Am vorletzten Tag der Begegnungen im Achtelfinale trafen die Japaner auf den großen WM-Mitfavoriten Belgien und wollten für eine weitere Überraschung in diesem Turnier... Analyse: Wie Japans Defensivkonzept beinahe Belgien ausschaltete

Am vorletzten Tag der Begegnungen im Achtelfinale trafen die Japaner auf den großen WM-Mitfavoriten Belgien und wollten für eine weitere Überraschung in diesem Turnier sorgen. Doch einfach sollte das nicht werden, denn die Belgier brennen unter dem neuen Coach Martinez regelmäßig ein Offensivfeuerwerk ab und konnten in diesem Turnier auch bei ihren bisherigen Auftritten überzeugen. Die Japaner hingegen profitierten von der eigenartigen Fairplay-Wertung, dank der sie das Ticket für das Achtelfinale erhielten. Also mussten die Asiaten nun beweisen, dass sie diesen Platz auch sportlich verdienten und zurecht den Aufstieg schafften.

Deckungsschatten legt belgisches Zentrum lahm

Die Belgier treten unter Trainer Roberto Martinez in einem offensiven 3-4-3 System auf und überzeugten bislang vor allem mit ihrer guten Struktur, wodurch die Stärken der Mannschaft gut zur Geltung kamen. Das Prunkstück ist dabei ganz klar die Offensive mit individuellen Qualitätsspielern wie De Bruyne, Hazard, Mertens oder Lukaku, die von zwei offensivstarken Flügeln Meunier und Carrasco flankiert werden. Auch gegen Japan änderte sich daran wenig, wobei die Spielanalage zunächst etwas konservativer war. Man ließ die Japaner zunächst kommen und verlegte die Pressinglinie in die eigene Hälfte, um zu sehen, was die Japaner so anzubieten hatten. Nach rund zehn bis fünfzehn Minuten schaltete man jedoch in den bekannten Modus und versuchte die Kontrolle über das Spiel an sich zu reißen. Die beiden Flügelverteidiger rückten dabei extrem weit auf und standen oft auf einer Höhe (!) mit Stürmer Lukaku, wodurch die Formation im Ballbesitz teilweise zu einem 3-2-5 wurde. Das ermöglicht es Belgien viel Breite und Tiefe in ihrem Spiel zu haben, während man auch im Zentrum ausreichend Präsenz hat und sehr variabel dadurch agiert. Überraschend stabil wirkt das Ganze auch nach Ballverlust, denn die Belgier betreiben allgemein ein gutes Gegenpressing, was sich auch in diesem Spiel immer wieder zeigte. Nach der Anfangsphase, in der Japan eben noch längere Ballbesitzphasen verbuchte, übernahmen die Belgier endgültig die Kontrolle, kamen auf über 60 Prozent Ballbesitz und die Asiaten mussten sich vordergründig auf das Spiel gegen den Ball konzentrieren.

Doch auch wenn die Belgier auf viel Ballbesitz kamen, so richtig rund lief das Werk und Offensivspiel nicht. Das lag vor allem daran, dass die Japaner ein ausgeklügeltes Defensivkonzept an den Tag legten, mit dem sie viel Sand in das Getriebe des Gegners schütteten. Die Asiaten liefen gegen den Ball in einem 4-4-2, mit klarem Fokus auf die Unterbindung des geordneten Spielaufbaus des Gegners. Um dies zu bewerkstelligen, spielten die beiden Stürmer Kagawa und Osako im Verbund mit den beiden Sechsern Hasebe und Shibasaki eine entscheidende Rolle. Gegen eine Dreierkette im Aufbau zu verteidigen ist an und für sich gar nicht so einfach. Stellt man sie mit drei Mann zu? Dann könnten Lücken im Mittelfeld entstehen. Läuft man sie nur zu zweit an? Dann könnte man gegen die drei Innenverteidiger in Unterzahl geraten und es bedeutet viel Laufarbeit für die beiden Stürmer. Die Japaner entschieden sich bei ihrem 4-4-2 zu bleiben und versuchten, die Unterzahl nicht relevant zu machen. Dies bewerkstelligte man dadurch, dass die beiden Stürmer den ballführenden Verteidigern den Passweg ins Zentrum verstellen und mit ihrem Deckungsschatten arbeiten sollten, um eben Zuspiele durch diese Region zu verhindern, wobei sich Kagawa noch mehr an den Gegenspielern bzw. den beiden Sechsern in der Umgebung orientierte. Dabei wurde das 4-4-2 auch mal zu einem asymmetrischen 4-3-3, indem speziell Flügelspieler Haraguchi auf Halbverteidiger Vertonghen herausrückte, sobald dieser angespielt wurde, um ihn zu stellen.

