Brasilien zieht mit einer glanzlosen, dafür aber mit einer effektiven und stabilen Mannschaftsleistung als Favorit in das Viertelfinale dieser WM ein. Zu Spielbeginn bereite den brasilianischen Ballkünstlern um Superstar Neymar das aggressive mexikanische Pressing noch große Schwierigkeiten, eine Systemumstellung von Tite Mitte der ersten Halbzeit brachte aber Neymar besser ins Spiel und damit in die gesamten brasilianischen Offensivbemühungen mehr Fluss und Durchschlagskraft. Gleichzeitig ließ die Intensität im mexikanischen Pressing nach und sie fanden auch gegen den robusten Abwehrverbund Brasiliens über die gesamte Spielzeit keine konkreten Lösungen, weshalb der Aufstieg Brasiliens trotz einer schwierigen Anfangsphase völlig in Ordnung geht.
Wir schauen uns noch einmal die Strukturen hinter dem aggressiven mexikanischen Pressing an und erklären in diesem Zusammenhang auch, warum die Systemumstellung von Tite auf ein 4-4-2 die richtige Entscheidung war. Zum Schluss ergänzen wir die Analyse noch um eine kurze Erläuterung zum stabilen Defensivspiel der Selecao.
Der brasilianische Coach Tite schickte sein Starensemble auch gegen den gefährlichen Außenseiter aus Mexiko zu Spielbeginn in einer 4-1-4-1 / 4-3-3 Grundordnung auf den Rasen.
Personell verzichtete er noch auf Linksverteidiger Marcelo, für ihn spielte auf der linken Abwehrseite Filipe Luis von Atletico Madrid. Die Viererkette vor Torhüter Alisson komplettierten die beiden Innenverteidiger Miranda und Thiago Silva sowie der rechte Außenverteidiger Fagner.
Den Ankersechser vor der Abwehr gab wie gewohnt Casemiro. Die beiden Achterpositionen im zunächst praktizierten 4-1-4-1 besetzten Paulinho und Coutinho, die breit angelegten Flügelpositionen nahmen Willian auf rechts und Neymar auf dem linken Flügel ein. Im Sturmzentrum bekam erneut Gabriel Jesus von Beginn weg das Vertrauen.
Juan Carlos Osorio sortierte seine Mannschaft ebenfalls in einem 4-1-4-1 und wollte dadurch durch die System-Spiegelung vor allem im Pressing leicht Zuordnung und Zugriff herstellen. Dies gelang auch in der Anfangsphase noch äußerst gut, wie wir sehen werden. Bemerkenswert, dass Edelroutinier Marquez auf der alleinigen Sechserposition in der Startelf stand. Unmittelbar vor ihm positionierten sich die beiden Achter Guardado und Herrera in den offensiven Halbräumen. Carlos Vela und Lozano zogen das Spiel bei eigenem Ballbesitz in die Breite und hielten konsequent ihre Positionen in den jeweiligen Flügelzonen, während Chicharito den umtriebigen Mittelstürmer gab, der vor allem im Spiel gegen den Ball fleißig und dynamisch seine Wege machte.
Mexikanisches Pressing lässt Brasilien schwer ins Spiel kommen
Mexiko war von Beginn an aggressiv und giftig gegen die brasilianische Aufbaustruktur eingestellt. Vermutlich war es in der ersten halbe Stunde sogar das aktivste Angriffspressing das wir bei dieser Weltmeisterschaft bisher gesehen haben, regierten bis zu diesem Zeitpunkt des Turniers doch eher recht passive und vorsichtige Pressingmechanismen und Pressingzonen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch, dass Mexiko eine solche Spielweise nicht gegen irgendeinen Gegner auf den Platz brachte, sondern gegen niemanden geringeren als Brasilien, die dafür bekannt sind, mit ihrer Pressingresistenz und individuellen Qualität gegnerische Drucksituationen und Pressinglinien überspielen zu können.
Die Mexikaner waren aber mit der richtigen Struktur und der notwendigen Intensität ausgestattet, wodurch Brasilien bei eigenem Spielaufbau große Probleme bekam und selten den Ball bzw. den Angriff ruhig in vordere Spielfeldzonen tragen konnte. Mexiko switchte dafür auf ein aggressives 4-3-3. Die beiden Flügelspieler Vela und Lozano schoben in die erste Pressinglinie neben Chicharito vor und attackierten die tief positionierten Außenverteidiger Brasiliens. Chicharito nahm in solchen Situationen die klassische Rolle einer Solospitze im Pressing ein. Er positionierte sich meist zwischen den gegnerischen Innenverteidigern und kippte durch kurze bogenförmige Laufwege die Verbindungen zwischen den zwei Innenverteidigern, wodurch der Spielaufbau auf eine Seite gelenkt werden konnte und die umliegenden Spieler (ballnaher Flügelspieler und Außenverteidiger, ballnaher Achter) ihre Positionen frühzeitig einnehmen konnten.
