weltmeisterschaft 1958 fuhr der 17-jährige Pelé als Meister des Campeonato Paulista, 58 Tore hatte er erzielt – bis heute Rekord. Nicht für einen 17-Jährigen, sondern insgesamt. Beinahe hätte er die Weltmeisterschaft 1958 verpasst, weil Brasiliens Psychologe ihn als zu kindisch und ohne den nötigen Kampfgeist einstufte.
Diego Maradona ist ein noch extremeres Beispiel. Er debütierte mit 15 Jahren bei den Argentinos Juniors, in den folgenden fünf Jahren erzielte er in der damals zweigeteilten ersten argentinischen Liga in 167 Partien 115 Tore als falsche Neun. Mit 17, 18 und 19 Jahren wurde er dreimal hintereinander Torschützenkönig der „Metropolitano“-Hälfte der ersten Liga; ein einmaliger Rekord. Dennoch hatte Maradona Zeit seines Lebens und seiner Karriere immer wieder Disziplin-, Fitness- und Drogenprobleme.
Diese zwei Spieler zeigen, was eben wirklich wichtig ist – die richtige Einbindung durch den Trainer und Qualität. Dennoch ist es ebenso wie bei Lamptey und Adu unpassend, diese beiden historischen Spieler als Vergleich für Ödegaard zu nutzen.
Die Individualität des Spielers betonen
Natürlich spielt die Mentalität eines Spielers eine Rolle für den Erfolg, insbesondere im heutigen Fußball. Doch sie macht ab einer gewissen Stufe eher kleinere Schwankungen in einem bestimmten Rahmen aus und nicht den Erfolg als solchen. Das heißt letztlich, dass Ödegaard schlichtweg nicht so gut und stark für sein Alter wäre, wenn es ihm am nötigen Ehrgeiz mangeln würde – und es bedeutet, dass es in seiner weiteren Entwicklung noch kleinere Bedenken geben könnte, wie gut er wird.
Bei Ödegaard muss man aber berücksichtigen, dass er sehr gut für einen 15-Jährigen ist. Wäre er bereits 25, wäre er trotzdem „sehr gut“ und wohl internationale Klasse. Deswegen ist er eben nicht mit Adu oder Lamptey zu vergleichen, sondern mit Messi, Maradona und Pelé. Ob er ganz so stark werden kann wie diese, ist fraglich, aber es gab in der Geschichte des Fußballs wohl nicht einmal eine Handvoll Fußballer, die in jungen Jahren bereits dermaßen stark waren und es letztlich nicht ganz nach oben geschafft haben.
Die Kritik an einem zu frühen Wechsel ins Ausland weg von seiner Heimat Norwegen oder zu einem Topklub berücksichtigt somit Ödegaards Individualität nicht. Im Gegensatz zu den Lampteys und Adus dieser Welt würde es Ödegaards Entwicklung nicht fördern, sondern hindern, wenn er in Norwegen bleibt. Der fünfzehnjährige Ödegaard ist nämlich – wie abstrus es auch klingen mag – schon der oder einer der besten Spieler der gesamten Liga. Ein deutlich höheres Trainingsniveau und vereinzelte Einsätze bei einem Topklub oder zumindest ein Stammplatz bei einem Fast-Topklub wie Ajax, Valencia oder Napoli wären passend für seine Entwicklung.
Wieso wird Ödegaard aber nicht von den Medien so eingeschätzt?
Hörensagen statt Recherche
Die Erklärung ist eine einfache: Die Leute blicken auf die (vermeintlichen) Fakten, sehen eine schwache Liga und „15“ beziehungsweise seit ein paar Tagen „16“ beim Alter und gehen davon aus, Ödegaard…
- kann nicht so gut sein.
- muss von den Medien überschätzt sein.
- wäre in einer anderen Liga nicht ansatzweise so gut.
Zur Untermauerung nutzen sie dann frühere, aber unpassende Beispiele. Wer Ödegaard aber häufiger und seine Einsatzzeiten in voller Länge beobachtet hat, erkennt einen unglaublich talentierten jungen Spieler. Das Supertalent ist dynamisch, extrem spielintelligent, bissig im Zweikampf, hat eine sehr saubere Technik sowohl unter Druck, im Dribbling, im Sprint und bei der Ballannahme, ist sehr kombinationsorientiert und hat an sich eigentlich keine wirkliche Schwäche.
Einzig sein Spielstil könnte für Probleme bei einem Wechsel sorgen, wenn seine Fähigkeiten limitiert oder falsch eingebaut werden. Interessanterweise sind es aber Topmannschaften mit mehr Ballbesitz, mehr Kombinationen und saubererem Bewegungsspiel, welche besser zu seinem Spielstil passen.
Berücksichtigt man Ödegaards Eigenheiten, dann muss ihm also wirklich zu einem Topteam mit gutem Trainer raten, anstatt zum „Abwarten und Entwickeln in der heimischen Liga oder bei einem schwächeren Team“, wie der mediale Konsens zurzeit zu lauten scheint. Und eventuell sollte man auch bei anderen Talenten deren Individualität, besonders bei der Qualität und Spielweise, stärker berücksichtigen.
Rene Maric, abseits.at
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