Jeden Sonntag wollen wir in dieser neuen Serie einen Blick in die Vergangenheit werfen: Wir spielen sozusagen einen Zuckerpass in den Rückraum und widmen... Wiederholung in Zeitlupe (13) –  Jahrhundertspiel?! (KW 24)

Jeden Sonntag wollen wir in dieser neuen Serie einen Blick in die Vergangenheit werfen: Wir spielen sozusagen einen Zuckerpass in den Rückraum und widmen uns kurz und bündig legendären Toren, Spielen, Fußballpersönlichkeiten, Ereignissen auf oder neben dem Platz und vielem mehr. Wir wollen Momente, Begebenheiten, Biografien im Stile von Zeitlupenwiederholungen aus dem TV nochmals Revue passieren lassen. Gedanken machen wir uns dabei über Vergangenes, das in der abgelaufenen Kalenderwoche stattgefunden hat. Heute erinnern wir an das Halbfinale der Fußball-Weltmeisterschaft 1970, das als Jahrhundertspiel gilt…

Drama in Mexiko-Stadt

Legendäre Fußballspiele gibt es zuhauf: Córdoba 1978, „Das Wunder von Bern“, Dortmund gegen Real 2013, das WM-Finale 1966 und wie sie alle heißen. Das Semifinale der WM-Endrunde 1970 in Mexiko gehört eigentlich auch dazu: Italien besiegte Deutschland in einer Hitzeschlacht nach hollywoodreifem Drehbuch mit 4:3.

Als der amtierende Europameister und der aktuelle Welt-Vizemeister am 17. Juni im Aztekenstadion aufeinandertrafen, war alles für ein Fußballfest angerichtet. Es herrschte brütende Hitze, über 100 000 Zuschauer fieberten der Partie entgegen und sollte nicht enttäuscht werden. Mazzola, Riva und Co. gingen in der 7. Minute in Führung, die Deutschen drängten postwendend auf den Ausgleich, doch mit einem 0:1 aus ihrer Sicht sollte es in die Pause gehen. Nach Wiederanpfiff scheiterten Overath und Seeler, Beckenbauer wurde im Strafraum gefoult, es gab aber nur Freistoß und selbst als der italienische Keeper Grabowski anschoss, kullerte der Ball nicht über die Linie. Es schien verhext zu sein. Erst in den letzten Sekunden der Nachspielzeit hatte der Fußballgott ein Einsehen: Karl-Heinz Schnellinger verwertete eine Flanke des Frankfurters Grabowski zum 1:1. Die Deutschen konnten es nicht glauben, noch weniger aber die Azzurri. Das Stadion tobte. Die Verlängerung wurde angepfiffen und plötzlich machte das DFB-Team, das zuvor sämtliche Hochkaräter einfach liegen gelassen hatte, aus keiner Chance ein Tor: Gerd Müller nudelte den Ball nach der Brustabnahme von Italiens Nummer 4 irgendwie ins Netz. Die Elf von Trainer Helmut Schön sah jetzt wie der sicherer Sieger aus. Doch nur vier Minuten später bekamen sie ein ebenso unglückliches Tor zum Ausgleich: Es war ein schöner Heber, den Libero Tarcisio Burgnich von einem Deutschen genau vor den Fuß serviert bekam. Der Schlagabtausch ging weiter und nach einem Konter hieß es 3:2 für Italien. Wer dachte, die Deutschen würden aufgeben, kannte die Mannschaft unsrer Nachbarn aber schlecht: Der mit einer Schulterverletzung angeschlagene „Kaiser“ versuchte es sogar aus der Distanz. Mittlerweile war die 110. Minute angebrochen und Gerd Müller verlängerte einen Kopfball zum erneuten Ausgleich. 3:3 – unglaublich. Nach seinem zehnten Turniertor pumpte Deutschlands Nummer 13 mit den Fäusten mehrmals Richtung Fans in die Luft, doch das Match sollte eine erneute Wendung nehmen: Der eingewechselte Gianni Rivera machte nicht nur das schönste, sondern das entscheidende Tor an diesem Frühsommertag: Die Vereinslegende des AC Milan verwandelte auf Höhe des Elfmeterpunktes einen Stanglpass von Boninsegna, der sich gegen Willi Schulz durchsetzen konnte. Kurz darauf erfolgt in sengender Hitze endlich der erlösende Schlusspfiff.

Die Deutschen waren am Boden zerstört, die Italiener jubelten, die Zuschauer applaudieren stehend. Tormann Sepp Maier schwor niemals wieder Spaghetti oder Pizza zu essen, Berti Vogts weint im Bus. Die ganze Kraftanstrengung war – aus Sicht unsrer nördlichen Nachbarn – für die Fisch‘ gewesen. Maier war es, der das Match ob seiner Dramatik „Spiel des Jahrhunderts“ taufte, die Mexikaner huldigten den beiden Teams mit einer Gedenktafel am Aztekenstadion. Doch warum ist das Spiel vom 17. Juni 1970 im kollektiven Weltfußballgedächtnis nicht so parat platziert wie anfangs zitierte Matches?

Vielleicht weil es nach dem endgültigen Schlusspfiff – dem Ende des WM-Finales – kein Happy End für den Halbfinalisten Italien gab: Nach dem Kraftakt gegen die DFB-Elf wurde die Squadra Azzurra mit 1:4 von Pelés Brasilianern überrollt, die sich somit zum Weltmeister krönten. Das „Spiel des Jahrhunderts“ brachte demnach nichts Zählbares. Berühmte Fußballmatches leben in der Erinnerung aber nur dann fort, wenn es am Ende einen Pokal gegeben hat. Wäre Deutschland nach der Demütigung der Seleção bei der Heim-Endrunde beispielsweise doch nicht Weltmeister geworden, wäre Mineiraço „nur“ ein peinlicher Meilenstein der nationalen brasilianischen Fußballhistorie – vergleichbar mit Österreichs 0:9 gegen Spanien – und nicht ein erster Prä-Höhepunkt vor dem Erreichen des 4. Sterns. So bleibt das „Jahrhundertspiel“ in mexikanischer Gluthitze Zeitzeugen in bleibender Erinnerung, sportlich ist der Wert – abgesehen von der Botschaft, dass man nie aufstecken sollte – aber bescheiden.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag