Kroatien wurde im WM-Viertelfinale gegen Russland mit der Aufgabe konfrontiert, das Spiel zu entwickeln und Angriffslösungen gegen die russische Defensivmauer zu finden. Sie scheiterten daran beinahe. Erst im Elfmeterschießen fiel die Entscheidung zugunsten der Kroaten, nachdem sich zuvor beide Mannschaften über 120 Minuten bekämpft haben und so ein echter Abnutzungskampf entstanden ist. Die physisch herausragenden Russen setzten auch im Viertelfinale auf ihr leidenschaftliches Defensivkonzept, das sowohl strategisch wie auch taktisch gut zu dieser Mannschaft passt und die eigenen Stärken akzentuiert, während es die zweifellos vorhandenen Schwachstellen nahezu perfekt kaschiert. Die Basis für diesen russischen Ansatz waren erneut Disziplin, Konzentration und ein hohes Laufpensum.
Wir analysieren in diesem Artikel die Defensive der Russen und erläutern in diesem Zusammenhang auch, wie es ihnen gelang, die kroatischen Kreativspieler rund um Modric und Rakitic nicht zur Geltung kommen zu lassen. Und wir haben auch ein paar kleine Schwächen im kroatischen Aufbauspiel entdeckt, die sich mit der Einwechslung von Brozovic und der Umstellung auf ein 4-3-3 allerdings gebessert haben.
Grundordnungen und Personal
Kroatiens Trainer Zlatko Dalic wählte rein formationstechnisch und positionell eine etwas offensivere Variante als zuletzt. So opferte er Sechser Brozovic für einen zusätzlichen Spieler in höheren Zonen bzw. in der gegnerischen Formation. Damit einher ging auch die Systemumstellung von einem 4-3-3 / 4-1-4-1 auf ein 4-2-3-1, welches die Kroaten ebenfalls schon praktizierten.
Die Doppelsechs bestand daher aus den beiden Spanien-Legionären Rakitic und Modric, die im eigenen Aufbauspiel mit unterschiedlichen Rollenverteilungen ausgestattet waren. Die Viererkette vor Torhüter Subasic bestand wieder aus den beiden Innenverteidigern Vida und Lovren, die Außenverteidigerpositionen besetzten Strinic und Vrsaljko. Die offensive Dreierreihe bildeten Perisic und Rebic auf den beiden Außenbahnen sowie Kramaric auf der Zehn hinter Mittelstürmer Mandzukic.
Die Russen mit ihrem Trainer Stani Tschertschessow gingen ebenfalls mit der gewohnten 4-2-3-1 Grundordnung sowie dem bewährten Personal in dieses KO-Spiel in Sotschi. Ein sehr interessanter Mannschaftsteil bei den Russen ist aufgrund ihrer Spielweise gegen den Ball die Sturmlinie, bestehend aus Youngster Golovin sowie Wandspieler Dsjuba. Aleksandr Golovin von ZSKA Moskau ist der laufstärkste Spieler des Turniers bis zu diesem Zeitpunkt und konnte so mit einem unglaublichen Laufpensum im aufwändigen russischen Pressing überzeugen und dem Block dahinter bereits sehr viel Arbeit abnehmen, indem er den gegnerischen Aufbau sehr früh immer wieder auf eine Seite abdrängte und die Druckerzeugung für die hinteren Spieler erleichterte. Laufdistanzen um die 15 Kilometer in einem Spiel sind bei ihm keine Seltenheit. Das allein ist schon bemerkenswert, bei einem WM-Turnier mit dieser Dichte an Spielen und den kurzen Regenerationsphasen aber noch einmal erstaunlicher.
