WM-Analyse Frankreich: Enorme individuelle Klasse, aber viele kleine Fragezeichen
WM 2018 13.Juni.2018 Dalibor Babic 0
Costil-Zouma-Laporte-Digne-Bakayoko-Rabiot-Payet-Coman-Martial-Lacazette-Benzema. Eine starke und namenhafte Startelf, nicht wahr? Man würde dieser Mannschaft zweifellos ein Überstehen der Gruppenphase zutrauen, da reichlich individuelle Qualität und Potenzial vorhanden wäre. Doch die Chance dazu dies zu beweisen, werden die elf genannten Herren jedoch nicht bekommen. Sie wurden nämlich erst gar nicht in den 23-Mann-Kader der Franzosen einberufen.
Der Trainer der „Les Bleus“ Didier Deschamps hatte bei der Nominierung, wie man sieht, die Qual der Wahl und der Kader strotzt nur so vor klingenden Namen und individueller Klasse. Nicht umsonst wird Frankreich von vielen Experten als einer der großen Favoriten auf den WM-Titel gesehen.
Eine vorzugsweise präferierte Grundordnung gibt es bei den Franzosen eher nicht, da die Verschiedenartigkeit der Spielerprofile viele Möglichkeiten offen lässt und man dadurch in der Frage des Systems sehr flexibel agieren kann. Vermutlich wird die meiste Zeit auf ein 4-3-3 oder 4-4-1-1 zurückgegriffen, je nach Auswahl des Personals. Nachdem man als klarer Favorit in Gruppe C geht, wird man dementsprechend offensiv agieren und die defensiven Gegner knacken müssen.
Tottenhams Fels in der Brandung
Der Stammtorhüter der Franzosen führt die Mannschaft in Russland gleichzeitig auch als Kapitän aufs Feld. An Hugo Lloris von den Tottenham Hotspurs gibt es also kein Vorbeikommen und der 31-jährige Schlussmann gilt als einer der besten seines Faches. Zwar gehört der Torhüter fußballerisch nicht zur Elite, allerdings sind seine Reflexe dafür umso stärker und ermöglichen ihm immer wieder spektakuläre Paraden. Den Platz als Nummer Zwei nimmt dahinter der erfahrene Steve Mandanda von Olympique Marseille ein. Der 33-Jährige ist bereits seit Jahren fester Bestandteil im Kader der „Equipe Tricolore“ und ein verlässlicher Backup. Als Nummer Drei zur WM darf der Schlussmann des französischen Meisters PSG, Alphonse Areola. Der 25-Jährige, der bislang noch zu keinem Einsatz für die Nationalmannschaft kam, hat sich in dieser Saison erstmals bei seinem Verein als klare Nummer Eins etabliert und so den Sprung in den Kader geschafft.
„El Clasico“ in der Innenverteidigung
Trotz des verletzungsbedingten Ausfalls von Koscielny, steht für den Innenverteidiger hochkarätiger Ersatz zur Verfügung. Mit Samuel Umtiti und Raphael Varane bildet quasi der „El Clasico“ das zentrale Abwehrduo der Franzosen und wird den gegnerischen Stürmern das Leben schwer machen. Beide sind unheimlich athletisch, zweikampfstark und beherrschen die Spieleröffnung. Dahinter hat man mit Benjamin Pavard vom VfB Stuttgart und Presnel Kimpembe von Paris SG zwei hochtalentierte, aber etwas unerfahrenere Innenverteidiger in der Hinterhand, die vom Routinier Adil Rami von Olympique Marseille ergänzt werden, der etwas überraschend den Sprung in den WM-Kader schaffte.
Ein Fragezeichen auf der linken Abwehrseite
Auf der Position des Außenverteidigers steht das größte Fragezeichen bei Benjamin Mendy. Der Abwehrspieler von Manchester City laborierte fast die gesamte Saison lang an einem Kreuzbandriss und absolvierte nur sieben Ligaspiele für die Citizens. Dennoch schaffte er es in den Kader, da er auf der Position vor seiner Verletzung unumstritten gesetzt war und nicht umsonst geschätzte 50 Millionen kostete. Sollte Mendy nicht vollständig fit sein, steht mit Lucas Hernandez von Atletico Madrid ein guter Ersatz bereit, der im Frühjahr dieses Jahres erst sein Debüt feiern durfte, jedoch weniger Erfahrung besitzt. Auf der gegenüberliegenden Seite ist Djibril Sidibe vom AS Monaco gesetzt und wird auch schon von zahlreichen europäischen Topvereinen gejagt, was für dessen Qualität spricht. Sein Ersatz ist der nominelle Innenverteidiger Pavard, der auch diese Position einnehmen kann und dank eben dieser Flexibilität mit dabei ist.
Kann Pogba zu seiner Höchstform zurückfinden?