Doch dabei blieb es nicht, denn auch die beiden zentralen Mittelfeldspieler spielten eine wichtige Rolle. Sie sollten die ballnahen Spieler in Manndeckung nehmen und sich speziell an Witsel & De Bruyne oder einem einrückenden Flügel orientieren, vor allem sobald sie sich aus dem Deckungsschatten heraus bewegten und anspielbar wurden. Dies bedeutete viel Laufarbeit und gute Orientierung für die beiden Sechser, denn sie mussten eben auch einrückende Bewegungen von Hazard oder Mertens antizipieren. Das Ganze sah dann ungefähr so aus:

Belgien im Spielaufbau, Kompany am Ball, Osako vor ihm verdeckt den vertikalen Passweg ins Zentrum mit seinem Deckungsschatten. Ein Sechser rückt auf Witsel heraus (mittlerer schwarzer Streifen), Kagawa orientiert sich an De Bruyne (rechter Streifen), Haraguchi wie erwähnt an Vertonghen (linker Streifen) und Hasebe markiert Mertens (oberer Streifen). Dadurch ist nur noch der andere Halbverteidiger Alderweireld frei, dessen Passoptionen allerdings in weiterer Folge ebenfalls zugestellt werden.

Durch das Zustellen der Japaner blieb zwar meist ein Halbverteidiger anspielbar, jedoch wurden die Passoptionen nach vorne zugestellt, weshalb sehr viel quer und breit, dafür wenig vertikal und diagonal gespielt werden konnte. Die Belgier mussten sich also etwas einfallen lassen. Die beiden zentralen Mittelfeldspieler Witsel und De Bruyne versuchten mit Fortdauer vermehrt auf die Seiten und die Halbräume auszuweichen, um sich aus dem Deckungsschatten zu bewegen. Vor allem die linke Seite sollte als Überladungszone genutzt werden, um sich nach vorne zu kombinieren, indem Sechser De Bruyne hinausrückte, um mit Carrasco & Hazard ein Dreieck zu bilden. Das Problem dabei, auch den Japanern blieb nicht verborgen, dass die Belgier gerne über die linke Seite das Spiel aufbauen. Sie konterten die Überladungsversuche einfach mit einer rautenförmigen Anordnung und verschoben ebenfalls verstärkt in diese Region, um die Belgier zuzustellen.

Belgien mit dem Versuch die linke Seite mit De Bruyne, Carrasco und Hazard zu überladen. Japan kontert den Versuch mit vier Spielern, die eine Raute bilden und den Raum Zustellen.

Der Weg ins Zentrum verschlossen, die linke Seite dicht, bleibt also nur noch die rechte Seite. Das Problem dabei, die Belgier interessierte die rechte Seite so gar nicht. Meunier stand bereits im Spielaufbau sehr hoch, Mertens ebenfalls, rückte aber mehr ins Zentrum und Alderweireld schob dafür als Halbverteidiger relativ weit raus. Durch die mangelnden Verbindungen auf rechts reichten den Japanern ein zustellen mit drei Mann, um die Belgier auch von da nicht nach vorne kommen zu lassen. Sechser Witsel erkannte die Problematik und versuchte wie bereits erwähnt im Laufe der ersten Halbzeit auf die rechte Seite herauszukippen, um den Spielaufbau von dort aus anzukurbeln. Dies wurde jedoch nicht passend eingebunden und so wurde aus einer Dreier- eine Viererkette kurzzeitig, Verbindungen nach vorne gab es allerdings nach wie vor nicht. Dadurch kam das geordnete Aufbauspiel der Belgier de facto zum Erliegen und nur vereinzelt gelang es, sich aus der Umklammerung und dem japanischen Block zu befreien. Die Japaner verteidigten äußerst diszipliniert und laufintensiv, es beteiligten sich selbst in tieferen Zonen beinahe alle Spieler an der Arbeit gegen den Ball, ausgenommen Osako, der als Stürmer und Anspielstation nach Ballgewinn fungieren sollte, um die Bälle zu sichern und abzulegen. So ging es mit einem torlosen Remis in die Halbzeitpause.

