Zum ersten Mal seit der Weltmeisterschaft 1998 qualifizierte sich die marokkanische Nationalmannschaft wieder für eine Endrunde. Was dürfen wir von den Nordafrikanern erwarten? Wir... WM-Teamanalyse Marokko: Spannender und flexibler Außenseiter

Zum ersten Mal seit der Weltmeisterschaft 1998 qualifizierte sich die marokkanische Nationalmannschaft wieder für eine Endrunde. Was dürfen wir von den Nordafrikanern erwarten? Wir sehen uns den Kader genauer an und verraten euch wo die Stärken und Sschwächen des Teams liegen.

Marokko sicherte sich am letzten Spieltag der WM-Qualifikation mit einem 2:0-Auswärtssieg gegen die Elfenbeinküste das WM-Ticket für Russland. Bemerkenswert ist, dass das Team in der Gruppenphase der Qualifikation in sechs Spielen (3 Siege, 3 Unentschieden) kein Gegentor hinnehmen musste.

Die Nationalmannschaft ist in diesem Kalenderjahr ohne Niederlage und gewann ihre Freundschaftsspiele gegen Mauretanien (4:0), Guinea (3:1), Namibia (2:0), Libyen (3:1), Nigeria (4:0), Slowakei (2:1) und Estland (3:1). Gegen den Sudan und gegen die Ukraine gab es jeweils ein torloses Unentschieden.

Das Einser-Problem

Dass Marokko in der Qualifikationsgruppe ohne Gegentreffer blieb ist mehr der mannschaftlichen Geschlossenheit und den Gegnern zu verdanken, als dem Tormann. Marokko hat nämlich ein großes Tormann-Problem und aktuell ist Munir Mohamedi der Einser-Goalie. Dieser verlor jedoch vor zwei Jahren seinen Stammplatz bei CD Numancia, einem Mittelständer der spanischen Segunda División. Der 1,90 Meter große Schlussmann ist immer für einen Fehler gut und bestritt im gesamten Kalenderjahr nur sechs Pflichtspiele – davon drei mit der Nationalmannschaft. Coach Hervé Renard setzt dennoch auf den 29-Jährigen, der den Vorzug gegenüber Ahmed Tagnaouti und Yassine Bounou erhielt. Auch wenn es hart ist – Marokko hat wahrscheinlich den schlechtesten Einser-Tormann des Turniers.

Der Chef spielt bei Juve

In der Innenverteidigung übernimmt der 31-jährige Juventus-Legionär Mehdi Benatia die Führungsrolle. Der routinierte Abwehrspieler ist ein athletischer und zweikampfstarker Verteidiger ohne nennenswerte Schwächen. Auch im Aufbauspiel wirkt er durchaus solide und lässt sich auf wenige riskante Geschichten ein. Neben Benatia dürfte Romain Saiss den Vorzug gegenüber Basaksehir-Legionär Manuel da Costa erhalten. Der 28-Jährige kommt bei den Wolverhampton Wanderers im zentralen Mittelfeld zum Einsatz, wurde aber in der Nationalmannschaft zum Abwehrspieler umfunktioniert. Ein guter Schachzug, auch weil die Spieleröffnung von hinten an Qualität gewinnt.

Offensive Außenverteidiger

Achraf Hakimi ist erst 19 Jahre alt und gilt als eines der größten nordafrikanischen Talente. Nach der Verletzung von Dani Carvajal kam er bei Real Madrid sporadisch als rechter Außenverteidiger zum Zug. Ansonsten kann der junge Mann nicht nur in der Innenverteidigung aushelfen, sondern auch auf der anderen Abwehrseite. Da Linksverteidiger Hamza Mendyl bei Lille nicht besonders viel Spielpraxis bekam, half der talentiertere Hakimi im Nationalteam auf dieser Position aus und hinterließ einen starken Eindruck. Hakimis Stärken liegen als Außenverteidiger in seinem Offensivdrang und seiner tadellosen Ballbehandlung. Natürlich ist es aber immer ein Risiko bei einem Großereignis einen so jungen Spieler auf einer für ihn ungewohnten Position auflaufen zu lassen.
Rechts hinten eroberte sich Nabil Dirar seinen Stammplatz zurück, da sich der Fenerbahce-Legionär mit dem aktuellen Coach besser versteht als mit Eric Gerets, der ihn auf der Bank schmorren ließ. Dirar spielte jahrelang bei der AS Monaco und kam dort auch öfters als rechter Mittelfeldspieler zum Einsatz. Dementsprechend groß ist sein Vorwärtsdrang als Rechtsverteidiger, der seine Stärken auch im Eins-gegen-Eins hat.

