Titelverteidiger Deutschland verliert die Auftaktpartie gegen Mexiko völlig verdient mit 0:1 und offenbarte dabei eklatante Schwächen im Ballbesitzspiel und der Konterabsicherung. Vor allem die... WM-Analyse: Mexiko schlägt den Titelverteidiger Deutschland

Titelverteidiger Deutschland verliert die Auftaktpartie gegen Mexiko völlig verdient mit 0:1 und offenbarte dabei eklatante Schwächen im Ballbesitzspiel und der Konterabsicherung. Vor allem die Restverteidigung und Konterabsicherung hat den Namen Absicherung nicht verdient, Mexiko hätte mit einer besseren Entscheidungsfindung in Kontersituationen die Partie schon viel früher entscheiden können.
Der Matchplan der Mexikaner hingegen war sehr gut und sauber an den Gegner angepasst. In einer 4-4-2 Grundordnung nahmen sie durch eine ziemlich fixe Mannorientierung den deutschen Fixpunkt Toni Kroos aus dem Spiel, in Umschaltsituationen bespielten sie durch effektive Positionierungen und Laufwege die offenen Räume im deutschen Defensivverbund druckvoll und zielstrebig. Diese zwei Aspekte waren ausschlaggebend für den verdienten Sensationserfolg. Wir analysieren das mexikanische Pressing sowie die deutschen Mängel bei eigenem Ballbesitz sowie in der Restverteidigung.

Grundordnungen und Personal

Jogi Löw schickte seine Mannschaft ähnlich wie bei der Europameisterschaft vor zwei Jahren in einer 4-4-2 / 4-2-2-2 Grundordnung auf den grünen Rasen. In der Viererkette musste krankheitsbedingt noch kurzfristig der eigentliche linke Außenverteidiger Jonas Hector ersetzt werden. Für ihn spielte Marvin Plattenhardt in der Abwehr neben den beiden Innenverteidigern Boateng und Hummels sowie Rechtsverteidiger Kimmich.
Die zweite Sechserposition neben Toni Kroos nahm wie erwartet Sami Khedira ein. Dabei agierte er gemäß seinen Qualitäten als Box-to-Box Spieler wesentlich weiträumiger als sein Nebenmann und positionierte sich auch einige Male in höheren Spielfeldzonen, was aber nicht wirklich etwas für die offensive Durchschlagskraft brachte und zugleich noch die defensive Instabilität und Konteranfälligkeit beförderte.
Die offensive Dreierreihe vor den beiden Sechsern bestand aus Draxler, Özil und Müller hinter dem beweglichen und ausweichenden Stürmer Werner.

Von Mexiko hätte man sich auch Systemvarianten mit einer Dreierkette vorstellen können, gegen Deutschland entschied sich Trainer Osario aber für eine etwas konventionellere 4-4-2 / 4-4-1-1 Grundordnung, die sich vor allem stabilisierend auf das Spiel gegen den Ball auswirkte. Vor Turnierbeginn war dies bei den Mexikanern ja noch ein größeres Fragezeichen.

Taktisch interessant war dabei die Besetzung des zentralen Mittelfelds. Guardado und Herrera bildeten dabei das Sechserduo, ähnlich wie bei den Deutschen gab es dabei auch zwei unterschiedliche Positionsinterpretationen. Herrera agierte bei eigenem Aufbau höher als Guardado und bot eine Anspieloption im rechten offensiven Halbraum an. Im Pressing war es jedoch häufig Guardado, der die Linie verließ und nach vorne attackierte. In Summe also eine sehr bewegliche und robuste Doppelsechs, die der Mannschaft sowohl Stabilität als auch eine spielerische Linie geben kann. Die Flügelpositionen nahmen Youngster Lozano und Layun ein, die vorderste Sturmlinie bestand aus Chicharito und Vela, der im Pressing eine Sonderaufgabe zu erfüllen hatte.

Manndeckung auf Kroos lähmt deutsches Angriffsspiel

Die 4-4-2 Grundordnung der Mexikaner blieb auch im Spiel gegen den Ball bestehen, in der ersten Halbzeit positioniert in einem tiefen Mittelfeldpressing.
Auffallender Aspekt war dabei natürlich die strikte Mannorientierung von Carlos Vela auf Toni Kroos. Die ganze Welt weiß selbstverständlich um die Qualitäten eines Kroos Bescheid, die Mexikaner versuchten seine Qualitäten mit einer strikten Mannorientierung einzudämmen. Dies gelang auch und hatte negative Auswirkungen auf das gesamte deutsche Ballbesitzspiel. Carlos Vela hatte die ehrenvolle Aufgabe, sich um Toni Kroos zu kümmern. Vela bildete zusammen mit Chicharito die erste Pressinglinie und verfolgte Kroos konsequent, wodurch er häufig im rechten Halbraum positioniert war. Im Grunde war es ja ein ziemlich simpler Schachzug des mexikanischen Coaches, der aber mannschaftstaktisch gut umgesetzt wurde und durch das ideenlose und behäbige deutsche Passspiel noch einmal aufgewertet wurde.

