Die unerträgliche Leichtigkeit des S(ch)eins – Hannes Kartnig und der SK Sturm
Fußball & BusinessGesellschaft & Ethik 14.September.2020 Marie Samstag
Tagträumen, das tun die meisten Menschen. Sie spielen mit ihren Gedanken, versetzen sich in Situationen, die so meist nie stattfinden. Ich tue das auch. Oft gibt es keinen konkreten Anlass, manchmal aber schon. Da drückte ich jüngst gelangweilt auf meinem Smartphone herum und justament fiel mir ein Interview mit einem Herrn, den ganz Fußballösterreich kennt, in die Hände: Hannes Kartnig wurde vom notorischen Boulevardblatt anlässlich des 20‑Jahr‑Jubiliäums von Sturm Graz in der Champions League zum Gespräch gebeten. Er, „einer der Schöpfer des schwarz-weißen Fußballwunders“. Aha. Oder nicht?
Retrospektive
Ich muss zugeben, dass ich nicht unbefangen bin. Damals, als die Steirer sowohl national als auch international reüssierten, war ich ein fußballbegeistertes Mädchen, dem die Dominanz von Sturm endlos schien. Erstaunt musste ich später feststellen, dass die Grazer in dieser Zeit „nur“ zwei Meistertitel geholt hatten, denn Ivo Vastić, Super Mario Haas, der Moment, als Roman Mählich mit heruntergerollten Stutzen erklärte, wie er mit Weltstar Beckham auf Tuchfühlung ging, „Steirermen“, die „very good“ „san“, und natürlich der polternde Präsi, der sich gern als Napoleon von der Mur inszenierte, sind für mich als freskenhafte Erinnerungen ganz präsent, wenn ich an jene Zeit denke, in der wir an endlosen Sommerabenden erst zu kicken aufhörten, wenn wir den Ball nicht mehr erkennen konnten, das Fernsehbild „grieselte“, Oma mir das Butterbrot in Streifen schnitt und mein größtes Problem die freitägliche Rechenprobe war. Man sieht also, die Erfolge von Sturm Graz verbinde ich – inklusive bittersüßer Nostalgienote – vorwiegend mit meiner Kindheit. Deswegen, gerade deswegen, schreibe ich diese Zeilen.
Der langjährige Rapid-Präsident Rudolf Edlinger hat anlässlich seines Rückzuges im Hinblick auf seine Risikofreudigkeit erklärt, dass die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit seines Vereins für ihn immer im Vordergrund gestanden hätte. „Rapid wird nicht in den Konkurs gehen und der Präsident nicht in den Häfn“, stellte Rudi ohne Wenn und Aber klar. Anno 2013 war das ein Seitenhieb auf den FC Tirol und die beiden Grazer Klubs; auf Vereine, die sich ihre Sensationen im Endeffekt teuer erkauft hatten, weil sie sie am Ende des Tages mit ihrer Existenz bezahlten. Mittlerweile „feierte“ auch der SV Mattersburg unter der Führung von Martin Pucher Einzug in diese Hall of Shame. In Lustenau, Leoben und Bregenz frisierten Funktionäre die Bilanzen, wurden verurteilt und hinterließen zerstörte Vereine, die sich heute im sportlichen Vakuum befinden. Für diese ist es – salopp formuliert – blöd gelaufen.
Die nicht vorhandene Moral in der Medienlandschaft hat unfreiwilligen Unterhaltungswert. Ob Revolverblatt oder seriöse Presse, niemand scheut sich mit Hannes Kartnig, dem mehrfach verurteilten Ex-Präsidenten, zu sprechen. Die Meinung des gebürtigen Gleisdorfers hat Gewicht. Dass Kartnig den Verein nach kurzem Höhenflug bankrott gemacht, seine Mitbewerber betrogen, die Volkswirtschaft geschwächt hat, wird außen vorgelassen. Er wird nach wie vor als Vater des Erfolges gefeiert. Diese besondere Chuzpe kann nur auf mangelnde Fantasie zurückgeführt werden, weil der Super-GAU nur zufällig nicht eingetreten ist. Der Mann mit charakteristischem Vollbart und Zigarre bleibt daher in der Öffentlichkeit der Mann, der für den ersten Meistertitel in der Steiermark gesorgt hat. Das merken sich die Leute. Oder nicht?
Endabrechnung
Wagen wir folgendes Gedankenexperiment: Der SK Sturm hätte sich von dem im Herbst 2006 angemeldeten Konkurs nicht mehr erholt und würde heute irgendwo zwischen 8. und 6. Liga herumdümpeln. Es hätte keinen Meistertitel 2011, keine Cupsiege 2010 und 2018 gegeben. Spieler wie Jantscher oder Beichler hätten den Verein schon als Kinder verlassen, um ihre fußballerische Ausbildung in der Akademie eines Bundesligisten fortzusetzen. Ein Samir Muratović wäre nie nach Graz gewechselt. Kurz: Sturm befände sich in einem Albtraum aus Zwangsabstieg, Lizenzverweigerung, Neugründung, Schulden, Anklageschriften – wie es der traditionsreichere (weil ältere) Stadtrivale vorgemacht hat. Hannes Kartnig würde vom Hausreporter wohl kaum als Mister Sturm gefeiert werden. Er würde nicht sagen, dass sein Verhalten mit dem steuerschonenden Modell (!) nicht ganz korrekt war, aber (!) … . Er würde wie Dieter Sperger (Lustenau), Hans Linz (Leoben) und Hans Grill (Bregenz; mittlerweile verstorben) nur mehr als Randnotiz wahrgenommen werden. Die – unbestreitbar errungenen – Erfolge wären verfärbt, der Verein ruiniert und Fanherzen gebrochen. Kartnig hat aber Glück: Die Realität ist auf seiner Seite.
Nur nebenbei bemerkt, entsprachen einige seiner Praktiken als Präsident – abgesehen von ihrer strafrechtlichen Relevanz – auch nicht dem fair play– Gedanken, womit man die Wertigkeit der Triumphe in Frage stellen kann. Aber als Konter gibt es für solche Kritik den Einser-Schmäh und den hat der streitbare Unternehmer selbstverständlich parat: „Schwarzgeld haben ja alle bezahlt – aber ich war der Vorlauteste, deshalb ist mir letztlich passiert, was passiert ist“.
Natürlich spiegelt der Umgang mit Kartnig auch unser gesellschaftliches Wertesystem, in dem Weiße-Kragen-Kriminalität nur die Lightversion einer Straftat ist, wider. Ich kann mir zwar Verständnis dafür abringen, wenn sich Sturm-Fans damit trösten, dass die goldene Jahrtausendwende ihrem Herzensklub „wenigstens“ eine Anhängerschaft beschert hat, von der dieser heute noch zehrt. Im Paralleluniversum wären allerdings jene Leute, die nicht vom Gloryhunter zum eingefleischten in-guten-wie-in-schlechten-Zeiten-Fan mutiert wären, sowieso nicht mehr an Bord. Es gäbe nichts außer Erinnerung, die mit jedem Jahr dunkler würde. Bis schwarz-weiße Erfolge nur mehr schwarz-weiß sind. Aber keine Sorge, es war ja nur ein Tagtraum, der nichts mit der Wirklichkeit gemein hat. Oder nicht?
Marie Samstag, abseits.at
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