Buchrezension: „Unter den Stollen der Strand. Fußball und Politik – mein Leben.“ (D.Cohn-Bendit)
Kunst & Literatur 4.April.2021 Marie Samstag
Politisch Aktive sind oft so in ihrer Weltanschauung gefangen, dass es kaum eine Sache gibt, die sie nicht unter diesem Gesichtspunkt betrachten können. Das führt dazu, dass es kaum fruchtbares Fachsimpeln über sonstige Interessen geben kann.
Als mir das Buch des deutsch-französischen Alt-68ers und Grünen-Politikers Daniel Cohn-Bendit „Unter den Stollen der Strand. Fußball und Politik – mein Leben.“ in die Hände fiel, war ich dementsprechend voreingenommen. Meine Befürchtungen erwiesen sich aber als unbegründet: Klarerweise schreibt Cohn-Bendit oft, wie man es von ihm erwartet – etwa, wenn er seine Meinung zu Nationalismus im Stadion zum Besten gibt: „Mich persönlich stört es nicht, wenn jemand im Sport als Fan „nationalistisch“ ist. Wenn er mit dem Trikot seiner Nationalelf ins Stadion geht und zusammen mit seinen Kindern kleine Fähnchen in den Farben seines Landes schwenkt, ist das doch eine schöne Sache. Problematisch wird es dann, wenn einer sich nicht damit begnügt seine Spieler zu unterstützen, sondern Hass auf den Gegner entwickelt. Einfach nur, weil er der Gegner ist. Wo man blind wird und eine harmlose Art von Patriotismus in einen aggressiven, erbitterten, kämpferischen Nationalismus kippt.“
Insgesamt ist „Unter den Stollen“ aber eine abwechslungsreiche Reise durch das Fußball-Fanleben des Politikers. Der Autor verabsäumt es nicht – neben der Darlegung seiner emotionalen Entwicklung – kurz aufbereitete Informationen querzuschießen: So analysiert er schmerzhaft treffend die gesellschaftliche Diskriminierung rund um den Frauenfußball bzw. um Homosexualität im Profi-Sport oder er tadelt Putins heroenhafte Selbstdarstellung als „starker Mann“ bei der WM in Russland. Cohn-Bendits gewagter, aber wohl nicht falscher Vergleich mit den Olympischen Spielen in Berlin 1936 oder in Peking 2008 zeugt von einer selbstbewussten aber reflektierten Positionierung, wie sie gerade unter Volksvertretern nicht selbstverständlich ist. Vorrangig ist „Unter den Stollen …“ aber eine zärtliche Liebeserklärung an einen Sport, der zwar sinnlos, aber wunderschön ist. Das Buch gehört zu den besten Fußballbüchern, die ich seit langem gelesen habe.
Linksverteidiger
Abgesehen von dem obligatorischen Alles-was-ich-im-Leben-über-Moral-gelernt-habe-Camus-Fußball-Zitat kommt der Bericht fast ohne Plattitüden oder moralischem Zeigefinger aus. Cohn-Bendit, der 1945 im südwestlichen Frankreich geboren wurde, zerrissen in seinen Identitäten als Jude, als Deutscher, als Franzose, als Linker, als Aktivist, lebt diese Rollen natürlich auch in seiner Leidenschaft für den Ballsport aus.
Natürlich sind seine Gefühle für den Sport eng an seine Weltanschauung geknüpft: Cohn-Bendit ist der Meinung, dass der machohafte Fußball von Anfang an fälschlicherweise Frauen- und Männerballsport verglichen hat. Viel zu lange sei die weibliche „Variante“ des Sportes als „schlechte Kopie des Männerfußballs“ (O-Ton Gianni Infantino) angesehen worden.
Cohn-Bendits eigene Passion pour le foot beginnt unspektakulär, wie bei fast allen Kindern: „Dany“ – wie er genannt wird – liebt zunächst Stade Reims für deren ambitionierte, offensive Spielweise, ehe er als 20-Jähriger ins Fanlager des AS Saint-Étienne wechselt und nun mehr seit Jahrzehnten der Frankfurter Eintracht die Daumen drückt. Sein Verhältnis zur deutschen Nationalmannschaft beschreibt er als bis heute angespannt – was natürlich vorwiegend an seiner tragischen Familiengeschichte liegt -, auch wenn er einräumt, nunmehr „auf dem Weg der Besserung“ zu sein.