In dieser grafischen Übersicht sieht man die mannschaftstaktische Struktur und Ausrichtung der Mexikaner im Spiel gegen den Ball. Einerseits die Mannorientierung von Vela auf Toni Kroos, aber auch das dynamische Herausrücken von Guardado auf Khedira und die etwas eingerückten Positionen der beiden Flügelspieler, wodurch das deutsche Aufbauspiel immer wieder in die Flügelzonen abgedrängt werden konnte.

Ein zweiter interessanter Punkt war, dass der halblinke Sechser Guardado häufig nach vorne stieß und Khedira aggressiv unter Druck setzte. Vor allem dann gut zu sehen, wenn Khedira den Ball auf Höhe der Mittellinie nach einer flachen horizontalen Verlagerung erhielt und das Sichtfeld nach vorne gerichtet war. In diesen Situationen preschte der angesprochene Guardado nach vorne und zwang Khedira zu einer schnellen und meist sehr schlecht vorbereiteten Aktion, welche in Form eines Passes auf den ballnahen Außenverteidiger endete. Der Zwischenlinienraum war durch den Deckungsschatten in der Regel auch nicht bespielbar.

Passend in diesem Zusammenhang war auch, dass die beiden Flügelspieler Lozano und Layun in der ersten Aufbauphase von Deutschland in die Halbräume einrückten und so die Flügelzonen (Außenverteidiger) bewusst offen ließen, was der deutschen Mannschaft den effektiven Angriffsvortrag durch die zentralen Räume zusätzlich erschwerte. Durch das Einrücken waren vertikale, raumerzielende Pässe der Innenverteidiger Hummels und Boateng auf die ebenfalls eingerückten Flügelspieler im Zwischenlinienraum de facto nicht möglich, zusätzlich konnten die situativ aufrückenden Bewegungen der Sechser in der Tiefe besser abgesichert werden.

Das Spiel gegen den Ball in seinen Einzelteilen war deshalb sehr gut angepasst und mit der nötigen Giftigkeit im Zweikampfverhalten kombiniert. Die deutsche Mannschaft von Jogi Löw fand dagegen in der ersten Halbzeit keine passenden Mittel und Wege und daher auch keine zwingenden Torabschlüsse, was eigentlich das größte Kompliment für die Mexikaner sein kann.

Ohne Absicherung ins offene Messer gelaufen

Die Organisation der Restverteidigung und die Konterabsicherung der deutschen Mannschaft waren unterirdisch, einem Weltmeister und Titelanwärter absolut nicht würdig. Derartige Räume geben blöd gesagt nicht einmal Amateurmannschaften her. Aber Mats Hummels hat es kurz nach Spielschluss bereits sehr gut analysiert. Es war kein plötzlich aufgetretenes Problem, stattdessen war eine solche Entwicklung in den letzten Wochen und Monaten absehbar. Im letzten Test gegen Saudi-Arabien waren diese Schwächen klar erkennbar, nur konnte da der Gegner aufgrund der individuellen Unterlegenheit die gebotenen Möglichkeiten nicht so ausnützen wie Mexiko.

Probleme im defensiven Umschaltverhalten sind immer sehr eng gekoppelt mit der Struktur bei eigenem Ballbesitz. Darin liegt auch die erste Ursache für die deutsche Schieflage. Die Staffelung bei eigenem Aufbau ist häufig viel zu flach und daher für den Gegner einfach zu neutralisieren. Die Außenverteidiger rücken hoch auf und geben dem Spiel die Breite, während die Außenspieler nach innen ziehen und zusammen mit den beiden Spitzen den Zwischenlinienraum besetzen bzw. Läufe hinter die gegnerische Abwehrkette starten. Positioniert sich dann auch noch Khedira höher, sind oft bis zu sieben Spieler auf einer Linie und noch gefährlicher, im Rücken der gegnerischen Mittelfeldspieler. Dies sorgt natürlich für offensive Präsenz (die durch den gezwungenen Flügelfokus ebenfalls nicht zur Geltung kommen konnte), das große Problem entsteht aber bei einem Ballverlust. Sieben Spieler befinden sich vor dem Ball und können, wenn das Gegenpressing auch misslingt, nicht mehr eingreifen. Heißt andererseits, dass die Restverteidigung im Regelfall aus nur drei Spielern (Innenverteidiger und Kroos) besteht, wobei Kroos für das Absichern großer Räume sicher nicht prädestiniert ist. Das hat man gegen Mexiko einige Male gesehen.

