Die Belgier wurden bei den vergangenen Großereignissen mit ihrer „goldenen Generation“ häufig als Geheimfavorit gehandelt, genauso häufig mussten sie dann aber auch wieder enttäuscht... WM-Analyse Belgien: Das Top-Team hat nun endlich einen Top-Trainer

Die Belgier wurden bei den vergangenen Großereignissen mit ihrer „goldenen Generation“ häufig als Geheimfavorit gehandelt, genauso häufig mussten sie dann aber auch wieder enttäuscht vorzeitig die Heimreise antreten. Seit der Europameisterschaft vor zwei Jahren in Frankreich ist aber viel passiert bei den Roten Teufeln. Der Verband trennte sich von Trainer Marc Wilmots, der es vor allem aufgrund taktischer Mängel nicht verstanden hat, das überdurchschnittliche Potential der vorhandenen Spieler auf den Platz zu bringen und in eine Einheit zu gießen. Unter dem neuen Coach Roberto Martinez, vorher Trainer von Everton, wurde vor allem das eigene Ballbesitzspiel wesentlich verbessert und die individuellen Stärken der Spieler besser in das Mannschaftsgefüge integriert. Die Qualifikation zur WM war schon einmal ziemlich beeindruckend: Ohne Niederlage und mit einem Torverhältnis von +37 marschierten sie durch die Quali, dabei wurden 28 von 30 möglichen Punkten eingefahren.

Diese starke Serie konnten sie auch in den Testspielen des heurigen Jahrs prolongieren. In vier Partien gab es drei Siege und ein Unentschieden. Gegen Saudi Arabien, Ägypten und Costa Rica setzten sich die Belgier jeweils klar durch, gegen den amtierenden Europameister Portugal erzielte man ein 0:0-Unentschieden. Die klaren Siege gegen qualitativ schwächer einzustufende Gegner sind auch Ausdruck dessen, dass Martinez das Aufbau- und Ballbesitzspiel aufgegriffen und wesentlich verbessert hat und sie dadurch in der Lage sind, unterlegene Gegner besser und wirkungsvoller bespielen zu können.

Hochklassige Torhüter im Aufgebot

Auf der Torhüterpositionen sind die Belgier wirklich sehr gut besetzt. Thibaut Courtois vom FC Chelsea wird als Einser-Goalie ins Turnier gehen. Der etwas schlaksig wirkende Rückhalt ist ein äußerst kompletter Torhüter ohne wirklichen Schwächen. Er ist gut auf der Linie, verkürzt beim Herauslaufen die Winkel sehr geschickt und ist auch fußballerisch grundsolide ausgestattet. Dahinter stehen mit Simon Mignolet vom FC Liverpool und Koen Casteels vom VfL Wolfsburg zwei Keeper parat, die viele andere Länder gerne als Nummer Eins im Aufgebot hätten.

Eingespielte und robuste Dreierkette in der Abwehr

Roberto Martinez hat das Spiel mit einer Dreierkette bei den Belgiern ziemlich rasch implementiert. Die Roten Teufel agieren meist in einer 3-2-4-1-Ordnung, die den Spielercharakteren sehr gut entgegenkommt und eine gute sowie stabile Raumbesetzung gewährt. Den zentralen Part in der Dreierkette wird Vincent Kompany geben. Auf den Halbpositionen neben ihm werden die beiden Tottenham-Stars Vertonghen auf links und Alderweireld auf rechts zum Einsatz kommen. Allein beim Lesen der Namen wird deutlich, wie viel Robustheit und Stabilität das mit sich bringt, daneben aber auch gute Aufbaulösungen und ein sehr druckvolles bzw. zielgerichtetes Passspiel. Vor allem die beiden Halbverteidiger stoßen immer wieder in die defensiven Halbräume vor und verlagern das Aufbauspiel ins (fulminant besetzte) zweite Spielfelddrittel.

Hoch positionierte Flügelverteidiger stützen den belgischen Zentrumsfokus

Im 3-2-4-1 fallen natürlich die klassischen Außenverteidigerpositionen weg, stattdessen agieren die Belgier mit zwei hoch positionierten Flügelverteidiger, die bei eigenem Aufbauspiel auf der Höhe der Sechser zu finden sind. Durch den anvisierten Zentrumsfokus sind sie oft die einzigen, aber notwendigen Breitengeber im belgischen Konstrukt.
Yannick Carrasco und Thomas Meunier sind dabei die bevorzugten Optionen von Martinez. Carrasco ist prinzipiell ein Flügelspieler und hat daher seine Qualitäten in offensiven Aktionen und Kombinationen. Meunier auf der rechten Seite hat einen etwas destruktiveren Aktionsradius, gilt aber als ein recht kompletter und moderner Außenverteidiger mit offensiven und defensiven Stärken. Als möglicher Ersatz könnte der 23-jährige Jordan Lukaku von Lazio Rom in Frage kommen.

