WM-Analyse Brasilien: Ohne Samba und Schnörkel die Besten der Welt
WM 2018 15.Juni.2018 Dalibor Babic 0
Die Brasilianer legten eine herausragende Qualifikation zur Weltmeisterschaft hin, in der sie von den 18 Spielen nur eines verloren – nämlich jenes zum Auftakt gegen Chile. In den nachfolgenden Begegnungen holte man zwölf Siege und fünf Unentschieden – blieb somit ungeschlagen und qualifizierte sich bereits vier Runden vor Schluss für die WM in Russland. Maßgeblich dafür verantwortlich ist zweifellos der Trainer der Brasilianer, der durch eine Verwechslung den etwas eigenwilligen Name „Tite“ trägt. Tite übernahm das Zepter von Carlos Dunga, nachdem dieser bei der Copa America 2016 bereits in der Gruppenphase scheiterte und damit für eine Blamage sorgte.
Mit der Amtsübernahme von Tite stabilisierten sich die Leistungen der Nationalmannschaft nachhaltig und man eilte von Sieg zu Sieg. Nicht umsonst besiegte man im März dieses Jahres Weltmeister Deutschland, auch wenn dies letztendlich nur ein Testspiel war. Das 4-3-3 und die Ausrichtung der Brasilianer ist zwar nicht so spektakulär offensiv, dafür von einer guten Balance inklusive defensiver Stabilität geprägt, die die Basis für den Erfolgslauf der „Selecao“ bildet.
Garniert wird diese gute Basis gegen den Ball von individuell herausragenden Akteuren, die auf vielen unterschiedlichen Positionen verteilt sind. Durch diese spielerische Klasse sind die Brasilianer in der Lage, jedem Gegner wehzutun und vor Probleme zu stellen. Dem Nationaltrainer der Brasilianer gelang es ein stimmiges Gebilde um seine Spieler herum aufzubauen, welches viele wichtige Dinge mitbringt, um in einem Turnier wie der Weltmeisterschaft weit vorzustoßen.
Luxusproblem im Tor
Lange Zeit galt die Position des Torhüters als die große Problemzone der Brasilianer. Umso erfreulicher für die Anhänger, dass sich diese Position von einer Problemzone, hin zu einem Luxusproblem der „Selecao“ entwickelt hat. Maßgeblichen Anteil daran haben mit Alisson Becker und Ederson zwei Torhüter, die speziell in dieser Saison für Furore auf internationaler Bühne sorgen konnten. Beide Schlussmänner sind stark auf der Linie, mit guten Reflexen ausgestattet und vor allem fußballerisch mit das Beste, was der Fußball auf dieser Position zu bieten hat. Als Nummer Eins bekam Alisson Becker den Vorzug, der das Vertrauen des Trainers bislang auch rechtfertigte und hinten eine Bank war. Doch ebenso beruhigend ist es, dass man mit Ederson einen völlig gleichwertigen Ersatz in der Hinterhand hat, der ohne Qualitätsverlust im Notfall einspringen kann. Als Nummer Drei fährt der Routinier Cassio mit, der mit seinem Trainer 2015 die brasilianische Meisterschaft gewann und dadurch das Vertrauen bekam.
Routine pur in der Abwehrzentrale
In der Innenverteidigung sind die Brasilianer gut besetzt und so dürfte das routinierte Duo Miranda und der reaktivierte Thiago Silva gemeinsam die Abwehrzentrale bilden. Dahinter steht mit Marquinhos ein ebenfalls starker Verteidiger zur Verfügung, der ohne Bedenken auch einen Stammplatz haben könnte. Nicht zu vergessen wäre da auch noch der Ex-Kölner und Innenverteidiger Pedro Geromel, der etwas überraschend den Sprung in den WM-Kader schaffte. Kaum eine andere Innenverteidigung bei der WM 2018 vereint Spiel- bzw. Aufbaustärke so stark mit klassischen Defensivtugenden, wie die Brasilianer.
Ein spielmachender Linksverteidiger als Trumpf
Die Brasilianer müssen mit dem Ausfall von Dani Alves eine wichtige Stütze auf der rechten Abwehrseite ersetzen. Erster Ersatzkandidat dürfte Danilo sein, der zwar mit der Präsenz und Qualität von Dani Alves nicht ganz mithalten kann, aber sehr dynamisch und durchschlagskräftig agiert. Als weitere Ergänzung stünde Fagner bereit, der ein solider und technisch starker Außenverteidiger ist und eine ernsthafte Option darstellt. Auf der linken Seite hat sich der spektakuläre Linksverteidiger und moderne Spielmacher Marcelo seinen Platz in der Nationalelf zurückerobert, nachdem zu Beginn der Amtszeit von Tite sein Kontrahent Felipe Luis noch den Vorzug bekam. Beide gehören jedoch zu den besten ihrer Zunft, wobei Marcelo vor allem spielerisch nochmal in einer eigenen Liga spielt. Die linke Seite der Brasilianer ist dank Marcelo sicher hochkarätiger besetzt als die rechte.