Die Achter schoben hinter der ersten Pressinglinie gut nach und orientierten sich mannorientiert an den brasilianischen Achtern bzw. an Casemiro. Meistens war es so, dass der ballferne Achter Zugriff auf Casemiro hielt, während der ballnahe Spieler den Achter Brasiliens im defensiven Halbraum eng markierte und dadurch schwer bzw. instabil anspielbar machte. Wichtig bei einer derartigen Herangehensweise war auch, dass die beiden Außenverteidiger dementsprechend aufmerksam mitspielten und den Druck hochhielten, falls die Selecao den Weg über die Flügel wählte. Dafür war die Zuordnung ähnlich klar wie im Zentrum. Die beiden Außenverteidiger gingen mit den breiten Neymar und Willian konsequent mit und hielten sie so an einer ganz kurzen Leine, bei zurückfallenden Bewegungen dieser beiden Akteure waren die Außenverteidiger Mexikos deshalb einige Male tief in der gegnerischen Hälfte zu finden. Aber vor allem Neymar konnte man so sehr gut im Griff behalten. Bei einem Zuspiel auf Neymar deckte ihn Alvarez bereits bei der Ballannahme mit dem Rücken zum Tor sehr eng und konnte so ein Aufdrehen Neymar’s in die Spielrichtung vermeiden. Eigentlich simpel, aber sehr effektiv. Denn so konnte Neymar kein Tempo aufnehmen und mit Speed auf die gegnerischen Abwehrspieler zudribbeln, was bekanntlich zu seinen ganz großen Stärken gehört. Zusätzlich war er durch das Zurückfallen und seine geschlossene Position häufig in „toten“ Räumen zu finden, in denen er leicht isoliert werden konnte und weit weg von den torgefährlichen Zonen war. Tite erkannte diese Konstellation natürlich und stellte nach einer guten halben Stunde dementsprechend um.
In dieser Szene gut zu sehen das Aufrücken der beiden Flügelspieler neben Chicharito, wodurch in der ersten Pressinglinie eine druckvolle 3-4 Situation hergestellt werden konnte (die brasilianischen Außenverteidiger blieben zudem äußerst tief postiert) sowie die klaren Zuordnungen hinter diesen drei Spielern im Zentrum und auf den Flügeln. Dadurch entstand ein 4-3-3 mit klaren Zuordnungen und einer guten Absicherung. Brasilien konnte sich in den ersten 30 Minuten selten spielerisch aus dieser Umklammerung befreien.
Systemumstellung bringt Neymar besser ins Spiel
Wie bereits erwähnt, erkannte Tite die Probleme seiner Mannschaft bei eigenem Spielaufbau natürlich auch und wollte vor allem Neymar in höheren und torgefährlicheren Zonen sehen. Dafür stellt er auf ein 4-4-2 um, Coutinho ging von seiner Achterposition nominell auf den linken Flügel, Neymar konnte so eine Linie nach vorne rücken und sich neben Stürmer Jesus positionieren. Dies hatte in erster Linie den Vorteil, dass er sich so aus der direkten Umklammerung auf dem Flügel etwas befreien konnte und nicht so leicht abgedrängt bzw. isoliert werden konnte. Er wich zwar nach wie vor häufig auf den linken Flügel aus, machte dies aber aus der Bewegung heraus und konnte sich besser in freie Räume hinter Alvarez bewegen, der vorrangig mit Coutinho beschäftig war. In Summe also ein kluger Schachzug von Tite, der dadurch nicht nur Neymar, sondern das gesamte Offensivspiel seiner Mannschaft belebte und auflockerte und so sein Team mehr Präsenz und Durchschlagskraft entwickeln konnte.