Russischer Defensivblock erneut stabil und griffig
Zu Spielbeginn versuchten die Russen den kroatischen Spielaufbau früh zu stören und ihnen so den ersten kleinen Rhythmusbrecher verpassen. Im 4-4-2 Mantel positionierten sie sich dafür passend in einem hohen Mittelfeldpressing und schoben immer wieder im Kollektiv gut nach vorne und attackierten die kroatischen Innenverteidiger. Die beiden Stürmer Golovin und Dsjuba postierten sich im kroatischen Sechserraum und konnten abwechselnd Modric und Rakitic gut in ihren Deckungsschatten nehmen, während sie nach vorne auf den ballführenden Innenverteidiger Druck ausübten. Mit dieser aktiven Herangehensweise hatten die Kroaten vermutlich nicht gerechnet und deshalb auch ihre Probleme, auf die wir etwas später noch genauer eingehen werden.
Nach etwa sieben Minuten wurden die Russen erstmals in die eigene Hälfte zurückgedrängt und die Kroaten bekamen das Spiel besser unter Kontrolle (in Bezug auf den Raum und Ball), ohne wirklich Durchschlagskraft und Torgefahr entwickelt zu haben. Dafür war der russische Defensivblock in der eigenen Hälfte zu massiv, zu kompakt und zu griffig.
Die 4-4-2 Ordnung blieb auch im Abwehrpressing bestehen, die zwei horizontalen Linien waren gut organisiert und strukturiert und die acht Positionen in diesen zwei Linien immer besetzt. In 95% der Spielsituationen befanden sich so bei kroatischem Ballbesitz immer alle 10 Feldspieler hinter dem Ball, wodurch der Raum aufgrund der personellen Präsenz schon einmal extrem verknappt werden konnte und bei entsprechend sauberer taktischer Umsetzung (nachschieben zur Seite und nach vorne, Abstände innerhalb und zwischen den zwei Linien, Kontrolle des Zwischenlinienraums) wenig bis gar keine Lücken im eigenen Defensivverbund aufgingen.
Dazu kommt, dass die Russen in der eigenen Hälfte permanent Überzahlsituationen hatten. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistete die erste Pressinglinie. Durch geschicktes Stellungsspiel und Anlaufverhalten sowie läuferischer Topleistung kümmerten sich die zwei Stürmer Golovin und Dsjuba um vier kroatische Aufbauspieler (Innenverteidiger und die beiden Sechser), wodurch die hintern beiden Linien entlastet werden konnten. Kippte Modric zum Beispiel wie üblich in den rechten Halbraum oder gar auf den rechten Flügel heraus und bekam dort den Ball, ging Golovin mit dem Pass mit und nahm Modric sofort die Verbindungen nach vorne. Spielte Modric den Ball wieder zurück, ging auch Golovin wieder mit dem Pass mit und war so in seiner ursprünglichen Position wieder zu finden. Genau das gleiche machte sein Nebenmann Dsjuba. Dadurch war die erste Pressinglinie extrem beweglich und weiträumig, gleichzeitig konnten die zwei Linien dahinter enorm stabilisiert werden. Vor allem aus dem Grund, weil die Mittelfeldspieler nicht auf die kroatischen Sechser oder gar Innenverteidiger herausrücken mussten und so die Positionen konstant besetzt blieben. Die Mittelfeldspieler konnten sich auf das Zustellen von Passwegen bzw. auf die Aufnahme von kroatischen Spielern (die zwei zentralen Mittelfeldspieler konnten so problemlos den zurückfallenden Kramaric aufnehmen und wieder übergeben) konzentrieren, gleichzeitig waren die seitlichen Verschiebebewegungen leichter umsetzbar. Dazu kamen ein paar klare Zuordnungen, mit deren Hilfe die Russen in die direkten Zweikampfduelle kommen wollten und so die kroatischen Offensivspieler nicht ins Spiel kommen ließen. So rückten logischerweise die Flügelspieler im Mittelfeld aggressiv auf die kroatischen Außenverteidiger heraus, sobald diese den Ball zugespielt bekamen. Eine Linie dahinter orientierten sich die Außenverteidiger ebenfalls klassisch an Perisic und Rebic und rückten dafür auch einige Male ziemlich weit ein bzw. in den Zwischenlinienraum vor, was mannschaftlich aber sehr gut aufgefangen wurde. Eine weitere wichtige Facette war, dass Pässe in den Zwischenlinienraum durch aggressives Herausrücken der vier Verteidiger sofort attackiert wurden, wodurch das Zentrum eigentlich souverän in russischer Hand gehalten werden konnte.
