WM-Analyse Tunesien: Ein cooles Team, das die Großen ärgern kann
WM 2018 16.Juni.2018 Sebastian Ungerank 0
Tunesien könnte ähnlich wie Mexiko in der Gruppe F ein taktischer Hingucker dieser WM werden. Ihre Ausrichtung fokussiert sich auf spielerische und kreative Aspekte bei eigenem Ballbesitz mit einem sehr variablen und komplexen Zentrumsspiel. Sie verlagern sich also nicht wie andere Außenseiter ausschließlich auf das Spiel gegen den Ball und Konter, stattdessen suchen sie selbst die Aktivität und Spielkontrolle und könnten so vielleicht die individuell überlegenen Gegner vor (vermutlich nur kurzzeitige) Probleme stellen.
Trainer Nabil Maaloul strukturiert seine Mannschaft dafür in einer 4-1-4-1-Ordnung, welche aber durch die fließenden Bewegungen im zentralen Mittelfeld recht schnell zu einem 4-2-3-1 werden kann.
Tunesien bestritt heuer fünf Testspiele, darunter auch gegen durchaus namhafte Gegner. So konnte zum Beispiel gegen den amtierenden Europameister ein 2:2-Unentschieden errungen werden, gegen Spanien musste man sich im letzten Test vor der WM knapp mit 0:1 geschlagen geben. Gegen den Iran und gegen Costa Rica gab es jeweils einen 1:0-Erfolg, gegen die türkische Nationalmannschaft erspielt man sich ebenfalls ein 2:2. Es ist also nicht nur die taktische Herangehensweise beachtlich, sondern durchaus auch die nackten Ergebnisse. Das macht die Mannschaft noch ein Stück interessanter.
Drei Torhüter auf solidem Niveau
Auf der Torhüterposition haben die Tunesier sowohl quantitativ als auch qualitativ ein recht gutes Niveau. Aymen Mathlouthi ist der eigentliche Kapitän der Mannschaft, kam zuletzt aber kaum mehr zum Einsatz. Deshalb ist davon auszugehen, dass Mouez Hassen von LB Chatearoux als Nummer eins ins Turnier gehen wird. Schlichtweg auch deshalb, weil er zuletzt die meisten Einsatzzeiten bekommen hat. Als dritter Torhüter wäre noch Farouk Ben Mustapha anzuführen, der bei Al-Shabab (1. Liga Saudi Arabien) unter Vertrag steht und als durchaus spielstarker Torhüter gilt. Man kann aber vermutlich davon ausgehen, dass Hassen gegen England ins Turnier starten wird und seine Sache auch zuverlässig und gut erfüllen wird.
Spielstarke Innenverteidigung mit Fokus auf kurze, vertikale Pässen
Die Innenverteidigerpositionen sind spielerisch und technisch sehr gut besetzt. Yassine Meriah von CS Sfaxien und Yohan Benalouane von Leicester City dürften sich dort festgespielt und einen Stammplatz erkämpft haben. Vor allem der 24-jährige Meriah gilt als spielstarker Spielertyp, der das Aufbauspiel auch unter großem gegnerischem Druck ruhig und erfolgsstabil von hinten heraus aufbauen kann. Grundsätzlich versuchen die Tunesier nämlich, das Spiel unter Einbindung des Torhüters auch bei gegnerischem Pressing von hinten heraus flach aufzubauen, um so in die zentralen Räume des Mittelfelds konstruktiv und mit der notwendigen Staffelung vorzustoßen. Mit Syam Ben Youssef (29 Jahre) und Rami Bedoui (28 Jahre) hat Trainer Nabil Maaloul zwei robuste Backups noch auf der Bank.
Außenverteidiger mit viel Potential und Perspektive
Die Qualität und Leistungsdichte auf den beiden Außenverteidigerpositionen bleibt ein kleines Fragezeichen. Die Tunesier haben aber mit Ali Maaloul einen äußerst pressingresistenten und spielstarken Akteur auf dem Rasen, der zumeist auf der linken Außenverteidigerposition eingesetzt wird. Aber auch seine Leistungen schwanken oft sehr und sind (so wie es jedem Außenverteidiger dieser Welt ergeht) von der mannschaftlichen Einbindung abhängig. Aber von seinen grundlegenden Qualitäten und Fähigkeiten her ist er durchaus ein Spieler, der sich in die Notizblöcke europäischer Teams spielen könnte. Derzeit ist der 28-Jährige bei Al Ahly unter Vertrag. Auf der rechten Abwehrseite kommt entweder Hamdi Nagguez oder Dylan Bronn von KAA Gent zum Zug. Vor allem Bronn ist mit seinen 22 Jahren ein sehr interessanter Mann, der noch dazu in der Abwehrkette auf nahezu jeder Position einsetzbar ist.