Martinez nimmt Anpassungen vor, Japan schlägt eiskalt zu

Der Trainer der Belgier war jetzt natürlich gefragt, Lösungen für die Probleme im Spielaufbau zu finden und die Defensivstrategie des Gegners zu knacken. Doch bevor überhaupt irgendwelche Veränderungen sichtbar werden konnten, schlugen plötzlich die Japaner zu. Nach einem Ballverlust in der gegnerischen Hälfte orientierte sich De Bruyne an dem falschen Gegenspieler, weshalb Shibasaki alle Zeit der Welt für einen Schnittstellenpass auf Haraguchi hatte, der durchbrechen konnte und mit einem schönen  Abschluss neben die Stange die Japaner überraschend in Führung brachte.

Jetzt waren die Belgier natürlich noch mehr unter Zugzwang und brauchten so schnell wie möglich passende Lösungen. Trainer Martinez zeigte dahingehend auch sein Gutes In-Game-Coaching, indem er eine interessante Adaption vornahm. Er erkannte, dass sich die Japaner massiv auf das Zentrum und die linke Seite fokussierten und sich dadurch Räume und Möglichkeiten auf rechts auftaten. So passte er die Rolle von Meunier an, der im Spielaufbau nicht mehr so extrem weit aufrückte an, wies Witsel an gezielt nach rechts hinter Meunier abzukippen und Mertens sollte ebenfalls stärker auf die Außen ausweichen und Kontakt halten, aber auch speziell die Tiefe hinter dem Außenverteidiger attackieren. Diese Anpassungen zündeten sofort und hatten einen wunderschönen Spielzug zur Folge, der zu dem Stangenschuss von Hazard direkt nach dem Rückstand führte. Den Ausgangspunkt dafür zeigt das nächste Bild schön auf:

Szene vor dem Stangenschuss von Hazard, Witsel kippt nach rechts ab, Kagawa orientiert sich ins Zentrum und nimmt De Bruyne in den Deckungsschatten, weshalb die Belgier auf rechts eine Drei vs. Zwei Überzahlsituation haben. Der Linksverteidiger Nagatomo hat also de facto zwei Gegenspieler, RV Meunier wird angespielt, Mertens sprintet in die Tiefe (gelber Pfeil) in den Rücken von Nagatomo und legt danach auf Hazard ab, der den Pfosten trifft.

Nachdem es so schien, als würden die Anpassungen von Roberto Martinez zünden, legte Japan einen weiteren Treffer nach und schlug erneut eiskalt zu. Dabei offenbarte sich erneut die Problematik mit der Position von Kevin De Bruyne, der bei Belgien wesentlich tiefer zum Einsatz kommt, als es bei City der Fall ist. Beim ersten Treffer verhielt er sich bereits falsch nach dem Ballverlust, und beim zweiten Treffer trabte (!) er gemütlich herum und ließ Witsel in Stich, weshalb Inui vollkommen frei zum Abschluss kam und den Ball perfekt ins lange Eck nagelte. So waren die Belgier plötzlich 0:2 in Rückstand und wussten gar nicht, wie ihnen geschieht. Der Trainer der Belgier reagierte jetzt auch personeller Natur und brachte Chadli und den großgewachsenen Fellaini, wodurch das System zu einer 3-5-2/4-1-4-1 Mischformation wurde, indem Hazard ins Zentrum rückte und die Flügel von Meunier und Chadli bearbeitet wurden, während De Bruyne als Freigeist agierte und Fellaini mit seiner Physis aus der Etappe in den Strafraum stoßen sollte.

