Buchrezension: „Im Inneren der Haut“
Kunst & Literatur 23.Oktober.2016 Marie Samstag 0
Biographische Romane – so etwas mag ich nicht. Mit diesem Vorurteil begegnete ich auch Wolfgang Weisgrams Buch „Im Inneren der Haut – Das Leben des Fußballers Matthias Sindelar“. Wie blöd von mir, denn 400 Seiten später stelle ich fest, dass mir der Roman ziemlich gut gefallen hat. Vor einiger Zeit habe ich mich selbst mit der Lebensgeschichte des Papierenen beschäftigt, Weisgrams Aufarbeitung des Stoffes spielt jedoch in einer eigenen Liga. Kein Wunder, dass es „Im Inneren der Haut“ auf die Shortlist zum Fußballbuch des Jahres 2012 geschafft hat: Ballsportnostalgiker werden es lieben. Aus menschlicher Sicht ist zu bemerken, dass der Autor seinem Protagonisten die Würde lässt, weil er ihn weder von Schuld reinwäscht noch verurteilt. Das Werk bleibt eine fiktive Geschichte. Handlungen und Gedanken werden beschrieben oder erfunden ohne sie in eine bestimmte Richtung zu lenken. Das soll Weisgram erstmal einer nachmachen. Fabelhaft!
Im Kopf des Papierenen
Es ist ein unwirtlicher Wintertag an dem Herr Sindelar ein letztes Mal sein Wohnhaus in der Quellenstraße in Wien X verlässt und Richtung Gellertplatz geht. Dabei rekapituliert er sein Leben: Die Kindheit im Quellenhof, die Jugend im Schmelztiegel der Donaumonarchie, die Zeit als Hertha-Reservist, die Verletzung am Knie, die ihn beinahe die Karriere kostet, die Glanzzeiten bei der Austria: Siege gegen Inter und Sparta, das Wunder-Schmieranski-Team, das Scheiberlspü, die wenigen Frauengeschichten eines Volkshelden, der deutsche Einmarsch und das Alter. Weisgram alterniert hierbei zwischen innerem Monolog, Erinnerungen und Gesprächen mit Zeitgenossen. Sindelars letzter Tag, der 22. Jänner 1939, wird zu einer langen Reise in die Nacht. Dabei wird der Autor der Persönlichkeit des Jahrhundertstürmers mehr als gerecht. Er zeichnet Sindelar so, wie er stets beschrieben wird: Als scheues, besonnenes, genügsames, fußballverrücktes Arbeiterkind. Augenmerk wird dabei auch auf den historischen Kontext gelegt. Anhand von Sindelars Schicksal wird ein Stück österreichische Zeitgeschichte nicht nur oberflächlich, sondern als wichtiges Schlüsselelement für das Leben des Papiernen geschildert: „Amalienbad, ja: Die Amalie Pölzer ist das gewesen, die ihren Namen hergegeben hat für das so schöne Hallenbad. Amalie Pölzer, gestandene Sozialdemokratin, Wiener Gemeinderätin, aber für Matthias Sindelar war sie das alles nur auch. In der Hauptsache, so hatte er es stets gehört von den alten Favoritnern, in der Hauptsache war sie eine Enkelin. Ihr Großvater war jener Mann, der 1888 den Victor Adler ins Werksgelände der Wienerberger Ziegelfabrik geschmuggelt hat. Adler schrieb darüber einen Artikel in seiner Zeitung, „Gleichheit“, über die scham- und rücksichtlose Ausbeutung der böhmischen Ziegelarbeiter.“ So wie Weisgram diesen Zusammenhang gestaltet, entpuppt er sich als Parabel auf einen bestimmten Wiener Menschenschlag um die Jahrhundertwende. Jedoch darf die moralische Botschaft des Buches nicht überbewertet werden: Der gesellschaftskritische Ansatz bleibt ein Ansatz, vielmehr wird die Persönlichkeit eines außergewöhnlichen Spielers schlicht und schnörkellos in den Vordergrund gestellt. Weisgram scheint – nicht wie andere Autoren – fälschlicherweise dem Irrtum aufgesessen zu sein, durch übertrieben Fleiß und Interpretation jenseits des Wortsinnes das Sindelar-Enigma entschlüsseln zu können. Herausgekommen ist deshalb auch kein Märchenbuch oder Pamphlet, sondern ein in sich geschlossener Roman.
