Der Kreis schließt sich. Vor fast vier Jahren habe ich mich in einem meiner ersten Artikel mit Paul Scharner beschäftigt. Damals unterstellte ich dem mittlerweile zurückgetretenen Profi zwei Gesichter zu haben: Jenes, des ehrgeizigen Arbeiters und jenes des egozentrischen Gockels. 2015 hat Scharner seine Geschichte aufschreiben lassen. In „Position Querdenker. Wie viel Charakter verträgt eine Fußballkarriere?“ legt der Niederösterreicher Fokus auf die Knackpunkte seiner Fußballkarriere: Der Einwechselzwist mit Jogi Löw, das Bauerntheater Nationalteam, die Jahre in der Premier League, die unglückliche Ehe mit dem HSV. Das Buch liest sich wie eine Rechtfertigung und man fragt sich, wieso ein (!) Paul Scharner so etwas überhaupt notwendig hat. Nach der Lektüre muss man jedoch sagen, dass Scharner viele Zustände im Profifußball – besonders in Österreich – glaubwürdig kritisiert. Da ich mich schon einmal mit dem Sportler auseinandergesetzt habe, fiel es mir eher schwer objektiv an das Werk heranzutreten. Es imponierte mir jedoch, dass Scharner die cojones besitzt kritische Stimmen von Wegbegleitern als Kontrapunkte in seinem Buch gewähren zu lassen. Für den Spieler selbst war das Bild, dass die Öffentlichkeit von ihm hatte sowieso nie das Richtige: „Wenn mich Leute privat kennenlernen, höre ich oft: „Paul, du bist ja ganz anders, als ich dachte.““ Die 200 Seiten- Querdenker kann man leicht in einem Zug durchlesen. Nur an der häufigen Verwendung des Verbs „gucken“, merkt man, dass Scharners Ghostwriter ein deutscher Rechtsanwalt und Sportredakteur ist.
Fußballrebell
„Ich habe immer das Gute gewollt!“, schwört Paul 3.0. (oder welche Zahl auch immer gerade dran ist) im Vorwort. Wenn dem so wäre, wird er irgendwann wahrscheinlich vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr gesehen haben. Schon als Teenager ist der am 11. März 1980 in Scheibbs Geborene von Ehrgeiz geradezu zerfressen. Sein Talent wird reichen, davon ist er überzeugt. Nebenbei will er früh auch die Rahmenbedingungen optimieren: Mutter Helga versorgt ihn mit Audiokassetten zum autogenen Training, beim Essen schneidet der Jungspund jeden Fettrand von Käse und Wurst ab. Zielstrebig aber doch teilweise amateurhaft versuchte sich der spätere Legionär an Nebenschauplätzen. 2012 musste er selbst zugeben, dass die Riesenportion Spaghetti, die er vor jeder Partie in sich hineinschaufelte, sinnlos war: Glutenunverträglichkeit. Von diesem Faux-Pas liest man im Buch jedoch nichts.
Die erste Station des Kickers führt von seinem Heimatverein in die Austria-Akademie nach Hollabrunn. 1999 wird ihm erstmals ein Profivertrag angeboten. Selbstbewusst pfeift er auf einen Vertrag mit umgerechnet 400€-Grundgehalt und lehnt auch ein verbessertes Angebot von Sportdirektor Koncilia höchstpersönlich ab. Heimlich bandelt er mit dem GAK an und unterschreibt dort. Als die Austria Wind davon bekommt, ist Feuer am Dach. Paul knickt ein und nimmt doch deren Offerte an: Zwei Vereine, zwei Verträge. Die Bundesliga selbst interveniert und Scharner kommt mit einem blauen Auge davon. Als Jungspieler bei der Austria wird er im spanischen Trainingslager „gepastert“. Ein ganzes Kapitel widmet der heute 37-jährige dem berüchtigten Aufnahmeritual: Tormann Knaller verschafft sich über den Balkon Zutritt zu Pauls Hotelzimmer und verpasst ihm mit zehn weiteren Kameraden einen schuhcremeschwarzen Popo. Für den Defensivspieler eine Demütigung: „Wie schlimm müssen sich Frauen nach einer Vergewaltigung fühlen?“ Mehrmals spricht er in seinem Buch Situationen an, in denen Profis mit einem hohen Standing ihre Mitspieler vorführen ohne dass jemand einschreitet. Constantini, bei dem er sich beschwert, reagiert mit Unverständnis. Scharners Argumente gegen diesen Aufnahmehabitus sind logisch: „David Beckham musste bei Manchester United im Alter von 16 Jahren vor den Augen seiner Mitspieler masturbieren. Warum ihn das zu einem besseren Profi gemacht haben soll, das muss mir erst noch jemand erklären.“ Für ihn geht es bei solchen barbarischen Bräuchen nur darum die Hierarchie im Team klarzustellen. Damit hat er nicht Unrecht. Schade nur, welche Konsequenzen er daraus für sich gezogen hat: „Ab sofort bin ich ein Einzelkämpfer in einem Team. Wenn ich auf dem Feld stehe, gebe ich 100 Prozent für die Mannschaft. Danach bin ich weg.“ Genau das wird – vor allem im rot-weiß-roten Trikot – zu seinem Problem werden.