Zwei Zonen können aufgrund dieser „Struktur“ für den Gegner besonders leicht und effektiv bespielt werden: die Räume hinter den aufgerückten Außenverteidigern und die Zonen vor den Innenverteidigern. Die Mexikaner erkannten dies rasch und postierten ihre Offensivspieler dementsprechend. Die Außenspieler blieben breit und attackierten mit ihrer Schnelligkeit die Räume bei einem Ballgewinn hinter Plattenhardt und Kimmich. Das Sturmduo Chicharito und Vela bot sich abwechselnd kurz vor den Innenverteidigern an und überspielte deren Herausrücken mit einfachen Klatsch-Steil Kombinationen. So gesehen beim entscheidenden Führungstreffer.

Zu sehen die Struktur des DFB-Teams bei eigenem Ballbesitz samt deren offensichtlichen Problemzonen aufgrund einer mangelhaften und schlecht bzw. gar nicht abgestimmten Absicherung. Bis zu sieben Spieler befinden sich auf einer Linie, sind bei einem Ballverlust aus dem Spiel. Die zwei Innenverteidiger und Kroos können die großen eingezeichneten Räume im Zentrum sowie hinter den aufgerückten Außenverteidigern nicht abdecken.

Organisiertes Pressing als einziger Lichtblick beim DFB

Das geordnete, organisierte Spiel gegen den Ball war die einzige stabile und konstant griffige Spielphase bei der deutschen Nationalmannschaft. Im 4-4-2 switchte Löw zwischen einem moderaten Mittelfeldpressing und einem situativen Angriffspressing. Gegen das aufbau- und spielstarke mexikanische Team war ein solcher Rhythmusbrecher ein naheliegender Gedanke, der auch auf dem Rasen zur Geltung kam. Die Abstöße wurden meist sofort zugestellt, die Sechser Kroos und Khedira schoben dafür nach vorne und nahmen die gegnerischen Sechser kurzzeitig in Manndeckung. Allgemein waren die Bewegungen und Mechanismen im Pressing sauber und ballorientiert und es gab dadurch klare Zuordnungen und Referenzpunkte für die Spieler, so wie man das von Löw und dem DFB kennt. Allerdings war diese Spielphase nicht der entscheidende Knackpunkt in dieser Auftaktpartie und konnte die großen Mängel in den anderen zwei Spielphasen natürlich nicht kaschieren.

Schlussphase und Fazit

In der gesamten zweiten Halbzeit zogen sich die Mexikaner noch einen Tick weiter zurück und ließ Deutschland noch mehr kommen. Einige Male hätten sie dabei fast tief stehen mit Passivität verwechselt, eine Herangehensweise wie in den ersten 45 Minuten wäre aber wohl auch aus konditioneller Sicht schwierig geworden. Zu Konterchancen kamen sie aber auch so und hätten eigentlich viel früher den zweiten Treffer nachlegen müssen (zwischen der 30. und 75. Minute lag der Expected-Goals Wert von Mexiko wesentlich höher als jener von Deutschland). Ab der 75. Minute fokussierten sie fast nur mehr die eigene Strafraumverteidigung und stellten dafür auch auf ein 5-4-1 um. Die deutsche Grundpositionierung verlagerte sich nun noch tiefer in die gegnerische Hälfte und sie versuchten mit extremen Überladungen und fluiden Bewegungen hinter die letzte Linie zu kommen bzw. mit Flanken zum glücklichen Ausgleich zu kommen. Aber auch das gelang an diesem gebrauchten Nachmittag nicht.

Deutschland muss nach dieser Leistung binnen kürzester Zeit nun mehrere eklatante Problemfelder in den Griff bekommen. Ihr Vorteil könnte sein, dass die Ursachen für diese Leistung im taktischen Bereich alle miteinander verzahnt sind und deshalb bei entsprechender Korrektur und Anpassung gleich in eine andere Richtung gelenkt werden könnten. Löw muss vor allem an der Struktur und Staffelung bei eigenem Ballbesitz arbeiten und ein homogeneres Konstrukt auf den Rasen schicken als wie gegen Mexiko. Die Abstimmung zwischen den beiden Sechsern muss wesentlich besser werden, auch das Aufrückverhalten der beiden Außenverteidiger muss besser balanciert werden (Stichwort Asymmetrie?). Löw hat also einige Stellschrauben, an denen er drehen muss. Dadurch könnte sowohl das eigene Angriffsspiel als auch die Restverteidigung und Konterabsicherung ausbalancierter und verbessert werden. Jogi Löw hat bei der WM vor vier Jahren gezeigt, dass er dazu auch äußerst pragmatisch (z.B. mit Höwedes) vorgehen kann. Spannend, wie die Reaktion im nächsten Spiel gegen Schweden aussehen wird, die sich ebenfalls über ihr Konterspiel definieren.

Sebastian Ungerank, abseits.at

Sebastian Ungerank

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