Christoph Schröder schreibt und pfeift: Er arbeitet als freier Autor und Literaturkritiker, in seiner Freizeit ist er Amateurschiedsrichter. 2015 hat der Deutsche seine beiden... Buchrezension: „Ich pfeife“ von Christoph Schröder

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Christoph Schröder schreibt und pfeift: Er arbeitet als freier Autor und Literaturkritiker, in seiner Freizeit ist er Amateurschiedsrichter. 2015 hat der Deutsche seine beiden Leidenschaften verbunden und ein Buch über seinen Werdegang herausgebracht. Angefangen hat es 1979 als Schröder und sein älterer Bruder vom Vater zu einem Punktespiel nach Darmstadt mitgenommen werden. Es sollte ein denkwürdiges Erlebnis für den kleinen Stöpsel werden: Als die Darmstädter Fans nach einem Gegentreffer ihren Schlachtruf „Lilien, Lilien!“ anstimmen, fragt sich der Fünfjährige verzweifelt: „Warum rufen die Linie? Das war doch klar ein Tor.“ Die Leidenschaft für den Sport ist mit diesem Tag jedenfalls erfolgreich in ihm angelegt worden. Der Vater – ein gebürtiger Hamburger – versucht seine Söhne zwar zu HSV-Anhängern zu machen, scheitert aber bei Christoph: Frühkindliche Rebellion gegen das Elternhaus treibt ihn zunächst in die Arme der Roten aus München, Klassenkameraden machen ihn schließlich zum Frankfurt-Fan. Der Eintracht drückt Schröder bis heute die Daumen, die Liebe trübte nur jene Zeit, als Friedhelm Funkel Coach der Schwarz-Weißen war: „Ein Mann, der – wie es mir scheint – voller Verachtung auf die Arbeit der Schiedsrichter blickt.“ Ab seinem sechsten Lebensjahr steht Christoph Schröder beim SV Nauheim 07 im Tor. Er ist ein guter, aber kein überragender Tormann und daher häufig nur Ersatz. Als 14-jähriger soll ein Schiedsrichter-Lehrgang Abwechslung in seine Vereinskarriere bringen. Mit dem Fahrrad geht es jetzt in die benachbarte Kreisstadt in das Hinterzimmer des Vereinsheims „um dem Mann mit dem Schnurrbart zuzuhören.“ Fünf Tage dauert die Basisausbildung, nachher weiß Christoph wie hoch die Eckfahne sein muss oder wie man einen indirekten Freistoß richtig ausführt. Die „friedliche bundesrepublikanische Bürgerkindheit“ wird nun von einem spannenden Leben als oft meist gehasster Mann am Platz abgelöst. Er ist dabei, aber nicht mittendrin: So wie damals als Torwart. Schröder hat den einstigen DSF-Slogan für sich umgedreht und lebt damit bis heute glücklich. Er liebt sein Hobby und die Atmosphäre auf ackerartigen Plätzen in der hessischen Provinz. Einmal wird man nach dem Match auf ein Bier eingeladen, dann wieder verweigern Wirte die Bedienung.  Denkwürdige Spiele hat er geleitet, wie ein Match im Hinterland in strömendem Regen, bei dem die Heimmannschaft eine 2:0-Führung aus der Hand gab und danach drei Platzverweise kassierte. In der letzten Minute der Nachspielzeit vergab der Stürmer der Gäste den Strafstoß auf den Siegtreffer. Keiner der Zuschauer oder Spieler pöbelte Schröder nach Schlusspfiff an, alle waren sie wie elektrisiert von der Partie mitten im Naturschauspiel. Heute denkt der 43-jähriger immer wieder an dieses Spiel: „Und dann weiß ich wieder, warum ich immer noch Schiedsrichter bin. Und dass das Aufhören mir unglaublich schwerfallen wird.“

Ein Schiedsrichter ist auch ein Sportler

Der Referee muss immer funktionieren. Anders als die Kicker hat der Unparteiische zwischen dem 35. und 45. Lebensjahr den Zenit seiner Leistungsfähigkeit erreicht. Bis dahin muss er sich körperlich und mental fithalten. Waldläufe zur Konditionssteigerung gehören mittlerweile zu Christoph Schröders Alltag, dabei denkt er über die Tabellensituation, den Anfahrtsweg zum Spiel und das Wetter am Matchtag nach. Regelmäßige Lehrgänge und Online-Tests überprüfen das Wissen der Referees. Kuriose Fragen sind keine Seltenheit: Was passiert, wenn der Elfmeterschütze den Ball zu seinem Mitspieler nach hinten „ferserlt“? Schröder ist so abergläubisch wie die Kicker und hat seine eigenen Rituale: Er packt seine Tasche immer in der gleichen Reihenfolge, dann rasiert er sich, spülte die Nase durch und isst drei Stunden vor dem Spiel Spaghetti Bolognese. Spaghetti gehören zum Spieltag, wie das Bier und die legendäre Bratwurst nach dem Match. Hochgerechnet verspeist Schröder pro Jahr 1500 Würstel auf Sportplätzen im ganzen Land: „Die Bratwurst ist die ewige Konstante im rasenden Wandel der Zeit.“ Fredi Bobic legendärer Sager von der blinden Bratwurst hat also doch etwas mit dem Schiedsrichter zu tun.