Seine Zeit bei den Veilchen hat der gebürtige Purgstaller als chaotisch in Erinnerung. Ein Dutzend (!) Trainer kam und ging, dazu reihenweise teure Legionäre, die auf dem Platz wenig zurückzahlten. Das Training war altmodisch, seine Zusatzeinheiten wurden vom Platzwart höchstpersönlich verboten. Jedoch kocht Scharner von Anfang an auch sein eigenes Süppchen: Weil sein Berater Hobel in Vorarlberg heiratet, pfeift er auf den Zapfenstreich und wird prompt degradiert. Sein Pech: Das sonntägliche Ligaspiel des FAK wird auf Samstag verschoben und Scharner muss mit bleiernen Knochen und Katerkopfweh auflaufen. Er verschuldet zwei Gegentreffer und wird ausgewechselt. Danach parkt ihn der Verein beim Kooperationsklub Untersiebenbrunn. Schuldbewusstsein: Fehlanzeige! In dieser schweren Zeit holt er sich mit seinem Mentalbetreuer Hobel aus dem geistigen Tief: Er setzt sich mit der Premier League ein großes Ziel auf das er langsam hinarbeiten möchte. Der Defensivspieler kämpft sich zunächst in seinen Stammverein zurück und schafft bald darauf den Sprung ins Nationalteam. Bei der Austria gibt es nur wenige, die ihn wegen seiner hohen Ansprüche nicht gleich als weltfremd abschreiben: Christoph Daum ermutigt ihn beispielsweise seinen Weg zu gehen. Umgekehrt streut auch der Spieler dem Trainer Rosen, weil dieser für Kritik und Mithilfe offen ist.
Die Zäsur bei der Austria ist Scharners Positionsstreit mit Joachim Löw. Der vierfache Vater legt im Buch seine Sicht der Dinge dar: Schon vorab hatte er auf seinen Stammplatz im rechten Mittelfeld verzichtet und wollte von Löw eine Chance auf der Sechser-Position haben. Löw war einverstanden – so Scharner. Nur aus diesem Grund verweigerte der Niederösterreicher einen Monat später die Einwechslung: „Ich bin doch ein Mensch, für den ein Handschlag etwas zählt.“ Die Medien und der Klub sehen das anders. Der 23-jährige wird suspendiert und schließt mit seiner Zeit in Wien ab. Brann Bergen ist in seinem Plan vom Wechsel in die Premier League inkludiert. Berater Hobel meint, dass ihn die norwegische Liga auf den harten Insel-Fußball gut vorbereiten würde. In Bergen ist es dunkel und ständig regnet es, doch Scharner, der Panik hat, doch keine Weltkarriere hinzulegen, ist nur aufs Weiterkommen fokussiert. Seine Frau Marlene, die mit zwei kleinen Kindern alle Hände voll zu tun hat, wird im hohen Norden beinahe depressiv. Scharner lässt seine Frau deshalb – wie als nachträgliche Entschuldigung – die Geschichte aus ihrem Blickwinkel erzählen. Er selbst lebt damals in einem permanenten Tunnel. Privat organisiert er sich Mentalwochen mit Coach Hobel: Mit Bungee-Jumping und gezeichneten Karrieretürmen hält er sich immer wieder sein Ziel vor Augen. „Der Erfolg beginnt im Kopf. Man benötigt also einen zündenden Gedanken, der das Handeln begleitet und in dem Ziel endet, das man sich irgendwann im Kopf gesetzt hat.“ Klar, dass sich so ein Mental-Profi an den Minimalzielen des ÖFB stößt. „Ziele sind auch dazu da, um an ihnen zu scheitern.“, weiß Scharner. Und spricht damit aus, was nur Wenige tun. Für seinen Mut sich in Abenteuer zu stürzen muss man den FA-Cup-Sieger von 2013 bewundern. Dass er auch immer gut vorausschaute, unterscheidet ihn – laut Eigenaussagen – vom damaligen Austria-Mäzen Frank Stronach: „Das [Anmerkung: Stronachs Plan mit der Austria] war nicht von vornherein Blödsinn, denn Visionäre braucht das Land, aber es wirkte auf mich in vielen Teilen plan- und ahnungslos.“
