Russland steht als Gastgeber vor einer großen Aufgabe und bekam eine insgesamt dankbare Gruppe zugelost. Aber richtige Euphorie kommt bei der Elf von Ex-Tirol-Legionär... WM-Teamanalyse Russland: Cherchesovs blasse Seniorentruppe

Russland steht als Gastgeber vor einer großen Aufgabe und bekam eine insgesamt dankbare Gruppe zugelost. Aber richtige Euphorie kommt bei der Elf von Ex-Tirol-Legionär Stanislav Cherchesov nicht auf. Weder innen, noch außen.

In den Tests schnitten die Russen schlecht ab. Gegen Österreich gab es bekanntlich eine 0:1-Niederlage, gegen die Türkei nur ein 1:1. Zu zahnlos, in letzter Konsequenz nicht bissig genug, präsentierten sich die Russen. Wir beleuchten nun die Mannschaftsteile einzeln.

Keeper über dem Zenit

Wie unpassend, dass ausgerechnet der langjährige Torhüter von ZSKA Moskau seinen Zenit überschritten hat. Der Kapitän der Sbornaja, Igor Akinfeev, hat 106 Länderspiele auf dem Buckel und ist seit über 14 Jahren Stammkeeper bei ZSKA. Dennoch sind die Leistungen des mittlerweile 32-Jährigen nicht mehr das, was sie etwa vor zehn Jahren waren, als er als einer der besten Keeper Europas gehandelt wurde. Als eine der Führungspersönlichkeiten des Teams ist er aber gesetzt und es kann keine Diskussion über eine mögliche Sensation im Tor der Russen aufkommen. Einen Besseren hat das Land derzeit einfach nicht, auch wenn er schon mal deutlich stärker war und immer wieder schräge Gegentreffer gut ist.

Ein alter Haudegen als Abwehrchef

Unglaublich, aber wahr: Sergej Ignashevitch, der einen Tag vor dem WM-Finale seinen 39.Geburtstag feiern wird, ist bei den Russen immer noch als Abwehrchef gesetzt. Dies hat sicher auch damit zu tun, dass er seit 13 Jahren vor Akinfeev bei ZSKA Moskau spielt und bereits 122 Länderspiele für Russland abspulte. Geballte Routine ist hier also gesichert – allerdings auf Kosten der Spritzigkeit. Wenn also Spieler wie Salah oder Suárez die russische Innenverteidigung andribbeln, liegt große Verantwortung auf dem zweiten, jüngeren Innenverteidiger. Momentan sieht es danach aus, als wäre der 24-jährige Senkrechtstarter Ilya Kutepov von Spartak Moskau der aussichtsreichste Kandidat. Aber auch Vladimir Granat, 31-jähriger Routinier von Rubin Kazan hat Chancen, während Andrey Semenov von Akhmat Grozny nur Außenseiterchancen auf einen Platz hat. Kutepov wäre hier sicher die beste Variante für Trainer Cherchesov, denn der Spartak-Akteur ist nicht nur recht schnell und passabel im Aufbau, sondern auch noch 191cm groß, was zumindest den physischen Faktor verbessern würde. Insgesamt ist aber auch hier klar: Viel schwächer waren die Russen in der Innenverteidigung schon lange nicht mehr besetzt und es fehlt eindeutig der Faktor Spritzigkeit.

More of the same in der Außenverteidigung

Als Linksverteidiger ist Fedor Kudryashov von Rubin Kazan ein heißer Tipp, auch weil Cherchesov große Stücke auf den 31-Jährigen hält und ihn spät ins Team holte, nachdem er zuvor immer wieder übersehen wurde. Aber auch der routinierte Yuri Shirkov könnte links hinten spielen, wobei er eher im Mittelfeld zu erwarten ist, damit er kein allzu großes Laufpensum abspulen muss. Zudem fiele mit Zhirkov als klassischem Linksverteidiger die Variante weg, dass der auch innen starke Kudryashov ballfern nach innen rücken könnte. Rechts wäre Cherchesov gut beraten, den gebürtigen Brasilianer Mário Fernandes von ZSKA Moskau dem zwei Jahre älteren Smolnikov von Zenit St.Petersburg vorzuziehen. Auch Fernandes wurde erstmals von Cherchesov ins Nationalteam einberufen, dennoch war er immer wieder ein Wackelkandidat und es wurde der routiniertere, aber dafür kaum vor Esprit sprühende und pragmatische Smolnikov vorgezogen. Einen wirklich kompletten und zudem noch im besten Fußballeralter befindlichen Außenverteidiger hat Cherchesov jedenfalls nicht.