Als Christoph Schröder noch als Abiturient seine ersten Spiele pfeift, fährt er mit der Straßenkarte bewaffnet in seinem klapprigen Fiat Panda die ganze Provinz ab. Im ersten Match sanktioniert er ein umstrittenes Foul im Strafraum und hat daraufhin das gesamte Heimpublikum gegen sich. Trotzdem: „Als ich die Wirtschaft verließ, wurde ich mit Handschlag verabschiedet“, der Groll gegen den schwarzen Mann hat sich schnell verzogen. Von nun an kämpft er mit den Problemen eines Amateurschiris: Plätze, die nicht rechteckig sind, Platzwarte, die sich beim Linienziehen nicht die Finger schmutzig machen wollen, Schiedsrichterkabinen, die so dreckig sind, dass man seinen Augen nicht traut. Während in der Bundesliga Buffet und Fernseher für die Schiedsrichter bereitstehen, muss sich der Kreisliga-Referee mit einem Kammerl begnügen, indem meistens Telefon, Waschmaschine oder Wäscheschrank untergebracht sind. Einmal waren beide Tornetze in der Nacht vor dem Spiel von einem Witzbold aufgeschnitten worden, der Trainer der Heimmannschaft holte rasch hunderte Kabelbinder aus seinem Betrieb um diese notdürftig zu flicken. Über eine Stunde arbeiten mehrere Leute daran und das Spiel konnte schließlich pünktlich angepfiffen werden. Es endete 0:0. Diese Geschichte ist nur eine von vielen, die „Ich pfeife“ lesenswert machen. Gefühlvoll ohne kitschig zu werden erzählt er von tollen Erlebnissen auf und abseits des Feldes. Schröders Buch ist eine Hommage an das Leben als Schiri. Daneben gewährt der Deutsche Einblicke in die Gedankenwelt eines Schiedsrichters, die die Handlungen der Männer in Schwarz für den Außenstehenden nachvollziehbar machen: „Die ersten zehn Minuten gehören dem Schiedsrichter. Hier legt er die Maßstäbe fest, hier macht er deutlich, welche Spielweise er duldet und welche nicht, was er sich gefallen lässt und was nicht, wie er sich ansprechen lässt und welchen Tonfall er sich verbittet.“ Das Alphatier – das ist manchmal der Kapitän, aber nicht immer – wird zum Vermittler zwischen dem Mann in Schwarz und der jeweiligen Mannschaft. Er ist der Erste, der „mal nachfragt, was das denn jetzt war“, wenn ein Foul gegen sein Team gepfiffen wird. Schröder schnappt sich diesen Leitwolf und kommuniziert durch ihn mit seinem Team. Ihm gegenüber darf man nie seine Macht ausspielen, sagt er. Überhaupt sollte der Referee nie sein Gesicht verlieren, sonst entgleitet die Partie. Die Stürmer sind die Problemgruppe, weil sie – laut Schröder – die fremdesten Akteure auf dem Platz sind. Sie sind diejenigen, die eigentlich einen Vogel haben – nicht die Torhüter. Schröder berichtete von Matches, die durch die Einwechselung eines bestimmten Angreifers gekippt sind. Die Verbissenheit des eingewechselten Offensivmannes wirkte sich auf die Giftigkeit aller Spieler aus und führte so oft zu Gehässigkeiten und brutalen Fouls. Der Spielmacher dagegen bekommt vom Schiedsrichter meist eine Extrabehandlung: Er wird gebauchpinselt. Auf den Techniker, der sich Provokationen und Unfairness gefallen lassen muss versucht der Schiedsrichter immer beruhigend einzuwirken, damit dieser nicht austickt. Bei den Trainern unterscheidet Schröder zwischen klassischen Fußballlehrern wie Guardiola oder Rangnick und Coaches, die als emotionale Motivatoren bekannt sind. Das Rumpelstilzchen à la Jürgen Klopp gehört in letztere Kategorie, die für die Schiedsrichter schwer zu handhaben sind. Schröder vermisst die Lockerheit von früher, es wird heute verbissen und überhart gespielt. Schon in der Kreisklasse macht man alles nach, was man sonst im Fernsehen sieht, einzig der Fußball – um den es ja geht – bleibt auf Amateurniveau. Egal ob Torjubel-Choreografien oder Freistoßtricks, die nicht klappen, alles ist darauf zurückzuführen, dass es heute zu viel Fußball gibt: Der Fernsehkonsument kann zwischen Champions League, Erster und Zweiter Liga und dem Bayern-Gastspiel im Nahen Osten wählen. Der echte Fußball von nebenan bleibt auf der Strecke.