Er, der einstige Staatenlose (die Eltern hatten es wegen Auswanderungspläne in die USA verabsäumt für den Junior die französische Staatsangehörigkeit zu beantragen), kam mit 13 Jahren nach Hessen und schätzt heute die Kritikfähigkeit und vorbildliche Vergangenheitsbewältigung der Deutschen. Nur Günter Netzer, den mochte er schon immer. Der Mittelfeldregisseur stand für Rebellion und Glamour – ein lässiger Typ mit Ferrari und langen Haaren: Das „perfekte Gegenbeispiel für alles, was uns die deutsche Weltanschauung einzuimpfen versucht“, insbesondere, die Tatsache, dass nur harte Arbeit zu Erfolg führt.
Als Sechseinhalbjähriger nimmt ihn Pascal, das Faktotum an seiner Pariser Schule, erstmals zu Spielen in den Prinzenpark mit. Hier wird ihm jene kindliche Freude, mit der er bis heute den Fußball verfolgt, eingepflanzt. Es ist mehr als ein Hobby, so hat er bereits mehrmals die Ehre gehabt Gastkommentator bei internationalen Turnieren zu sein. Cohn-Bendits erstes Idol ist der Ungar Ferenc Puskás, der beim „Wunder von Bern“ ausgerechnet von Helmut Rahn und Co. geschlagen wird.
Das Buch nimmt den Leser zu regelmäßigen Wiesenkicks mit Joschka Fischer mit, man liest Cohn-Bendits Analyse des deutschen WM-Siegs 2014 oder spürt seine Bewunderung für die portugiesische Legende Eusébio. Der Autor spricht dem FC Bayern seine Bewunderung aus, führt dessen beständigen Erfolg aber nicht auf eine innovative Spielweise, sondern darauf zurück, dass sich die Roten regelmäßig spielbestimmende Persönlichkeiten kaufen. Die Praxis, der Konkurrenz jedes Bundesligatalent wegzuschnappen, um es anschließend auf der Bank schmoren zu lassen, schmeckt „Dany“ dagegen gar nicht. Spaßhalber spekuliert der Autor dagegen, wie seine Fußballerinnerungen heißen würden, wenn er General de Gaulle, Mao oder Churchill wäre: „Es lebe der freie Fußball“, „Glücklich wie ein Ball im Wasser“ oder „Fußball ist der schlimmste Sport mit Ausnahme aller anderen“.
„Iniesta ist der Hamlet des Fußballs.“
Tatsächlich ist Daniel Cohn-Bendit mehr als ein schreibender Bewunderer des Spiels. Er schafft es sein Leben anhand von fußballerischen Ereignissen – wie der Katastrophe im Heysel-Stadion, siebzehn Weltmeisterschaftsendrunden und Zidanes Kopfstoß im Finale 2006 („Dieser 9. Juli 2006 war der definitiv letzte Abend, der in mir das ganz große WM-Fieber entfacht hat.“) – wiederzugeben und beweist so, dass er mehr als ein Gelegenheits-Konsument ist.
Sein Stiefsohn, sein Sohn und seine leibliche Tochter (die er zwar von klein auf kannte, aber erst nach über 30 Jahren erfuhr, dass er ihr biologischer Vater ist) lieben Fußball ebenfalls. Der Autor beantwortet Grundsatzfragen: Ist es okay, als Linker Fußballfan zu sein? Ja – Opium fürs Volk, aber das Leben muss auch Spaß machen. Was ist mit Frauenfußball? „Er gefällt mir.“ Überraschenderweise „outet“ sich Cohn-Bendit als Fan Michel Platinis: Der Franzose trete für eine fortschrittliche, soziale Vorstellung des Sportes ein. Die jahrelange Sperre des UEFA-Präsidenten durch die FIFA und den Internationalen Sportgerichtshof wird nicht erwähnt. Und auch das Kapitel Doping streift Cohn-Bendit zwar mit kritischen Worten, aber äußerst kurz.
Mehr Zeit widmet der Autor dagegen dem brasilianischen Fußball und seiner Bekanntschaft mit Sócrates: Es sei kein Zufall, dass sich viele brasilianische Kicker nach ihrem Profileben in die gesellschaftlichen Angelegenheiten des Landes einmischen. Interviewszenen mit Pelé – als Negativbeispiel – schnitt Cohn-Bendit aus seinem Dokumentarfilm über Brasilien. Heute sieht er die politische und die sportliche Entwicklung des Landes mehr als kritisch.
Am Ende des Buches zeigt sich der Ex-Parlamentär über die geplante „Wander-Euro“ naturgemäß begeistert: Ein vereintes Europa, ein Kontinent ohne Grenzen mit gemeinsamen Wertvorstellungen ist und war sein Lebensprojekt. Als Jude, als Deutscher, als Franzose, als Linker, als Aktivist, als Fußballfan.
„Unter den Stollen der Strand. Fußball und Politik – mein Leben.“ von Daniel Cohn‑Bendit mit Patrice Lemoine ist 2020 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet in Österreich € 22,70.
Marie Samstag, abseits.at
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