Die folgende Szene verdeutlicht die wichtigsten Punkte im russischen Defensivspiel noch einmal grafisch:
Zu erkennen: die 4-4-2 Ordnung der Russen, die 2 gegen 4 Unterzahlsituation in der ersten Pressinglinie, welche mit hohem Laufaufwand wettgemacht werden konnte sowie die darauffolgende Überzahlsituation in der eigenen Hälfte und innerhalb des russischen Blocks, was zur Stabilität und Griffigkeit in Zweikampfduellen führte.
Welche Lösungsansätze hatten die Kroaten dagegen?
Vorweg kann man sagen, dass sie sich sehr schwer taten. Was zum einen natürlich an der guten russischen Defensivarbeit lag, zum anderen aber auch an ein paar strukturellen Kleinigkeiten im eigenen Aufbauspiel. Aber alles der Reihe nach. Nach der russischen Druckphase gleich zu Spielbeginn (was mit dem aktiveren Pressing einherging) kontrollierten die Kroaten zunehmend den Ball und durch die höhere Grundpositionierung auch den größten Teil des Feldes, wobei die torgefährlichen Zonen nach wie vor fest in russischer Hand waren. In dieser zweiten Phase des Spiels wirkte das kroatische Ballbesitzspiel aber noch zielgerichteter und dynamischer und es gelang ihnen auch besser, konstruktiv ins dritte Drittel vorzustoßen. Rakitic kippte dafür von seiner Sechserposition regelmäßig zwischen die zwei Innenverteidiger ab und wollte so gegen die zwei russischen Stürmer neben einer Überzahlsituation auch bessere Passverbindungen und Passwinkel sowie bessere Fortsetzungsmöglichkeiten in der Tiefe des Spielfeldes gewährleisten. In solchen Konstellationen wurde dann in weiterer Folge der rechte Innenverteidiger Lovren fokussiert, der durch das Auffächern zu einer Dreierkette etwas Platz in den Halbräumen neben der ersten russischen Pressinglinie vorfand und so einige Male mit Ball ziemlich ungestört auf das Mittelfeld der Russen zudribbeln konnte. Dadurch bekamen die Kroaten die seltene Gelegenheit, die russischen Mittelfeldspieler etwas aus ihren Positionen zu ziehen (vorrangig der linke Flügelspieler), wodurch stabil der diagonale Pass auf den aufgerückten und breit positionierten Außenverteidiger möglich war. So kam die Mannschaft von Zlatko Dalic in den ersten 20 Minuten noch regelmäßig in das letzte Spielfelddrittel, auch wenn dort die einzelnen Entscheidungen nicht immer glücklich wirkten.