Der liebeskranke Assistent

Wissen Sie warum es die gelbe und rote Karte gibt? Den Geistesblitz hatte ein englischer Schiedsrichterbetreuer bei der WM 1966, als sein deutscher Kollege Mühe hatte einen vom Platz Verwiesenen vom Feld zu bekommen. Bei einer Verkehrsampel kam dem Schiri die Idee. Überhaupt ist die Evolution der Fußballregeln mitunter recht kurios von statten gegangen: Zidanes Platzverweis nach seinem Kopfstoß gegen Marco Materazzi war zum damaligen Zeitpunkt nicht regelkonform. Weder der Schiri noch seine Assistenten hatten die Tätlichkeit zunächst wahrgenommen, es war der vierte Offizielle, der die Szene auf Video beobachtete und einschritt. Die Entscheidung der Unparteiischen wurde im Nachhinein goutiert als dieser Präzedenzfall zur Änderung der Regelung führte: Jetzt darf ein Schiri auch eine Tätlichkeit ahnden, wenn er zwischenzeitlich das Spiel schon fortgesetzt hat. Pierluigi Collina schuf eine „lex collina“ als er einem bereits ausgewechselten Spieler Rot zeigte. Diese Praxis wurde ebenfalls erst rückwirkend erlaubt. Der größte Einschritt war für Christoph Schröder jedoch die sogenannte „Zuspielregel“ aka Rückpassverbot. Schalke 04 verflucht diese seit 2001: Der Freistoß, den Patrik Andersson für den FC Bayern gegen Hamburg, versenkte und die Münchner somit zum Meister krönte, wäre ohne diese nie gepfiffen worden. „Kontrolliertes Zuspiel“ – wieder so ein Begriff, der vom Referee Fingerspitzengefühl erfordert. Am Schwierigsten sind die Hand-Strafstöße. Christoph Schröder gibt zu: Er pfeift sie nach Gefühl. Lieber eines zu wenig, als eines zu viel. Die schlimmsten Momente sind für ihn jene, wenn er eine Situation zwar erahnen kann oder sie sogar mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit erkennt, sie aber mangels eigener Wahrnehmung nicht pfeifen kann. Fehlentscheidungen sind genauso katastrophal. Man müsse sich von dem Gedanken lösen, dass man alles objektiv beurteilen können. Objektiv werde ein Spiel nie gepfiffen, sagt er und zieht Parallelen zu seinem Beruf als Literaturkritiker, den er gar nicht objektiv ausüben kann. „Eine Entscheidung ist eine Entscheidung ist eine Entscheidung“, meint er kurz und knapp. Die berühmten Schiri-Blackouts à la Wembley-Tor oder Frank Lampards Lattenpendler in Südafrika machen gerade den Reiz des Spieles aus. Diese Rasanz des Fußballs, die bei American Football oder Eishockey nicht vorhanden ist, sollte man dem Sport nicht nehmen, findet Schröder. Deshalb ist die „Wahre Tabelle“ für ihn uninteressant, denn sie berücksichtigt die Dynamik des Spieles überhaupt nicht. Christoph Schröder findet, dass Technik zur Hilfe des Schiedsrichters nur dort eingesetzt werden sollte, wo sie sicher, schnell und sinnvoll ist. Er selbst hat noch nie ein Spiel absichtlich verpfiffen und auch noch nie von solchen Begebenheiten unter Schiedsrichtern gehört. Für jemanden wie Robert Hoyzer hat der Hesse nur Verachtung über. Er selbst würde manchmal merken, dass sich Vereine oder Spieler untereinander absprechen. Einen kuriosen Bestechungsversuch hat Schröder doch erlebt: Nach einem Match wurde er auf dem Weg zum Auto von einem betrunkenen Fan aufgehalten, der mit Scheinen nach ihm warf. Schröder und seine Assistenten sammelten die Banknoten brav ein und brachten sie in die hiesige Vereinskneipe: „Ach, das war der Lothar, der macht manchmal so Sachen, wenn er gute Laune hat.“, lächelte der Wirt. Alles ok. In grobe Kapitel geteilt würzt der Hesse seine Geschichte mit solchen grandiosen Kurzanekdoten: Einmal verspätete die Gästemannschaft. Das Navi hatte sie zu einem gleichnamigen Ort 100 km entfernt gelotst und Schröder teilte ihnen telefonisch mit, dass er die vorgeschriebenen 45 Minuten auf sie warten würde. Er gestand dem Team auch zwei Minuten „Nachspielzeit“ zu, am Ende derer der Teambus mit quietschenden Reifen um die Ecke bog. Fünfzehn fix und fertig angezogenen Spieler sprangen heraus und liefen Richtung Platz. Schröder pfiff an und stellte noch in der ersten Hälfte zwei Kicker der Gäste vom Platz. Die Auswärtsmannschaft war aus Angst vor einer Strafverifizierung dermaßen aufgezuckert angekommen, dass sie ihre Emotionen nicht mehr im Griff hatte. An einem anderen Nachmittag musste Schröder seinem Assistenten in der Halbzeitpause den Kopf zurechtrücken: Der gute Herr war am Tag vor dem Spiel bei seiner Freundin in der Bodensee-Region gewesen und erst in der Nacht zurückgefahren. Ohne eine Minute Schlaf beging er nun haarsträubende Fehler. Mittlerweile ist die Dame seine Ehefrau, ist zu ihm gezogen und Fehler dieser Façon gehören endgültig der Vergangenheit an.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag

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