In England verhandelt Paul zunächst mit Wigan und Birmingham City. Da ist es ganz praktisch, dass diese über dieselben Farben verfügen und er sich so schon einen blauen Streifen in die Haare färben kann. Scharner Frisurenkreationen gehören zu seiner Außendarstellung als Fußballer: Er habe sich für den Erfolg besonders exponieren wollen. Er wollte eine Art Kunstfigur erschaffen. Wigan ist ein Premier-League-Klub, der aufgestellt ist wie ein österreichischer Landesligist: Kaltes Wasser, Holzbänke, schlechter Rasen. Trotzdem behauptet sich der Ex-Violette und kann den Verein mitreißen, er gewinnt fast 95% der Kopfballduelle und sorgt auch für die notwendigen Treffer, die den Außenseiter regelmäßig aufrütteln. Scharner ist ein Getriebener. Ihm reicht Wigan nicht, nein, jetzt sollen tatsächlich Barcelona, Arsenal, Bayern anklopfen. Außerdem will er im Mittelfeld spielen, nicht als Innenverteidiger, obwohl dort seine Stärken liegen. Seine Erklärung, warum es letztendlich mit dem Toptransfer doch nicht klappte, ist wieder einmal typisch Scharner: „Ganz tief im Inneren sperrte sich eben doch etwas gegen den ganz großen, letzten Schritt in meiner Karriere.“ Schwer vorstellbar, dass der Spieler, der zuvor seine Familie rücksichtslos durch Halb-Europa schleifte, nun nicht zu einem Topklub wollte, weil ihm „300 Tage im Jahr auf Reisen“ zu viel waren. Vielleicht muss auch ein Paul Scharner einsehen, dass ein unbändiger Wille ebenso Grenzen hat. Nach fünf Jahren bei den Latics heuert Scharner bei West Bromwich Albion an, denn die wollen ihn auf seiner Wunschposition einsetzen. Tatsächlich wird seine Karriere nun mit dem Gewinn des FA-Cups einen letzten Höhepunkt nehmen, ansonsten geht es stetig bergab. Sein Engagement beim HSV kommt nicht wirklich in die Gänge, als die Möglichkeit einer Leihe zu seinem alten Klub Wigan besteht, schafft der Niederösterreich dort seinen größten Erfolg: Bereits während seiner ersten Zeit in Greater Manchester stand er im FA-Cup-Finale, nun holt er den ältesten Fußballpokal der Welt. „Du wirst einfach nur den Tag genießen“, rät Hobel vor dem großen Match. Tatsächlich klappt es: 1:0 für Wigan gegen Man. City. Leider wird im nächsten Match der Abstieg aus der Premier League mit einer klaren Niederlage besiegelt. In Hamburg bekommt Paul nicht die „faire Chance“, die er sich wünscht. Er vergleicht den traditionsreichen Klub mit einem planlosen Hühnerhaufen: „Mein Arbeitswille, meine Professionalität, mein persönlicher Einsatz – all das war nicht angekommen.“ Man kann durchaus nachvollziehen, dass Scharner Respekt vermisst. Ist es ihm jedoch einmal in den Sinn gekommen, dass es Menschen gibt, die seine Fähigkeiten für unzureichend befinden und ihm deshalb keine Chance geben wollen? Das muss auch ein Paul Scharner akzeptieren können. Thorsten Fink attestiert er charakterliche Unreife. Überhaupt rechnet der Defensivkicker in diesem Buch mit seinen Trainern ab: Prohaska: „Einen Trainerjob trat er danach [Anmerkung: nach der Zeit bei der Austria] nie wieder an. Für mich kein Wunder.“ Hodgson: „Für mich ist es kein Wunder, dass England unter diesem Trainer bei der WM 2014 in Brasilien ohne jeden Sieg die Heimreise antreten musste.“ Goleador Krankl ist für den Ex-Premier-League-Verteidiger ein alter Held, der keine neue Generation zum Zug kommen lassen will.
