Briefe an die Fußballwelt (22) – Liebe Sahar Khodayari!
Gesellschaft & Ethik 15.September.2019 Marie Samstag
Jeden Sonntag wollen wir an dieser Stelle Briefe aus aktuellem Anlass versenden. Mit Gruß und Kuss direkt aus der Redaktion – Zeilen zum Schmunzeln, Schnäuzen und Nachdenken an Fußballprotagonisten aus allen Ligen. Diesen Sonntag schicken wir unseren Brief an eine Adressatin, die ihn leider nicht mehr lesen kann …
Liebe Sahar Khodayari!
Das ist der erste Brief dieser Serie, den ich nicht schreiben will. Ich will einfach nicht wahrhaben aus welchem Grund ich mich an dich wenden muss. Um die Schwere der Ereignisse und ihre Bedeutung für mich in Worte zu fassen, muss ich weiter ausholen und von einer Erinnerung erzählen, die mir sofort in den Sinn kam, als ich von deinem Schicksal erfahren hab.
Vor ewigen Zeiten – ich war noch Gymnasiastin - bereitete ich für den Geschichtsunterricht ein Referat über den Prager Frühling vor. Dabei stieß ich auf die Selbstverbrennung Jan Palachs, der sich aus Protest gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts angezündet hat. Unbedarft und naiv sagte ich damals zu meiner Mutter: „Was ist denn das für ein Idiot. Wieso hat er das gemacht? Was soll das denn gebracht haben?!“ Mama wurde ernst. Ich erinnere mich nicht mehr, ob wir saßen oder standen. Waren wir in der Küche? Keine Ahnung mehr. Ich kann nicht einmal mehr sagen, ob es in der Früh oder Nachmittag war. Ich kann mich aber noch gut an ihre Worte erinnern. Worte, die mich damals nachdenklich machten. Meine Mutter erklärte mir, dass Palach nicht dumm, sondern verzweifelt gewesen war. Er hätte keine andere Möglichkeit als jene des Selbstopfers gesehen um seinen Widerstand gegen die politische Situation angemessen auszudrücken: „Ich hoffe, dass du so einen Mut nie aufbringen wirst.“ Später las ich den Abschiedsbrief von Jan Zajic, ebenfalls ein Student, der rund einen Monat nach Palach auf die gleiche Art Suizid beging. Zajic erklärte seinen Freitod mit folgenden Worten: „Ich tue es nicht deswegen, weil ich lebensmüde bin. Ich tue es deswegen, weil ich das Leben viel zu hoch schätze. Ich hoffe, ich werde das Leben mit meiner Tat besser machen. Ich kenne den Preis des Lebens. Ich weiß, dass es das Teuerste ist. Ich verlange viel, also muss ich auch viel geben.“
Dass ich es erleben werde, dass auch zu meinen Lebzeiten eine Selbstverbrennung stattfindet, damit hätte ich als sechzehnjährige Schülerin nie gerechnet. Ich weiß nicht, wie lange du dich mit diesem Gedanken getragen hast. Ich weiß nicht, ob du das Risiko erwischt zu werden, überhaupt einkalkuliert hast. Jedenfalls bist du am 12. März 2019 ins Stadion gegangen um ein Fußballspiel, das Match deines Lieblingsklubs, zu sehen. Im Iran ist es aber für Frauen verboten Herrenfußballspielen als Zuschauer beizuwohnen. Wer es trotzdem macht, erfüllt den Tatbestand der „Beleidigung der öffentlichen Ordnung“ und darauf steht ein halbes Jahr Gefängnis. Liebe Sahar, du wurdest erwischt, obwohl du als Mann verkleidet warst. Die Polizei brachte dich ins Gefängnis, nur gegen Kaution wurdest du freigelassen. Als du erfahren hast, welche Strafdrohung im Raum steht, hast du das Unfassbare gemacht: Du hast dich am 2. September vor dem Gericht selbst angezündet und bist später deinen schweren Verletzungen erlegen. Weltweit haben sich Menschen mit dir solidarisiert, wo man das zu meinen, zu unseren Lebzeiten eben so macht: Im Internet, in den sozialen Medien. Aber Solidarität allein reicht nicht. Es genügt auch nicht nur zu trauern. Dein Selbstmord war eine Aufforderung zu handeln. Nur so können wir dein Opfer, das größte Opfer, das ein Mensch zu verbringen vermag, würdigen. Während dein Heimatland schon verkündet hat, dass es weiter am Stadionverbot für Frauen festhalten wird, drescht die FIFA hohle Phrasen: business as usual. Eine angemessene Lösung wäre natürlich einen solchen Staatsapparat, der solche Gesetze macht und vollzieht, zu verbannen. Am besten in eine andere Galaxie. Ganz konkret muss die FIFA aber den Iran für internationale Spiele sperren, da deren „Frauenpolitik“ die FIFA-Statuten, die jegliche Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, ethnischer, nationaler oder sozialer Herkunft, Geschlecht (!), Behinderung, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand, sexueller Orientierung oder aus einem anderen Grund verbietet, konterkariert. Ein ganz simples, stichhaltiges Argument.
Liebe Sahar, du hast den Mut aufgebracht, von dem meine Mutter hofft, dass ich ihn nie aufbringen werde. Von dem alle Eltern hoffen, dass ihn ihre Kinder nie aufbringen werden. Erlösung oder Gerechtigkeit wirst du nicht mehr erfahren, denn die kann man nur als Lebender erfahren und du bist jetzt tot. Es bleibt unsere Aufgabe dein Vermächtnis weiterzutragen um solche Katastrophen für die Zukunft zu verhindern.
Ruhe in Frieden.
Marie Samstag, abseits.at
Marie Samstag
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