Buchrezension | „Spielfeld der Herrenmenschen“ von Ronny Blaschke
Kunst & Literatur 1.September.2024 Marie Samstag
Wer erinnert sich noch daran, als ÖFB-Teamspieler wie Alaba, Junuzović oder Kavlak an einer Kampagne mitwirkten, die behauptete, es sei egal, wo man geboren sei, schließlich zähle nur die Leistung? Solche Werbungen sind ein Eingeständnis dafür, dass ein Problem besteht. Abgesehen von der unguten Verknüpfung, dass Anderswogeborene sich erstmal mit Leistung beweisen müssen, werden bei Anti-Rassismus-Kampagnen stets nur Symptome bekämpft. Dabei liegt Diskriminierung ein systematisches Problem zugrunde; es gibt keine Einzelfälle. Wir alle sind mit einem historisch gewachsenen System verbunden, das unser Denken prägt.
Ronny Blaschke, der 1981 geborene Sportjournalist, beschäftigt sich seit Mitte der 2000er mit der gesellschaftspolitischen Seite des Fußballs. In seinem neuesten Buch „Spielfeld der Herrenmenschen“ deckt er auf, wie sich das rassistische Denken des Kolonialismus bis heute durch den Volkssport Fußball zieht. Für seine vorliegende Expertise ist der gebürtige Rostocker rund um den Globus gereist; war in Brasilien, Namibia, Algerien, England und (natürlich) zuhause in Deutschland. Auf 250 Seiten hat er seine Eindrücke geschildert, über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Fußballs: Wie kam das Kicken in die „Neue Welt“ und wie lebt es fort?
Blaschkes Stil bewegt sich dabei – wie schon in seinen vorherigen Büchern – auf einer nicht scharf gezogenen Trennlinie aus nüchterner Betrachtung und Detailstudie: Der Autor benutzt zwar auch feine Pinsel um seinen Szenen Tiefe zu verleihen, taucht jedoch dazwischen immer wieder auf die Nüchternheit einer Gebrauchsanleitung ab. Das macht das Thema des Buches notwendig: „Spielfeld der Herrenmenschen“ steckt voller Information, die sich kaum komplett verdauen lassen; es ist ein lesenswertes und eindrücklich geschriebenes Buch. Kurz: einfach wichtig.
Gegen die Mythen
Das Fazit des Buches ist traurig: Die FIFA interessiere sich nicht für die Aufarbeitung der fußballerischen Kolonialgeschichte. Zwar präsentiere sie sich als „Entwicklungshelfer“ und Förderer kleiner Nationen, paktiere aber gleichzeitig mit den Superreichen und brauche die „Kleinen“ nur um den Fußball zu einer weltumspannenden Industrie zu machen: „Und so bleibt koloniales Denken in der Struktur des Fußballs festgeschrieben.“ Fußball sei kein Gastgeschenk der Eroberer der „Neuen Welt“ gewesen, die Briten etwa hatten versucht indische Söldner mit der Aufnahme in Kricket- und Fußballklubs gesund und bei Laune zu halten. Der Mythos von der friedlichen und zufälligen Verbreitung des Fußballs müsse – laut Blaschke – endlich getötet werden. Wie immer leisten Privatvereine mit Rundgängen und Workshops tolle Arbeit, allein die Global Player machen nicht mit. Bayern München oder Borussia Dortmund z.B. nehmen Sponsorgeld egal von wem es kommt.
Arik Brauer hat sein Protestlied einst nicht gegen eine bestimmte Gruppe gerichtet, sondern gegen jeden, der sich angesprochen fühlt. Ähnlich ist es mit „Spielfeld der Herrenmenschen“. Welche:r Leser:in ertappt sich nicht, wenn der Politikwissenschaftler und Historiker Gareth Evans mit gewissen Sport-Vorurteilen aufräumt: „Warum etwa dominieren seit den 1990er-Jahren Läufer aus Ostafrika die mittleren und langen Distanzen? Evans spricht nicht von Muskelfasern oder leichten Knochen, sondern von der Umgebung.“ Das Trainieren im kenianischen Hochland, die Aussicht ohne viel Ausrüstung einen Weg aus der Armut zu finden sowie ausreichend Konkurrenz, die sich gegenseitig pushte, führten zu einer „kritischen Masse“ unter schwarzen Läufern. Im gleichen Atemzug wird mit der (US-amerikanischen) Legende, wonach Schwarze schlechter schwimmen, dafür aber (genetisch) über eine bessere Sprungkraft verfügen, aufgeräumt: Basketball sei schlicht fester Bestandteil der afroamerikanischen Popkultur; zur Gegenprobe könne man leicht recherchieren, dass die meisten Hochsprung-Olympiasieger weiß seien. Der Schwimmsport sei für viele Afroamerikaner noch immer weit weg; schließlich habe sie die Rassendiskriminierung 400 Jahre lang von Stränden, Schwimmbädern und dem Schulsport ferngehalten.