Lauter feine Kicker

Zwei 33-Jährige ziehen die Fäden im defensiven Mittelfeld. Mbark Boussoufa glänzte zwischen 2006 und 2011 beim RSC Anderlecht und wurde zweimal zum besten belgischen Spieler der Liga gewählt. Damals spielte er noch wesentlich offensiver, mittlerweile fühlt er sich im Nationalteam in der Rolle des tiefstehenden Spielmachers pudelwohl. Aktuell verdient er gutes Geld beim al-Jazira Club in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Sein Nebenmann spielt noch in Europa, nämlich bei Feyenoord. Karim El Ahmadi ist ebenfalls ein sehr guter Techniker, der sich auch gerne mit in den Angriff nach vorne einschaltet. Marokko verfügt somit auf den Sechser-Positionen über enorm spielstarke Akteure, die ihre Stärken im Ballbesitz ausspielen können.

Eine Reihe weiter vorne ist die Nationalmannschaft ebenfalls sehr gut aufgestellt. Im offensiven Mittelfeld sollte der 28-jährige Galatasaray-Legionär Younes Belhanda einen Stammplatz haben. Belhanda ist ein technisch starker Vorbereiter, der sich auch gegen mehrere Gegenspieler auf engem Raum durchsetzen kann. Mit Schalke-Jungstar Amine Harit verfügt Coach Renard über eine sensationelle Alternative. Der erst 20-jährige offensive Mittelfeldspieler steuerte heuer in der deutschen Bundesliga drei Treffer und sieben Assists bei.

Das faule Genie

Hakim Ziyech ist 25 Jahre alt  und spielt noch immer in der niederländischen Liga. Deshalb „noch immer“, weil ein Spieler von seinem Talent her eigentlich beim FC Barcelona kicken müsste. Der offensive Mittelfeldspieler, der in der marokkanischen Nationalmannschaft meist als Flügelspieler eingesetzt wird, verfügt über eine unglaubliche Technik und Kreativität. Trotz seiner eher bescheidenen Einstellung haben immer wieder Top-Klubs Interesse am Ajax-Spieler. Zuletzt waren die Namen Liverpool, AS Roma und BVB in den Medien zu lesen. Ziyech ist in der Offensive überall zu finden und wechselt oftmals die Position mit dem Rechtsaußen. Dieser ist ein wenig das Gegenteil von dem schlampigen Genie, denn Nordin Amrabat steht für solide Offensivkost ohne dem großen “Wow-Effekt“. Der ehemalige Watford-Legionär spielt aktuell bei Leganés und verkörpert eine gesunde Mischung aus Kreativität und Kampfgeist.

…und wer schießt jetzt die Tore?

Im Sturm ist der 31-jährige Khalid Boutaib gesetzt, der aktuell für Yeni Malatyaspor in der Türkei auf Torjagd geht. In der Saison 2016/17 schoss er mit 20 Treffern Racing Straßburg zum Titel in der zweiten französischen Liga, ehe er zu seinem jetzigen Arbeitgeber wechselte. Boutaib ist ein Angreifer der weite Wege geht, über eine starke Physis verfügt und nicht allzu viele Chancen benötigt. Dennoch ist er kein internationaler Top-Mann, der mit diesem hochkarätig besetzten Mittelfeld mithalten kann.
Die Alternative Aziz Bouhaddouz vom FC St. Pauli wusste heuer nur selten zu überzeugen und kam auf vier Saisontore in der zweiten deutschen Liga. Ayoub EL Kaabi ist in der heimischen Liga zuhause und geht für Renaissance Sportive de Berkane auf Torjagd. Der 24-Jährige weiß wo das Tor steht, allerdings fehlt es ihm an internationaler Erfahrung.

Improvisieren für Profis

Der französische Trainer Hervé Renard setzt auf ein 4-3-3-System, das gegen den Ball in einer 4-4-2-Formation verteidigt. Der in Afrika äußerst erfolgreiche Coach gewann mit Sambia und der Elfenbeinküste die Afrikameisterschaft und glänzt als Improvisationskünstler. Zahlreiche Spieler nehmen in der Nationalmannschaft andere Rollen als bei ihrem Klub ein und zeigen dabei starke Leistungen. Am Coach wird es sicher nicht liegen, wenn die Weltmeisterschaft nicht so wie von den Fans erhofft verläuft. Bis jetzt holte er das Beste aus dem Kader heraus.

Die abseits.at-Einschätzung

Marokko schickt eine spannende Mannschaft ins Turnier, die in der Gruppenphase durchaus für Überraschungen sorgen kann. Insbesondere das Mittelfeld ist gespickt mit technisch extrem versierten Akteuren, die für die eine oder andere spektakuläre Aktion sorgen können. Der größte Schwachpunkt ist der Tormann und auch der Sturm sieht im Vergleich zum starken Mittelfeld eher blass aus.
Die Marokkaner sind aber nicht nur am Ball stark, sondern zeigen auch bei gegnerischem Ballbesitz phasenweise ein atemberaubendes Pressing. Die große Frage wird jedoch sein, ob die offensive Ausrichtung bei gegen den Ball auch gegen pressingresistente Spitzenteams aufgehen kann – gegen Portugal und insbesondere Spanien sollten sich die Marokkaner ein wenig zurückziehen, denn ansonsten könnte die Partie schnell entschieden sein.

Stefan Karger

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