Durch das erhöhte Risiko verlagerten die Belgier das Spiel zunehmend in die Hälfte der Japaner, wobei man dank der Anpassung vor allem über die rechte Seite immer wieder nach vorne kam und den Gegner so nach hinten drückte. Die Belgier versuchten vermehrt ihre überlegene Physis auszuspielen und bombardierten regelrecht den Strafraum des Gegners mit Flanken (weshalb die Statistik dahingehend auch mit insgesamt 25 Flanken einen sehr hohen Wert aufwies). Das sollte sich letztlich auch bezahlt machen. Nach einem Eckball traf Vertonghen aus einem nahezu absurden Winkel/Position mit einem Kopfball zum 1:2 Anschlusstreffer und läutete die Drangphase der Belgier endgültig ein. Nur fünf Minuten später schafften die Belgier dann sogar noch den Ausgleich, als Hazard seinen Gegenspieler auf links vernaschte und mit einer butterweichen Flanke den eingewechselten Fellaini bediente, der sich hinaufschraubte und nur noch Danke sagen musste.

Als es ganz so schien, als liefe es auf eine weitere Verlängerung in diesem WM-Achtelfinale zu, schlugen die Belgier quasi in der letzten Sekunde nochmal eiskalt zu. Japan spielte einen Eckball zur Mitte, der von Courtois problemlos abgefangen werden konnte und dieser entschied sich das Spiel sofort wieder schnell zu machen. Dadurch waren sechs Japaner aus dem Spiel, da die Absicherung nur unzureichend vorhanden war und die Belgier über De Bruyne plötzlich eine 5 vs. 4 Überzahlsituation hatten. In weiterer Folge kam der Ball zu Meunier, der zur Mitte flankte und Chadli musste nur noch den Fuß zum viel umjubelten 3:2 Siegestreffer hinhalten. Erwähnt werden sollte allerdings auch noch die wichtige Rolle von Lukaku, der zuerst den Raum für Meunier mit einem tollen Laufweg öffnete, und anschließend den Verteidiger im Strafraum mitzog und den Ball für Chadli durchließ, weshalb dieser vollkommen frei stand. Ohne den Ball zu berühren war Lukaku mit seinen Laufwegen der entscheidende Mann, der diesen Treffer überhaupt erst ermöglichte. Mit diesem Lucky-Punch in letzter Sekunde gewann Belgien letztlich doch noch und holte einen 0:2 Rückstand sensationell auf.

Fazit

Nach einem tollen Achtelfinalspiel steht also mit Belgien ein weiterer WM-Favorit im Achtelfinale. Doch die Belgier mühten sich sichtlich gegen die giftigen und disziplinierten Japaner, die ihre Spieleröffnung lange Zeit de facto zum erliegen brachten. Jedoch zeigte Roberto Martinez seine Qualitäten im In-Game-Coaching, nahm die richtigen Anpassungen vor und wechselte darüber hinaus auch noch die beiden Torschützen ein, womit er sein goldenes Händchen bewies. Trotz der Schwierigkeiten untermauerten die Belgier letztlich ihre Stärke und zeigten, dass sie zurecht zu den Kandidaten auf den WM-Pokal zählen.

Dass die Belgier allerdings solche Schwierigkeiten hatten, hing in aller erster Linie mit dem nahezu perfekten Defensivkonzept der Japaner zusammen. Den Asiaten gelang es das Zentrum der Belgier komplett abzumontieren und sie machten es dadurch dem Gegner unheimlich schwer, geordnet nach vorne zu kommen. Auch in der zweiten Halbzeit blieb man lange Zeit stabil, musste allerdings der unterlegenen Physis letztlich Tribut zollen und fing sich durch zwei Kopfbälle den Ausgleich ein. Mit dem einzig schwerwiegenden Fehler in diesem Spiel und der mangelnden Konterabsicherung nach einem Eckball brachte man sich letztlich um die Verlängerung und die Chance, doch noch ins Viertelfinale einzuziehen. Für die Japaner ist dies natürlich extrem bitter, dennoch können die Asiaten Stolz und mit erhobenem Haupt die Heimreise antreten, denn sie haben dem klaren Favoriten ordentlich Paroli geboten und dem Offensivfeuerwerk der Belgier lange Zeit erfolgreich den Zahn gezogen.

Dalibor Babic, abseits.at

Dalibor Babic

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