Harte Arbeiter statt Samba, Samba
Die Position vor der Abwehr ist fest in der Hand von Real-Madrid-Spieler Casemiro. Der physisch starke Sechser soll mit seinen Qualitäten im Spiel gegen den Ball Stabilität bringen und so für die Balance in der Mannschaft sorgen. Als erste Alternative stünde der spielerisch stärkere Fernandinho bereit, der bei Manchester City diese Rolle mit seiner technischen Klasse gut ausfüllt und sich zu einer Stütze unter Guardiola entwickelt hat. Auf der halbrechten Achter-Position gilt den zurückgekehrte Paulinho als gesetzt. Mit seinen Vorstößen und seiner Durchschlagskraft in der Offensive nimmt der Barcelona-Spieler einen wichtigen Part im Spiel der Brasilianer ein. Auf der halblinken Position herrscht dahingehend noch etwas Unklarheit, denn auf dieser Position gibt es mehrere Kandidaten mit unterschiedlichen Profilen. Zuletzt füllte Fernandinho diese Rolle aus, der für die Balance zwischen Marcelo und Neymar sorgen sollte. Ein weiterer Kandidat wäre Renato Augusto, der immer wieder das Vertrauen bekam und auch nicht enttäuschte. Die offensivste Variante wäre Phillipe Coutinho, der auch gegen Österreich auf dieser Position zum Einsatz kam. Außenseiterchancen hätte noch Neo-Manchester-United-Legionär Fred, der jedoch in der Rangordnung etwas zurückliegt.
Der teuerste Fußballer der Welt als Kopf der Offensive
In der Offensive sind die Brasilianer traditionell herausragend besetzt. So werden die Augen speziell auf einen Mann gerichtet sein, nämlich Superstar Neymar. Der Flügelstürmer ist das Um und Auf im Offensivspiel der Brasilianer und eine ständige Gefahr für den Gegner, weshalb er natürlich auf der linken Seite gesetzt ist. Zwar fiel er die letzten Monate mit einer Verletzung aus, doch er feierte im Länderspiel gegen Kroatien sein Comeback und erzielte prompt einen Treffer. Doch Neymar ist bei weitem nicht der einzige gefährliche Mann in der hervorragend besetzten Angriffsabteilung der „Selecao“. Mit Willian, Coutinho oder Douglas Costa stehen dem Trainer der Brasilianer genügend weitere starke Optionen zur Verfügung und kann man bei Bedarf von der Bank nochmal kräftig nachlegen. Auf der rechten Seite dürfte wohl Willian gesetzt sein, wobei dies natürlich auch davon abhängt, was mit Coutinho passiert und ob er im Mittelfeld oder im Angriff eingesetzt wird. Auf der Bank gemütlich kann es sich Taison machen, der bei der Konkurrenz wenig Licht sieht. So oder so hat Tite die Qual der Wahl, um den ihn viele Kollegen beneiden.
Liverpool oder City?
Im Sturmzentrum stehen den Brasilianern nach jahrelangen Problemen auf dieser Position endlich wieder zwei gute Optionen zur Verfügung. Gabriel Jesus und Roberto Firmino sind die Alternativen an vorderster Front und liefern sich einen heißen Konkurrenzkampf. Den Vorzug dürfte wohl City-Spieler Gabriel Jesus bekommen, doch es ist beruhigend zu wissen, dass man mit Firmino einen starken Ersatzmann in der Hinterhand hat.
Tite, der Erlöser?
Tite hat zweifellos seit seiner Amtsübernahme 2016 viel Positives bei den Brasilianern bewirkt. Er hat in seiner Heimat bereits über Jahre hinweg Erfolge gefeiert und bestätigt seine Qualitäten nun auch im höchsten Traineramt des Landes. Es gelang ihm eine Struktur zu schaffen, in der die Brasilianer einerseits defensiv gut stehen und alle Spieler gegen den Ball wissen, was zu tun ist und sich an der Arbeit beteiligen. Andererseits baut man in der Offensive auf die herausragende individuelle Qualität und kann einen tiefstehenden Gegner knacken, aber auch aus Umschaltsituationen heraus viel Gefahr erzeugen. Tite gelang es also, eine äußerst homogene Struktur zu schaffen und die Brasilianer beherrschen viele Facetten des Spiels, weshalb sie alle Voraussetzungen mitbringen, um bei der WM weit zu kommen und den Titel in die Heimat zu bringen.
Die abseits.at-Einschätzung
Die Brasilianer gehören schon traditionell bedingt zum Favoritenkreis auf einen WM-Titel. Auch dieses Jahr stellt sich die Lage ähnlich dar, wobei man eine wohl noch eine stärkere Mannschaft zur Verfügung hat, als es 2014 der Fall war. Herausragende Akteure hatten die Südamerikaner immer schon in ihren Reihen, doch diese Mannschaft ist auch gruppentaktisch eine gute und wirkt sehr abgeklärt und stabil in ihrem Spiel. Der Rekordweltmeister bringt also alle Voraussetzungen mit, um einen weiteren Titel zu holen und gehört zweifellos zu den drei großen Anwärtern auf den goldenen Pokal.
Dalibor Babic
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