Vor fünf Jahren unternahm der ehemalige Bundesliga- und FIFA-Schiedsrichter Babak Rafati einen Selbstmordversuch. Der 41-Jährige ist inzwischen vom Stadion auf die Bühne gewechselt und hält Vorträge über seinen langjährigen Leidensweg.
Es war der 19. November 2011. Der 1. FC Köln empfing den Tabellennachbarn aus Mainz. Der DFB setzte das Schiedsrichtergespann Rafati, Ittrich, Henschel und Willenborg für die Bundesligapartie an. Rund eine halbe Stunde vor Spielbeginn betrat der Stadionsprecher den Rasen und wendete sich mit leicht kratzender Stimme an die Fans im Rheinenergiestadion: „Der Schiedsrichter ist nicht erschienen. Das Spiel kann nicht stattfinden“, tönte es aus den Stadionlautsprechern. Es folgte ein minutenlanges Pfeifkonzert. Die Fans waren verärgert. Es sei schließlich noch nie vorgekommen, dass ein Schiedsrichter nicht zu einem Spiel erscheint. Was zu diesem Zeitpunkt im Stadion keiner wusste: Babak Rafati wollte sich wenige Stunden zuvor das Leben nehmen.
Am 06. August 2005 trafen die beiden Mannschaften aus Köln und Mainz ebenfalls aufeinander. An diesem Tag begann die Erstliga-Schiedsrichterkarriere von Babak Rafati.
In seinem ersten Spiel im Fußballoberhaus gab er gleich einen Elfmeter, der auch durch den damaligen Kölner-Spieler Björn Schlicke verwandelt wurde. Das Endergebnis der damaligen Partie: 1:0 aus Kölner Sicht. Doch alles der Reihe nach.
Nach jahrelangen Aufstiegen aus den Amateurligen des deutschen Fußballs begann vor 19 Jahren die Profi-Schiedsrichterlaufbahn für Babak Rafati. Im Jahr 1997 wechselte er vom niedersächsischen Fußballverband zum DFB. Nach zahlreichen Partien in der 3. Liga und in der Junioren-Bundesliga gab er im Jahr 2000 sein Debüt in der 2. Bundesliga. Dort machte er mit guten Leistungen auf sich aufmerksam und fünf Jahre später war es dann soweit: Der damals 35-jährige gab sein Bundesliga-Debüt.
In den folgenden Jahren avancierte der gelernte Bankkaufmann mit iranischer Abstammung zu einem etablierten Bundesliga-Schiedsrichter. Dies blieb auch an der Spitze des Fußballs nicht unbemerkt und so stieg im Jahr 2008 zum FIFA-Schiedsrichter auf. Doch mit der Nominierung stieg der Druck auf den Referee. Nun war er zusätzlich zu den Bundesligaspielen gefordert und noch mehr unterwegs. In den folgenden Jahren schwankten die Leistungen des Unparteiischen immer mehr und er wurde bei den Fans und in den Medien zunehmend unbeliebter. So wurde Rafati in halbjährlichen Umfragen des Fachmagazins Kicker von den Bundesligaprofis viermal zum „schlechtesten Bundesligaschiedsrichter“ gewählt. Der undankbarste Preis, den ein Schiedsrichter erhalten kann.
Dies nagte auch an ihm. Schließlich konnte er seine Fehler nicht wieder rückgängig machen oder ausbessern. Auch die Medien nahmen nach seinen schlechten Schiedsrichterleistungen kein Blatt vor den Mund und wurden im Zusammenhang mit seinen Fehlern auch das ein oder andere Mal beleidigend. Auch Vereinsbosse und Trainer attackierten Rafati und machten ihn für Niederlagen verantwortlich, wie beispielsweise der damalige Mainzer- Trainer Thomas Tuchel im Jahr 2010 nach der Niederlage gegen Werder Bremen: „Er hat das Spiel schon beeinflusst und einen Teil zum Ergebnis beigetragen. Ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass wir ohne den Platzverweis nicht verloren hätten“.
Dies sind Aussagen, die auch Rafati trafen. Zu seiner aktiven Zeit als Profi-Schiedsrichter mied er die Medien stets und sprach wenig über den Druck als Schiedsrichter. Doch im Jahr 2009 äußerte er sich folgendermaßen: „Wenn ich am Sonnabend gepfiffen habe und es war ein Fehler, der im Fernsehen auch noch nachgewiesen wird, dann tut das natürlich immer weh. Das tut den Schiedsrichtern am allermeisten weh. Denn wir haben den Ansporn, dem Ganzen gerecht zu werden.” Seine Fehler musste Rafati nach den Spielen wie jeder andere Schiedsrichter noch einmal analysieren und aufarbeiten, in der Hoffnung, dass ihm in der nächsten Woche keine Fehler mehr unterlaufen. Doch wie fühlt man sich, wenn die Fehleranalyse jede Woche länger und länger wird und die Pechsträhne einfach immer weitergeht? Wenn man nach dem Spiel auf den TV-Bildern seinen Fehler sieht, den man vor 50.000 Zuschauern im Stadion gemacht hat? Eine Lage, in die man sich nur schwer hineinversetzen kann.