Kreatives Mittelfeldzentrum als Herzstück des Teams
Das zentrale Mittelfeld im 4-1-4-1 bzw. 4-2-3-1 ist mit Sicherheit die qualitativ beste und interessanteste Facette im tunesischen Gesamtkonstrukt. Heraussticht dabei natürlich der Name Ellyes Skhiri. Der 23-jährige steht beim französischen Klub Montpellier unter Vertrag und ist auf der Sechserposition der Anker und Strukturgeber bei eigenem Ballbesitz und verkörpert mit seiner Spielweise die tunesische Spielidee sehr gut. Etwas vor Skhiri wird sich Ferjani Sassi von Al-Nasr als Achter einordnen und mit seinen ausweichenden bzw. abkippenden Bewegungen das Aufbau- und Ballbesitzspiel versuchen anzukurbeln. Saif-Eddine Khaoui wird als Zehner dieses Mittelfeldtrio komplettieren und für eine ausgewogenen Raumbesetzung und Balance sorgen. Durch diese Positionierungen ist eine recht (zumindest auf dem Papier) klare Sechser-Achter-Zehner Verteilung gegeben, die aber aufgrund der Fluidität und gruppentaktischen Bewegungen oft verschoben wird. Vielleicht agieren die Tunesier in gewissen Phasen mit etwas zu viel Bewegungen und Variabilität im Mittelfeld, wodurch Spielsituationen teilweise extrem komplex und unübersichtlich werden können und daher auch fehleranfällig sind. Es kann aber auch genauso sein, dass sich die Tunesier bei der WM diesbezüglich etwas zurückhalten werden und mehr aus der Position heraus agieren. Statt Khaoui könnte aber auch Ghaylene Chaalali auf der höchsten Mittelfeldposition zum Einsatz kommen, wodurch ein deutlicheres 4-1-4-1 zustande kommen würde. Unterm Strich ist das zentrale Mittelfeld äußerst spielstark, pressingresistent und gut auf dem Feld positioniert. Daher könnte dies eine äußerst interessante und lehrreiche Facette bei diesem Turnier werden.
Technisch saubere Flügelspieler
Bei einer derartigen Qualität im Zentrum fallen die Flügelspieler naturgemäß etwas ab, auch wenn die Profile der jeweiligen Spieler gut integriert und abgestimmt wirken. Auf der linken Außenbahn wird wohl Naim Sliti von FCO Dijon gesetzt sein. Er ist in seinem Positionsspiel sehr geschickt und lässt sich auch immer wieder gut in den Halb- und Zwischenlinienraum fallen. Auf der rechten Flügelpositionen ist die letzte Entscheidung vermutlich noch nicht gefallen. Dort hat man mit Ben Youssef, Anice Badri und Bassem Srarfi drei Spieler mit unterschiedlichen Stärken, die alle aber bereits auf dieser Position zum Einsatz kamen. In den Testspielen erhielt zuletzt meist Anice Badri den Vorzug. Er ist technisch sehr beschlagen und sucht häufig kleinräumige Kombinationsmöglichkeiten, was durch das Mittelfelddreieck gut eingebunden wird.
Wahbi Khazri soll für Durchschlagskraft sorgen
Bei spielerisch und kombinativ angelegten Mannschaften besteht häufig die Gefahr, dass sie durch ihren Ballbesitz- und Aufbaufokus den Zug zum Tor verlieren. Besonders dann, wenn die Mannschaft individuell (vor allem auf den Flügelpositionen) nicht überdurchschnittlich gut besetzt ist. Khazri von Stade Rennes soll dies bei den Tunesiern verhindern. Er ist ein kompletter Stürmer, der über den nötigen Tiefgang verfügt und dadurch gegnerische Spieler bzw. gegnerische Abwehrketten beschäftigen und binden kann. Auf ihm ruhen die Hoffnungen, wenn es um den finalen Durchbruch und Torabschluss geht.
Triple Coach mit Deutschland-Erfahrung
Wie Nabil Maaloul die tunesische Mannschaft eingestellt und ausgerichtet hat, ist schon beeindruckend und zeugt von Mut und Überzeugung. Man kann nur hoffen, dass sie diesen konstruktiven Fußball auch bei der Weltmeisterschaft weiter verfolgen und entwickeln. Die Vita von Trainer Maaloul weist dabei auch einen kleinen Deutschland-Bezug auf, zwar nicht als Trainer, dafür aber als Spieler bei Hannover 96 zwischen 1989 und 1991. Als Trainer war er bisher fast ausschließlich in Tunesien tätig, dort aber als Vereinstrainer äußerst erfolgreich. Mit Esperance de Tunis konnte er in der Saison 2010/11 sogar das Triple bestehend aus Meisterschaft, Pokalsieg und der afrikanischen Champions League feiern. Ein Jahr später konnte die Meisterschaft erfolgreich verteidigt werden. Seit Mai 2017 ist der 55-jährige Maaloul nun Nationaltrainer der tunesischen Auswahl und werkt auch dort wie man sieht sehr kreativ und erfolgreich. Bei der WM kann er seine Qualitäten erneut unter Beweis stellen.
Die abseits.at-Einschätzung
Tunesien ist definitiv eine coole Mannschaft mit einer unkonventionellen Ausrichtung und Herangehensweise, vor allem für einen nominellen Außenseiter. Das erste Spiel gegen England wird für den weiteren Turnierverlauf gleich vorentscheidend sein. Es ist durchaus denkbar, dass das Mutterland des Fußballs vom einstigen Exoten dominiert und bespielt wird, am Ende aber trotzdem die Überhand behält. Es wäre natürlich nicht das erste Mal in der langen Fußball-Geschichte, dass dadurch solche Schätze dem großen Publikum verborgen bleiben.
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