Das Haar in der Spucke
Wer „Im Inneren der Haut“ aufschlägt, trifft als Matthias Sindelar Karl Sesta, Hugo Meisl und Guiseppe Meazza, lernt das Tore schießen von Alfred Schaffer oder blödelt mit Pepi Bican, spaziert zwischen der Ostbahn und dem České srdce („Tschechisches Herz“) – dem späteren Horr-Platz – hin und her und isst Würstel mit Saft oder ein kleines Gulasch. Die Figuren werden in dieser Schilderung so plastisch wie die Skulpturen eines Praxiteles. „Karl Sesta ist also, so gesehen, eine echte Ruam, Kriegsersatznahrung, der wahrscheinlich nicht einmal die illuminierte SA böse sein kann, wenn sie von ihm mit dem Anbrunzen bedroht wird.“, beschreibt Weisgram „Schasti“, der sich selbst kein Blatt vor den Mund nimmt und seinen Freund mit „Servas, alter Hurenbock“ begrüßt. Ähnlich Bildhaftes hat Weisgram aus dem leidigen – weil kaum vorhandenen – Frauenthema herausgeholt. Sie – die Frauen – spielen eine besondere – weil ungewöhnliche – Rolle im Leben des Matthias Sindelar. Da gibt es zunächst Mutter Marie und die jüngeren Schwestern. Während „Motzls“ Kindheit träumt die „Maminka“ zwar von einer Rückkehr nach Mähren – „weil für sie Jihlava (Anm.: tschechisch für Iglau) so was war wie Wien, nur wie Wien ohne Favoriten“ -, später ist sie ganz zufrieden damit, dass der „Bub“ auf sie, die Witwe, schaut. Die Schwestern, die Rosl und die Poldi, haben schon eine gute Partie gemacht; nur er ist ihr treu geblieben und betreut sie rührend. Dennoch ist eine Vierte im Bunde schuld daran, dass Sindelars Karriere kurzzeitig Fahrt aufnimmt: 1932 schießt der Papierene im Alleingang die Schweiz, Italien und schließlich Ungarn ab. Zuvor – noch vor dem 5:0-Sieg über Deutschland – hat er beim Praterspaziergang Fräulein Maria Skala aus Hietzing kennengelernt. Die Liebe ist von langer, aber nicht allzu glücklicher Dauer. Die seelischen und fleischlichen Seiten einer Beziehung sind dem fußballspielenden Arbeiterkind zwar sehr angenehm, bei den gesellschaftlichen Begleiterscheinungen steigen „Motzl“ jedoch die Grausbirnen auf. Und so nimmt der Mizzi-Effekt so plötzlich wie er gekommen ist auch wieder ab. Die Trennung von Fräulein Skala nimmt ihn wenige Wochen vor seinem Tod also nicht wirklich mit. Die nächste Dame ist die letzte Frau in seinem Leben. Was sich genau zwischen Camilla Castagnola und Matthias Sindelar zugetragen hat, weiß auch Wolfgang Weisgram nicht. Er interpretiert das letzte Treffen in der Annagasse jedoch mit so viel Fingerspitzengefühl, das genug Raum für eigene Gedanken und die unbekannte Wahrheit bleibt. Der Autor deutet an, was heute die meisten glauben: Castagnola liebt „wie nur Italienerinnen lieben können.“ Gemeinsam träumt man beim Eierlikör zwar noch vom Exil – Castagnola ist Halbjüdin – in Rom, bevor man sich ein letztes Mal bettet. Letztere Szenen verdeutlichen die einzige Schwachstelle des Buches: An manchen Stellen steckt selbst in Weisgrams sprachlich hervorragender Schilderung zu viel Kitsch. Besonders das Treffen zwischen den Liebenden gerät daher (leider) zu einer einfallslosen Männerfantasie. Als bonmotscherl lässt es der Autor auch tatsächlich mit jenem abgegriffenen bzw. abgeschlecktesten Satz, den er aus mir unerfindlichen Gründen bereits gefühlte fünfzehn Mal verwendet hat, enden: „Camilla Castagnola beugt sich, auf ihren linken Arm gestützt, über ihn. Sie leckt über die Fläche ihrer rechten Hand. Und streicht ihm die wirr gelegten Haare nach hinten.“ Als Leser stößt einem dieser Speichelfetisch mit der Zeit wirklich sauer auf. Einmal streicht Mutter Sindelar ihrem Sohn so durch das Haupthaar, dann ist es der Fußballer selbst der sich den Blondschopf anpickt, letztendlich nimmt die Freundin die Geste vor. Welche Metapher dahinter steckt? Das entzieht sich wirklich meiner Kenntnis. Meine Begeisterung für dieses Buch bleibt jedoch ungebrochen. Klare Leseempfehlung!
Marie Samstag, abseits.at
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