Ich komme zu spät, aber ich bin da. Das erste Achtelfinalspiel möchte ich in heimeliger Atmosphäre im Dorfwirtshaus sehen und kommentieren. „Public viewing“ quasi, aber so viel „public“ ist gar nicht da. Nur einige wenige Herren schlürfen ihr Bier. Okay, es ist peinlich, aber ich gebe zu: Ich habe die ganze erste Hälfte versäumt. Rasch suche ich um Aufklärung: „Ans – Ans steht’s, owa Chile is besser!“ In der Tat, später werde ich feststellen, dass die Selecao von einem möglichen Achtelfinalaus wie gelähmt scheint. Chile spielt dagegen taktisch diszipliniert und lässt wenig zu.
„Im Wirtshaus, da bin i wia z’haus!“
Da plötzlich Hulks Tor, doch der Treffer zählt nicht. „Geh schleich di, Oida.“, schreit der örtliche Jäger links vor mir. Und ich dachte bislang, er würde Chile die Daumen drücken. Der Waidmann, der kurz vor Beginn der zweiten Halbzeit noch seinen kleinen Hund aus dem Barkeller gebracht hat – wegen der Tierquälerei warats, redet sich in Rage. So frenetisch, dass ich meinen Tischnachbarn frage, ob er etwa betrunken sei: „Na, der is‘ immer so.“ Jetzt plänkelt das Spiel dahin, insgeheim hoffe ich schon auf ein Elfmeterschießen. Doch davon sind wir zu diesem Zeitpunkt noch weit entfernt. Währenddessen dreht sich die Wirtshaus-Diskussion um interessante Theorien: „Wer eine scheiß Matt‘n heut hat, der spüt a so. Vom Dani Alves hob‘ i heit nix g’sehn.“
„Die Rapid-Viertelstund‘ kummt erst!“, möchte einer Hütteldorfer Verhältnisse auf die WM-Endrunde umlegen. Bis zur letzten Minute wird an einen entscheidenden Treffer geglaubt: „Is no net aus. – Aus ist!“. Die 90 Minuten sind um und es geht in die Verlängerung, auch mit unseren Getränken. Ich bleibe beim großen Soda Zitron, das würde bestimmt auch den Spielern gut tun. Denn laut ORF-Pariasek werden „die Spieler jetzt frisch gemacht.“ Kurz darauf vermeldet der Moderator die „Untertreibung des Jahres“: „Für Brasilien wäre ein Ausscheiden eine mittlere Katastrophe.“
Die erste Hälfte der Verlängerung: Brasilien drückt, doch ich spüre, dass das nichts mehr wird. Eine Flanke in den letzten Minuten und ein Riese taucht auf dem Spielfeld auf. „A Mords-Kopfballspieler is‘ im Bild“, schreit der Wirt. Es ist aber nur ein Gast, dessen Körpergröße lange Schatten auf die Leinwand wirft. Witzigerweise trägt besagter Herr denselben Nachnamen, wie ein ehemaliger Rapid- und Salzburgkicker, der ebenfalls für seine Körpergröße bekannt ist.
Das Phlegma der Zuschauer kennt zu dieser „späten“ Stunde keine Grenzen mehr. So wird ein Aufstützen wie folgt kommentiert: „Was soll er denn machen, wenn er kleiner ist?“
Nun endlich: Das Elferschießen beginnt. Der Jäger hält es nicht mehr aus und verlässt den Raum, der Rest übt sich im Wahrsagen, wer seinen Strafstoß verwandeln und wer scheitern wird.
Siehe da – oft stimmen Prognose und Wirklichkeit überein. Roman Mählich hat Recht: Elferschießen ist keine Glücksfrage, sondern ein Nervenkrimi. Oder doch etwas anderes? Einer verrät seine Theorie: „Die mit den Schneckerln, san die besten Elferschützen.“ Ruhig und besonnen wird dem Chile-Kicker, der einen der letzten Elfer ins Kreuzeck verwandelt hat, zugeschrieben, er würde „bissl Risiko“ nehmen.
Wanken, aber nicht fallen
1998 musste der spätere WM-Sieger Frankreich ins Elfmeterschießen gegen Italien. Champion Brasilien blieb ein solches vier Jahre später erspart. 2006 siegte der künftige Weltmeister Italien im Elfmeterschießen gegen Frankreich im Endspiel. 2010 behielt Bezwinger Spanien die weiße Weste. Erst Mitte Juli werden wir wissen, ob der neue Weltmeister auch eine derartige Prüfung überwinden musste. Sportpsychologisch steht aber wohl fest, dass ein erfolgreiches Elfmeterschießen gegen einen womöglich stärkeren Gegner eine nicht unerhebliche Motivationsspritze darstellen kann.
„Die Angst des Tormanns vorm Elfmeter“ ist nicht ganz korrekt. Richtig viel zu verlieren hat einzig und allein der Schütze. An Mimik und Gestik erkennt man schon die Sicherheit des möglichen Torschützen, ein weiteres deutliches Indiz dafür ist die Art des Anlaufens: Bleibt der Stürmer kurz vor dem Treten des Balles stehen oder verlangsamt radikal seine Schritte beinahe bis zum Stillstand, ist die Möglichkeit eines Verschießens gigantisch. Die Ausnahme am gestrigen Abend, die diese Regel bestätigt: Neymar. Willian dagegen hatte Chiles Tormann Bravo bereits gut verladen, dann aber danebengeschossen. Das ist Pech. Aranguiz musste seinem Team nach zwei gehaltenen Schüssen Selbstvertrauen einimpfen und knallte den Ball so ins rechte Kreuzeck. Eine wirkungsvolle Maßnahme. Der Brasilianer Hulk vergab darauf: Unsicherer Anlauf, schlecht geschossener Elfer: Die Ecke war leicht zu erraten. Diaz wollte seinen Chilenen nochmals die Möglichkeit eines Sieges vor Augen führen, doch in dieser Atmosphäre musste La Roja nicht nur Tormann Julio Cesar sondern auch jeden Zuschauer besiegen: Jara erwischte nur die Stange. Das ist Pech. Schon wieder.
Marie Samstag, abseits.at
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