Ein etwas strukturelles Problem hatten die Kroaten allerdings nach dieser Phse im Übergangsspiel vom ersten ins dritte Drittel. Wie in der ersten Grafik schon zu sehen, wirkte die Mannschaft häufig etwas zweigeteilt. Hinten die vier Aufbauspieler aus den beiden Innenverteidigern sowie den zwei Sechsern, die wie bereits erwähnt große Schwierigkeiten mit der umtriebigen russischen Sturmlinie hatten. Vor diesen vier tiefen Akteuren die breit positionierten Außenverteidiger, die eingerückten Außenspieler Perisic und Rebic sowie Zehner Kramaric und Mittelstürmer Mandzukic. Was fehlte, waren die Verbindungen dazwischen. Modric und Rakitic waren hauptsächlich damit beschäftigt, sich für die Innenverteidiger anzubieten bzw. sich der russischen Deckung zu entziehen, wodurch es für die beiden nie möglich war, sich hinter der russischen Sturmlinie im Stile eines Ankersechsers anzubieten und sich dort mit einem vertikalen Pass anspielen zu lassen, um dann auf den russischen Block zudribbeln und die eigenen Offensivspieler in Szene setzen zu können. Diesen Gefallen machten ihnen die Russen aber einfach nicht. Stattdessen mussten sie sehr weiträumig und ausweichend agieren, um irgendwie für die Innenverteidiger anspielbar zu sein. Dies ging zu Lasten der Verbindungen in die vorderen Spielfeldbereiche bzw. zu den vorderen Spielern. Durchbrüche über vorstoßende Dribblings wären den zwei Weltklassesechsern Modric und Rakitic zuzutrauen gewesen, waren aber wenig bis gar nicht zu sehen. So konnten die Kroaten aus dem deutlichen Plus an Ballbesitz wenig machen und mussten zusätzlich bei russischen Konterangriffen immer aufmerksam bleiben. Der 1:1 Ausgleichstreffer fiel dann nach einer untypischen Spielsituation. Die Russen trafen für ihre Verhältnisse im Verteidigungsverhalten schon viele ungewöhnliche Entscheidungen (hohes Pressing, der rechte Außenspieler schob in die erste Pressinglinie vor, der Außenverteidiger Fernandez rückte auf Strinic heraus) die in der Kürze der Zeit nicht richtig abgesichert werden konnten (verbliebene Viererkette schob nicht frühzeitig zur Ballseite durch und besetzte nicht den frei gewordenen Raum hinter dem rechten Außenverteidiger), wodurch Mandzukic viel Platz vorfand und Kramaric perfekt bedienen konnte.
Nach ca. einer Stunde stellte Trainer Dalic mit der Einwechslung von Sechser Brozovic auf ein 4-3-3 um. Rakitic und Modric besetzten ab diesem Zeitpunkt die beiden Achterpositionen, Mandzukic ging kurzzeitig auf die rechte Flügelposition, während Kramaric in der Mitte blieb. Nach dieser Umstellung konnten die Kroaten wieder mehr Druck entwickeln und kamen wieder strukturierter und geschlossener in die gegnerische Hälfte. Durch das Mittelfeld-Dreieck konnte vor allem der russische Sturm besser umspielt werden und Rakitic und Modric konnten so einen besseren Einfluss auf das Spiel nehmen. Förderlich in diesem Zusammenhang war auch, dass die Kräfte bei den Russen langsam aber sicher schwanden, wodurch Lücken im Defensivverbund nicht mehr so rasch geschlossen werden konnten wie noch in den ersten 45 Minuten.
Zwei Tore nach Standardsituationen sollten diesen Abnutzungskampf erst im Elfmeterschießen entscheiden, in dem die kroatische Mannschaft den Aufstieg ins Halbfinale fixierte.
Fazit
Die Russen können trotz des Ausscheidens sehr zufrieden mit dem Turnierverlauf sein. Keiner hätte der Mannschaft von Stani Tschertschessow den Einzug unter die besten acht Teams dieser Weltmeisterschaft zugetraut, schon gar nicht nach deren miserablen Vorbereitungsspielen. Taktisch war die russische Mannschaft insofern ein Hingucker, weil sie genau wussten was sie können und noch besser darüber Bescheid wussten, was sie nicht können. Darauf aufgebaut hat dann der strategische und taktische Plan, der noch dazu sauber umgesetzt wurde. In Erinnerung bleiben (hoffentlich positiv) wird auch die ungemeine Fitness der Russen, mit der sie eine solche Herangehensweise erst auf den Platz bringen konnten.
Die Kroaten hatten wie erwartet zu kämpfen und erreichten wie schon gegen Dänemark im Achtelfinale erst im Elfmeterschießen die nächste Runde. Neben kleinen strukturellen Verbesserungen im Aufbauspiel wird daher auch die Regeneration und das Belastungsmanagement eine entscheidende Rolle spielen, um sowohl physisch wie auch taktisch topfit gegen England in die Partie gehen zu können.
Sebastian Ungerank, abseits.at
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