Brillantes Zentrum in einer sauberen Struktur

Das zentrale Mittelfeld ist mitunter das Beste, was diese Weltmeisterschaft zu bieten hat. Die Doppelsechs im 3-2-4-1 bilden im Normalfall Axel Witsel und Kevin De Bruyne. Die Rollenverteilungen zwischen diesem Duo sind auch recht klar gehalten. De Bruyne agiert wesentlich flexibler und beweglicher und driftet vor allem auch gern auf die linke Seite bzw. in den linken Halbraum. Axel Witsel hat dagegen die Aufgabe, den Sechserraum vor der eigenen Dreierkette zu sichern und bei möglichen Ballverlusten das Konterspiel des Gegners zu unterbinden bzw. zu verschleppen, um das Nachrücken der eigenen Mitspieler zu ermöglichen. Eine interessante Option auf einer der beiden Sechserpositionen wäre auch Moussa Dembele von Tottenham. Der 30-jährige Legionär ist ein sehr wuchtiger und athletisch herausragender Akteur, der aber auch im Ballbesitz eine richtig gute Entscheidungsfindung besetzt und daher auch pressingresistent ist.

Torgefahr und Dribbelstärke im offensiven Mittelfeld

Als sogenannte Zehner sind Eden Hazard und Dries Mertens vorgesehen. Hazard kann sich von dieser Grundposition aus perfekt zwischen den gegnerischen Linien bewegen und den Ball fordern, um dann mit seinem berüchtigten Aufdrehen und seiner Dynamik auf die gegnerische Abwehr zudribblen. Mit Kevin De Bruyne hat er den kongenialen Partner und Passgeber eine Linie tiefer im eigenen Team. Der Vorteil dieser Doppel-Zehn liegt vor allem darin, dass der Zwischenlinienraum (und die so wichtigen offensiven Halbräume) immer ausreichend besetzt ist. Gegen Formationen mit nur einem Sechser hat man noch dazu eine ziemlich simple Überzahl in diesen Räumen, vorausgesetzt die Flügelverteidiger und der Stürmer binden ihre Gegenspieler richtig. In Summe also ein extrem spielstarkes und gut positioniertes Kreativzentrum, das für jeden Gegner bei dieser WM schwer zu verteidigen sein wird.

Lukaku ermöglicht den Belgiern auch andere Stilmittel

Mit Romelu Lukaku verfügt Martinez über einen sehr robusten und physisch starken Stürmer, der auch technisch (vor allem bei Ablagen) auf einem konstant hohen Niveau agiert. Seine physische Präsenz ermöglicht den Belgiern auch vereinzelt lange Bälle einzustreuen, wenn sich der Gegner nach einer Zeit zu gut auf den Kombinations- und Zentrumfokus eingestellt hat. Mit Michy Batshuayi und Christian Benteke hat Martinez noch zwei ähnliche Stürmertypen in der Hinterhand, die beide Torgefahr ausstrahlen können.

Kreativer Trainer mit Fokus auf Spielkontrolle und Aktivität

Roberto Martinez als Trainertypen zu beschreiben ist gar nicht so einfach. Schon gar nicht geht dies über ein bestimmtes System oder eine Grundordnung. Besser lässt er sich schon mit seinen Spielprinzipien und Vorstellungen vom Spiel erklären. Martinez mag die Spielkontrolle, er mag den Ballbesitz und er zaubert konstant dafür die richtigen und passenden Strukturen aus dem Hut. So auch bei den Belgiern seit seiner Amtsübernahme vor zwei Jahren. Mit seinen Ideen bei eigenem Ballbesitz konnte er so das schon lange brachliegende Potential bei den roten Teufeln wesentlich besser zur Geltung bringen als dies seinem Vorgänger gelungen ist. Das Spiel gegen den Ball ist dagegen nicht so das Ding von Martinez. Das erkennt man daran, dass seine Mannschaften im Pressing häufig fahrig und unkoordiniert auftreten und selten auf kollektive Balleroberung aus sind. Stattdessen ziehen sich die Belgier meist recht passiv zurück und konzentrieren sich darauf, die zentralen Zonen mit einer 5-2-3-Ordnung geschlossen zu halten. Ob dies ausreicht, wird man sehen.

Die Abseits.at-Einschätzung

Die Belgier haben eine sehr starke Mannschaft mit einer passenden strategischen und mannschaftstaktischen Ausrichtung. Das größte Plus ist, dass die hochklassigen Individualisten harmonisch in das Team eingefügt wurden und so das gesamte Team auf ein wesentlich höheres Level bringen als dies bei den letzten Turnieren der Fall war. Martinez baute die Struktur um diese Superstars herum und nicht umgekehrt. Das könnte die Belgier in Russland ziemlich weit bringen. Das Viertelfinale muss mit dieser Mannschaft erneut als Mindestziel gelten.

Sebastian Ungerank

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