Nationalproblem
Mit Krankl beginnt Scharners Clinch mit dem Nationalteam. Der ÖFB und seine Strukturen sind wohl das genaue Gegenteil von Scharners Karriereplänen. Er schlägt vor, dass sich der Verband mit der EM 2008 ein langfristiges Ziel setzen soll: Viertel- oder Halbfinale. Bei den Turnieren 2004 und 2006 hätte man bereits etappenweise darauf hinarbeiten können. Nichts ist passiert. Seinen Kollegen wirft der Legionär mangelnde Fitness und fehlenden Kampfgeist vor. 2006 erklärt er nach viel aufgestautem Frust seine Teamkarriere für beendet. Berater Hobel überredet ihn, es sich nochmal anders zu überlegen und selbst eine Verletzung hält Scharner nicht vor seinem Comeback gegen Italien ab. Doch bald nimmt der Stolz das Trikot mit dem Adler zu tragen wieder ab: Als ihn Constantini als Kapitän absetzten lässt, stellt Scharner den Tiroler brüsk zur Rede. Für ihn ist ein Trainer zwar eine Respektsperson, aber nicht Gott. Dann kommt Marcel Koller und der große CRASH (O-Ton: Scharner). Hinlänglich bekannt ist, dass der Spieler im August 2012 plötzlich das Teamcamp verließ, nachdem ihn Koller nicht als Innenverteidiger einsetzen wollte. Die Begründung des Schweizers: Zu wenig Spielpraxis. Mag sein, dass dies eine Ausrede war, worin aber die „Respektlosigkeit und Missachtung“ von Scharners „professioneller Arbeit, seinen unvergleichlichen Erfolge“ begründet liegen, weiß wahrscheinlich nur der Profi selbst. Der Purgstaller hat eines vergessen: Es ist schön und gut, dass er mit Herz, Hirn und Wadl‘n so für sein Ziel kämpfte. In einem Mannschaftssport wird er aber als Einzelner nicht viel ausrichten können. Diese Worte klingen nur nach Hybris und gekränkter Eitelkeit.
Inhaltlich waren wohl viele mit Scharner einer Meinung, wenn er im Laufe seiner zehnjährigen Teamkarriere Missstände anprangerte. Der Kontext, in dessen Rahmen er diese aufbereitete, kombiniert mit einer eigenwilligen Form von Rhetorik, ließ seine Unmutsäußerungen immer nur nach verletztem Stolz klingen. Er hat immer nur das Gute gewollt? Das Gute für sich jedenfalls. Der Ex-Austrianer hätte sich schon 2006 entscheiden müssen: Endgültiger Rücktritt oder in der ÖFB-Elf bleiben und vor der eigenen Türe kehren. Mit seinem Interview in der Zeitschrift NEWS („Mit Koller fahren wir nie zur WM“) wollte der Spieler übrigens nicht polarisieren, nein, er wollte „radikal etwas verändern.“ Die Scheuklappen, die er Koller hier bescheinigte, sind wohl seine Eigenen im ständigen Streben nach Erfolg. Vielleicht hätte er Skifahren oder Golfspielen sollen.
Marie Samstag, abseits.at
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Marie Samstag
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