Auch im Kreise des deutschen Fußballbundes verschwor man sich immer mehr gegen ihn. So wurde er nach einer falschen Abseitsentscheidung mit den Worten “Jeder darf Fehler machen. Nur du nicht Babak” konfrontiert. Und das, obwohl nicht er den Fehler machte, sondern sein Schiedsrichterassistent, der ihm das Abseits anzeigte. Rafati stand intern unter Sonderbeobachtung und jeder noch so kleine Fehler wurde ihm angekreidet. Im September 2011 wurde er dann darüber informiert, dass er ab dem kommenden Jahr nicht mehr auf der Schiedsrichterliste der FIFA sein würde. Ein weiterer Rückschlag für den erfahrenen Referee. In den kommenden beiden Bundesligaspielen patze er erneut und erhielt die Noten 4 und 5 auf seine Leistung. Was zum damaligen Zeitpunkt keiner wusste: Der Schiedsrichter litt seit Jahren unter schweren Depressionen. Er wusste keinen Ausweg mehr. Am Freitagabend bezog Rafati mit seinem Schiedsrichterteam Patrick Ittrich, Holger Henschel und Frank Willenborg das Kölner Hyatt-Hotel. Alle vier gingen noch zusammen Essen und niemandem fiel etwas Ungewöhnliches auf. Am Samstagmorgen frühstückten die beiden Linienrichter und der vierte Offizielle gegen 9 Uhr, nur Rafati fehlte. Wie später bekannt wurde, ließ er jedoch öfter das Frühstück aus. Wie vor jeder Partie war das Team gegen 13:30 zur Vorbesprechung verabredet. Doch auch 10 Minuten nach der vereinbarten Zeit war Rafati immer noch nicht erschienen. Auch auf Anrufe und Nachrichten reagierte er nicht. Seine Kollegen machten sich Sorgen um den damals 41-Jährigen, der sonst für seine Pünktlichkeit bekannt war. Sie kontaktierten den Hotelservice und öffneten gemeinsam die Tür des Hotelzimmers. Sie fanden ihren Kollegen blutüberströmt in der Badewanne. Er hatte seine Pulsadern aufgeschlitzt und wollte sich das Leben nehmen. Ein Ereignis, das keiner vorhergeahnt hatte.
Der Notarzt brachte ihn umgehend in die Klinik und so konnte Schlimmeres verhindert werden. Gegen 14:30 Uhr wurden beide Mannschaften über das tragische Ereignis informiert und eine Spielabsage war bereits beschlossene Sache. Das ganze Fußballland war schockiert und fragte sich, warum Rafati einen Selbstmordversuch unternahm. Noch am Abend kam dann die erfreuliche Nachricht, der Unparteiische sei außer Lebensgefahr. Viele hofften, dass dieses Ereignis ein Weckruf für den DFB und die DFL sein würde und Depressionen und Burn-Out im Fußball in Zukunft mehr Beachtung finden würden.
In den kommenden Wochen wurde es ruhig um seine Person. Er ließ sich wochenlang stationär psychologisch behandeln und flog im Anschluss für einen Monat nach Asien. Fünf Monate nach seinem Suizidversuch meldete sich dann Rafati selbst zurück und erklärte, er sei wieder gesund. Gleichzeitig gab er das Ende seiner Schiedsrichterkarriere bekannt. Der ehemalige Schiedsrichter schrieb ein Buch, dass im Jahr 2014 veröffentlicht wurde. In „Ich pfeife auf den Tod“ erzählt Rafati über seine Depression und wie er diese langjährige Krankheit letzen endlich besiegen konnte. Inzwischen ist er auch als Speaker und Mentalcoach deutschlandweit unterwegs und will anderen Menschen helfen, die ebenfalls unter Burn-Out oder Depressionen leiden. Er erzählt in den Vorträgen über seinen Weg aus der Depression und den Leidensweg, den er in den Jahren davor durchmachen musste. Auch als Schiedsrichter war er drei Jahre nach seinem Selbstmordversuch wieder im Einsatz. Beim Abschiedsspiel von Steven Cherundolo, langjähriger Profi von Hannover 96, gab er sein Comeback an der Pfeife. Rafati stammt selbst aus Hannover und leitete die Partie in der HDI-Arena. Auch bei den Abschiedsspielen von Dedê und Ailton war der 41-Jährige im Einsatz. Ein Schiedsrichter-Comeback in Asien, Amerika oder Arabien schließt er nach eigener Aussage keinesfalls aus. In Europa will er jedoch nicht mehr professionell an die Pfeife zurückkehren. Doch auch Rafati selbst betont immer wieder, dass sich fünf Jahre nach dem tragischen Ereignis nicht viel getan hat. So finden Depressionen und das Thema Burn-Out im Fußball immer noch viel zu wenig Beachtung.
Marcel Kappelsberger, abseits.at
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