Dass Brasilien nach einer halben Stunde etwas besser ins Spiel fand lag nicht allein an dieser Umstellung, etwa zur gleichen Zeit ließ auch die Intensität von Mexiko im Pressing drastisch nach. Zu selten kamen die Spieler mehr in die zuvor geschilderten Positionen und Räume, stattdessen mussten sie sich häufig fallen lassen und in der eigenen Hälfte verteidigen, was aber oftmals improvisiert und nicht gerade harmonisch gewirkt hat. So bekam man immer mehr den Eindruck, dass die Mexikaner zwar im Angriffspressing einen sehr klaren Plan hatten und dementsprechend gut abgestimmt und organisiert wirkten, bei Überspielen der Pressinglinie aber oft die mannschaftliche Geschlossenheit fehlte und Bewegungen unkoordiniert wirkten. So kam Brasilien immer dominanter vor den gegnerischen Sechzehner und der erlösende Führungstreffer lag förmlich in der Luft.
Mexiko beißt sich an brasilianischer Defensivwucht die Zähne aus
Man bringt das zwar aufgrund der fußballerischen Vergangenheit dieses Landes nicht unmittelbar mit Brasilien in Verbindung, deren größtes Plus im weiteren Turnierverlauf könnte aber die defensive Stabilität und Robustheit werden. Dies demonstrierten sie auch im Achtelfinale gegen die ansonsten spiel- und umschaltstarken Mexikaner.
Das Spiel gegen den Ball von Tite wirkt zwar häufig recht unspektakulär und auch oft passiv, dafür ist es in seiner Ordnung sauber und herausragend in der Endverteidigung. Zu Spielbeginn setzte man noch auf das angesprochene 4-1-4-1 mit zwei horizontalen Linien und Casemiro als Stabilisator und Verbindungsmann zwischen diesen beiden Ketten. Aus dem moderatem Mittelfeldpressing heraus waren die Südamerikaner vor allem darauf bedacht, den Mexikanern keine Räume in der eigenen Hälfte zu geben und die gegnerischen Angriffsversuche zu verschleppen und auf die Seite abzudrängen. Neymar scherte aus dem Kollektiv als einziger Akteur ab und zu mal heraus, indem er auf den halblinken mexikanischen Innenverteidiger vorschob und diesen leicht diagonal von hinten unter Druck setzen wollte. Ballgewinne konnten daraus allerdings keine generiert werden, dafür war die Intensität zu gering.
Nach der Umstellung verteidigten das die Brasilianer im 4-4-2 Mantel äußerst souverän und abgeklärt. Die erste Pressingreihe um Neymar und Jesus blockte gut den mexikanischen Sechserraum, dahinter orientierten sich die die beiden Sechser Casemiro und Paulinho zugriffsorientiert an den jeweiligen mexikanischen Achtern. Die entsprechenden Zuordnungen sowohl im Zentrum als auch auf den Flügeln waren dadurch ebenfalls rasch gegeben und die Selecao hatte mit den zu oft unkonkreten Angriffsbemühungen der Mexikaner keine allzu großen Probleme, spätestens bei der Viererkette rund um den beiden Innenverteidigern Thiago Silva und Miranda war Endstation.
Brasilien mit einem 4-4-2 im Mittelfeldpressing, dagegen die Mexikaner mit ihrer 4-1-4-1 Struktur aus dem geordneten Aufbau heraus. Unterm Strich gab es aus mexikanischer Sicht zu wenig raumöffnende und durchschlagskräftige Bewegungen, um die kompakten Brasilianer aus der Balance bringen zu können. Mit dem Versuch von individuellen Aktionen wird man gegen Brasilien meist den Kürzeren ziehen, davon waren aber auf Seiten der Mittelamerikaner zu viele dabei.
Fazit
Brasilien zieht mit einer staubtrockenen Partie ohne Glanz absolut verdient ins Viertelfinale ein. Nur in den ersten 30 Minuten hatten sie mit dem aggressiven Angriffspressing von Mexiko Probleme, danach kontrollierten sie aber die Partie und waren nach dem 1:0 in einer offenen Begegnung (Mexiko musste logischerweise mehr riskieren) dank ihrer individuellen Qualitäten die torgefährlichere Mannschaft. Das Pressing von Mexiko war wirklich stark und mutig, allerdings fehlte ihnen in den anderen Spielphasen häufig die Überzeugung und letztlich auch die Qualität, um den WM-Favoriten ins Wanken bringen zu können. Auf alle Fußballfans wartet nun im Viertelfinale mit Brasilien gegen Belgien ein echter Leckerbissen, der auch taktisch einiges hergeben dürfte.
Sebastian Ungerank, abseits.at
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