Der Superdribbler und sein Zwilling

Den defensivsten Mittelfeldakteur der Russen „muss“ praktisch Aleksandr Golovin von ZSKA Moskau geben. Der 22-jährige Shooting Star ist wohl der wichtigste Motor im Spiel der Russen, kann sich Bälle aus der Tiefe holen, sogar abkippen und ist auch resistent gegen quirlige, flinke Gegenspieler. Golovin hat den Vorteil, auch am linken Flügel spielen bzw. viel zwischen Positionen pendeln zu können. Als Achter wäre der hart arbeitende Yuri Gazinskiy die logischste Variante, zumal der 28-Jährige vom FK Krasnodar ein sehr wichtiger und vor allem physisch starker Akteur gegen den Ball ist. Roman Zobnin von Spartak Moskau und Daler Kuzyaev von Zenit St.Petersburg sind recht klassische, unspektakuläre Alternativen. Interessanter wird es allerdings auf der Zehn, denn dort spielt mit Aleksey Miranchuk von Meister Lok Moskau ein potentieller Shooting Star des Turniers. Der 22-Jährige ist auf der Zehn eine echte Wucht, technisch stark, gut im Kombinationsspiel und vor allem torgefährlich. Auf die Nummer 15 der Russen gilt es also ein Auge zu werfen – wenngleich man ihn nicht mit seinem Zwillingsbruder Anton Miranchuk mit der 16 verwechseln darf. Der spielt auch bei Lok Moskau, ist auch ein richtig guter Spieler, aber nicht so dominant wie Aleksey. Und zu guter Letzt wäre da noch der 27-jährige Alan Dzagoev, der aber ein wenig stehenblieb und sich nicht zum absoluten Star von ZSKA und der Sbornaja entwickelte, wie man es in seinen jungen Jahren noch vermutete. Für die Zehn und diverse Ausweichbewegungen ist er dennoch weiterhin eine heiße Alternative.

Halbseidene Lösungen an den Flügeln

Auch an den Flügeln fehlen bei den Russen ein wenig die Alternativen. Links können, wie bereits erwähnt, Golovin oder Zhirkov spielen. Zudem ist Denis Cheryshev von Villarreal weiterhin eine Option, wenngleich dieser sich so gar nicht in die Richtung entwickelte, wie man es einst im Real-Madrid-Nachwuchs erwartete. Insgesamt ist wohl der turniererfahrene Zhirkov tatsächlich die wahrscheinlichste Variante für die linke Außenbahn, während rechts mit dem 33-jährigen Aleksandr Samedov ein Spieler gesetzt ist, der in jüngeren Jahren richtig viel Freude bereitete. Aber auch Samedov ist, wie viele andere im russischen Team, ein Auslaufmodell, das mit jüngeren, laufstarken Gegenspielern Probleme haben wird. Auch an den Flügeln kann die russische Auswahl also nicht wirklich punkten.

Smolov als Alleinunterhalter und ein Riese als Backup

Bleibt noch der Angriff – wo es eigentlich nur zwei Möglichkeiten gibt. Fedor Smolov vom FK Krasnodar sollte gesetzt sein und der 196cm große Artem Dzyuba ist der Mann für die brenzligen Momente in Schlussphasen. Während Smolov in Krasnodar in den letzten drei Jahren eine großartige Torquote aufwies und auch im Team brav netzt, spielte Dzyuba zuletzt leihweise in Tula und war speziell Abnehmer von Flanken, ohne das Spiel seiner Mannschaft technisch groß zu unterstützen. Da Smolov aber im letzten Jahr mit einem Doppelpack gegen Spanien und Treffern gegen Frankreich und Südkorea aufhorchen ließ, könnte er dieser eine Dosenöffner sein, den die Russen dringend brauchen. In der Breite ist aber auch der Angriff einer russischen WM-Mannschaft nicht würdig. Auch hier gab’s bessere Zeiten.

Systemumstellung kurz vor dem Turnier

Stanislav Cherchesov ist seit August 2016 Trainer und aktuell zukünftiger Ex-Trainer der Sbornaja. Lange Zeit fixierte er sich aufgrund eines markanten Spielerengpasses auf mehreren Positionen, auf Systeme mit Dreierkette, ließ etwa im 3-5-2 oder im 3-4-3 spielen. Und all das, um in den letzten beiden Spielen vor der WM auf ein 4-2-3-1 umzustellen, die Mannschaft endgültig zu verunsichern und trotzdem nichts zu gewinnen. Von 20 Spielen als Teamchef gewann er nur fünf und sein Punktschnitt beträgt 1,05. Nach dem Vorrunden-Aus wird auch er sich nach einem neuen Job umsehen müssen.

Die abseits.at-Einschätzung

Russland ist nicht nur personell äußerst dünn besetzt, sondern auch spielerisch zu schwach und nicht geeignet für das Spiel gegen wuselige, schnelle Gegner. Vor diesem Hintergrund wird sogar schon das Eröffnungsspiel gegen Saudi-Arabien ein Husarenritt. Wir gehen davon aus, dass Russland bereits in der Vorrunde die Segel streichen wird.

Daniel Mandl Chefredakteur

Gründer von abseits.at und austriansoccerboard.at | Geboren 1984 in Wien | Liebt Fußball seit dem Kindesalter, lernte schon als "Gschropp" sämtliche Kicker und ihre Statistiken auswendig | Steht auf ausgefallene Reisen und lernt in seiner Freizeit neue Sprachen

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