Doch nicht nur Entmystifizierung ist Teil des Buches, es geht auch um persönliche Schicksale, wie etwa jenes von Heinz Kerz, der 1920 als Sohn einer Deutschen und eines schwarzen französischen Soldaten im Rheinland geboren wurde. Kerz erlebte die Diskriminierung der Nazis in zuspitzender Form: Zunächst der Ausschluss aus dem Fußballverein, dann Zwangssterilisation und letztendlich KZ-Haft. Kerz kehrte nach dem Krieg in seine Heimat zurück, sah über die Schuld seiner Mitmenschen großzügig hinweg und engagierte sich ehrenamtlich als Fußball- und Schwimmlehrer.
Trend zurück
Spieler wie Eusébio – ein Ausländer nach dem Geschmack der eingangs zitierten Kampagne – dürfen bei der Erarbeitung des Themas natürlich nicht fehlen. Der aus dem heutigen Mosambik stammende Mittelstürmer galt in Portugal als „Symbolfigur der Anpassung“: Ein Afrikaner, der sich mit Disziplin und Bescheidenheit seinen Platz in der Gesellschaft verdiente. Jahrzehnte später erlitt Gerald Asamoah ein ähnliches Schicksal: Dem in Ghana geborenen DFB-Nationalspieler wurde in einer Talkshow öffentlichkeitswirksam ein Bekenntnis zu Deutschland abgerungen. Total daneben. Prägnant zusammenfassen kann man die Behandlung von Kickern mit Migrationshintergrund am Beispiel des algerischstämmigen Weltfußballers Karim Benzema: „‚Die Erfolge dieser Spieler werden häufig mit der französischen Kultur verknüpft, aber für ihre Verfehlungen macht man die Herkunft verantwortlich.‘“
„Spielfeld der Herrenmenschen“ ist Geschichtswissen abseits staubiger Lehrbücher und langweiliger Zahlen-Kolonnen, durchbrochen von persönlichen Geschichten, wie der von Lydia Hatzenberg, die sich im Fußballverband Namibias für Frauen und Mädchen engagiert. Blaschke erzählt auch, wie Fußball für viele mexikanisch Auswanderer im Großraum Los Angeles als Brücke in die alte Heimat dient oder dass in Brasilien, das die größte schwarze Bevölkerung (51%) nach Nigeria hat, schwarze Fußballer immer noch wie Ware gehandelt werden.
Der politische Trend der von Blaschke beleuchtenden Schauplätze geht aktuell fast immer nach rechts: Die konservative britische Regierung möchte jene Migrant:innen, die es in Schlauchbooten über den Ärmelkanal schaffen, schnell abschieben; der portugiesische Abgeordnete André Ventura hetzt gegen Einwanderung, schürt Impfskepsis. Indien, das vor dem Einfluss der britischen Kolonialmacht als sexuell liberal galt, lehnte die Ehe für alle im Oktober 2023 und Brasiliens Präsident Bolsonaro? Kein Kommentar. Zurück – aber nicht im politischen Sinn – geht auch die Tendenz bei Spielern, die schon in zweiter oder dritter Generation in Europa leben: Allein bei der WM-Endrunde 2018 waren es 29 in Frankreich geborene Spieler, die im Kader von Ländern standen, in denen sie nicht geboren wurden. Der prominenteste unter ihnen: Riyad Mahrez, der unweit von Paris geboren wurde und für Algerien – das Heimatland seiner Eltern – spielt. Im Übrigen hatten 14 der 22 Spieler der siegreichen französischen Nationalmannschaft afrikanische Wurzeln.
Wo dunkelhäutige Menschen im Fußball heutzutage am Meisten fehlen? Als Trainer:innen oder Vereinsfunktionär:innnen. Die Macht der weißen Mittelschicht sei im gesamten Vereinsleben verteilt und halte an ihren Pfründen fest. Trainer:innen, die Hire-and-Fire sowieso in ihrer Jobbeschreibung haben, bekommen noch weniger Chancen, wenn sie schwarz sind. In England, das u.a. von der Windrush-Generation – Auswanderern aus britischen Karibik-Kolonien – nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut wurde, ist die Bilanz besonders mager: „Aktuell sind in den 92 englischen Profiklubs weniger als 20 nicht-weiße Trainer beschäftigt, die allermeisten als Assistenten.“ Der Weg ist noch weit.
„Spielfeld der Herrenmenschen“ von Ronny Blaschke ist 2024 bei die Werkstatt erschienen und kostet (in Österreich) € 23,50.
Marie Samstag
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