Die Position im Zentrum und vor der Abwehr als Staubsauger ist nur einem Mann vorbehalten, nämlich dem nimmermüden Ngolo Kante. Der Star des FC Chelsea stopft im Mittelfeld viele Löcher und hält seinen Vorderleuten den Rücken frei. Sein Ersatz ist der um zwei Köpfe größere Steven Nzonzi vom FC Sevilla, der ebenfalls etwas überraschend den Vorzug vor Bakayoko bekam und erst Ende letzen Jahres in der Nationalmannschaft debütierte. Eine Reihe davor schwingt der 100 Millionen Mann Paul Pogba von Manchester United das Zepter. Er übernimmt die Rolle als Box-to-Box-Spieler und soll vor allem das Offensivspiel gestalten. Bei ihm stellt sich die Frage, in welcher Verfassung er auftreten wird, wurde er doch erst kürzlich aufgrund einer schlechten Leistung von den eigenen Fans ausgepfiffen. Ausbalanciert wird er dabei von Blaise Matuidi, der die Mischung seiner beiden Kollegen ist und für das Gleichgewicht im Zentrum zuständig ist. Als Ergänzung stehen zunächst der Bayern-Spieler Corentin Tolisso parat, der auf beiden Positionen zum Einsatz kommen kann und aufgrund guter Leistungen auch am Stuhl seiner beiden Kontrahenten sägt. Dahinter sind die Franzosen jedoch etwas dünn besetzt, speziell wenn man mit drei zentralen Mittelfeldspielern agiert. Allerdings können sowohl Nabil Fekir, als auch Antoine Griezmann die Rolle hinter der Spitze einnehmen, falls man das System auf ein 4-4-1-1/4-2-3-1 umstellen möchte.
Die Flügelzange als Albtraum jedes Gegners
Das Prunkstück der „LesBleus“ ist zweifellos die Offensive. Vor allem auf der Außenbahn stehen verschiedene Varianten und unterschiedliche Spielertypen zur Verfügung. Die besten Spieler sind dabei zweifellos Kylian Mbappe und Ousmane Dembele. Beide Spieler sind kommende Weltstars und werden ihren Gegenspielern mit ihrer Dynamik und Dribbelstärke schlaflose Nächte bereiten. Theoretisch könnte auch hier Griezmann zum Einsatz kommen, nimmt aber vorzugsweise eine etwas zentralere Rolle ein. Komplettiert wird der starke Flügel von Thomas Lemar, der sich ebenfalls Chancen auf die Startelf ausrechnet, aber auch von Florin Thauvin und Nabil Fekir, die allesamt eine starke Saison in Frankreich hinter sich haben.
Ein Brecher oder lieber Dynamik?
Noch steht nicht ganz fest, wer die Position an der vordersten Front bei den Franzosen einnehmen wird. In den letzten Testspielen sah man sowohl die Varianten mit dem großgewachsenen Giroud, der als Zielspieler und „Ballhalter“ fungiert, als auch mit dem wendigeren Griezmann, der viel Dynamik, gutes Bewegungsspiel und Spielintelligenz mitbringt. Aber auch gemeinsam könnten die beiden im Sturm auflaufen und taten dies schon bereits, weshalb die Aufstellung wohl vom jeweiligen Gegner und dessen Spielweise abhängen wird.
Ein Pragmatiker auf der Trainerbank
Didier Deschamps gehört nicht zu den charismatischsten Herren seines Fachs und strahlt auch nicht den großen Glanz aus. Als gewiefter Taktiker ist er ebenfalls nicht verschrien und bisweilen fehlt ihm etwas die strategische Tiefe, was sich vor allem im Spiel gegen den Ball immer wieder zeigt. Nichtsdestotrotz hat er die „Equipe Tricolore“ nach schwierigen und turbulenten Jahren wieder zurück in die Spitzengruppe der Fußballwelt gebracht und stabilisiert, scheiterte nicht umsonst bei der letzten Europameisterschaft erst im Finale an Portugal. Dennoch fehlt dem Franzosen einiges auf das Niveau eines Jogi Löw, weshalb er das volle Potenzial seiner Mannschaft noch nicht voll ausschöpfen konnte. Vielleicht gelingt es ihm ja in diesem Turnier.
Die abseits.at-Einschätzung
Wenn alles nach Plan verläuft, dürfte der Gruppensieg für die Franzosen in der Vorrunde kein Problem darstellen. Spannender wird es für die „Les Bleus“ ab der K.O.-Phase und das Ziel kann natürlich nur Finale lauten. Frankreich verfügt, was die individuelle Qualität anbelangt, über eine Top-3-Mannschaft bei diesem Turnier und nahezu alle Spieler sind bei Spitzenvereinen engagiert, weshalb man zu den großen Favoriten auf den goldenen Pokal zählt. Ob der große Sprung letztlich tatsächlich gelingt, wird man sehen und hängt vor allem im späteren Verlauf auch von der Tagesverfassung ab. Ein Fragezeichen stellt zudem die strategische Tiefe und die Verfassung von Schlüsselspielern wie Paul Pogba dar.
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