Jeden Sonntag wollen wir an dieser Stelle Briefe aus aktuellem Anlass versenden. Mit Gruß und Kuss direkt aus der Redaktion – Zeilen zum Schmunzeln,... Briefe an die Fußballwelt (49): Liebe Fußballindustrie!

Jeden Sonntag wollen wir an dieser Stelle Briefe aus aktuellem Anlass versenden. Mit Gruß und Kuss direkt aus der Redaktion – Zeilen zum Schmunzeln, Schnäuzen und Nachdenken an Fußballprotagonisten aus allen Ligen. Diesen Sonntag schicken wir unseren Brief an das Geschäft per se…

Liebe Fußballindustrie!

Fußball ist nicht logisch. Ansonsten würden Klein- und Mittelverdiener ihr sauerverdientes Geld nicht elf Millionären in die Tasche stecken. Fans würden sich nicht mit Merchandise behübschen, Wochenenden opfern um Herzklopfen zu haben, wenn ihr Lieblingsklub gewinnt oder Herzschmerzen, wenn er verliert. Doch jetzt herrscht Zwangspause. Die Corona-Krise führt dazu, dass viele Fußballanhänger seelisch ineinander zusammengefallen sind wie ein Soufflé, das man ansticht. Die Fußballindustrie steht still.

Die Krisenberichterstattung erklärt, wie Vereine jetzt ums Überleben kämpfen. Durch die abgesagten Spiele fehlen Einnahmen in Millionenhöhe. So manche behaupten gar, die Zukunft des Profifußballs stehe auf dem Spiel. Doch genau diese Krise ist auch eine Chance: Wie oft haben wir ‑ die Beobachter von außen, die Analytiker, die Besserwisser – uns medial darüber ausgelassen, wie krank das Geschäft sei: Der Sport bleibe zwischen Korruption, Doping, modernem Menschenhandel und Profitgier schon lange auf der Strecke. Positive Schlagzeilen in Zeiten von Corona machen dagegen Fans und ihr gesellschaftliches Engagement: Sie solidarisieren sich mit denjenigen, die unser System am Laufen halten, helfen, sprechen befreundeten Klubs Mut zu. In den Farben getrennt, in der Sache vereint.

Und was machen die Medien? Sie wundern sich. Deutsche Kollegen zerfließen in Erstaunen über die Fans, die einst Dietmar Hopp geschmäht haben, nun tatkräftig mitanpacken und somit (jetzt wieder) als gesellschaftlich wertvoll gelten. Tja. Schwarz-Weiß-Denken ist nicht mit der Einführung des Farbfernsehens abgeschafft worden. Es gibt wohl neben Strudelteigziehen keine Sache, die so schwierig ist, wie sein moralisches Wertesystem erschüttern zu lassen: Dabei muss man nur die Denkweise zulassen, dass es im Leben Situationen gibt, in denen Recht und Unrecht schwer voneinander zu trennen sind bzw. guter Geschmack nicht definiert werden kann: Sprachrituale sind im Fußball anders als im Gesangsverein. Die Schmerzgrenze hat keinen Schnittpunkt mit dem Monatseinkommen, auch ein Millionär ist kein Freiwild – trotzdem darf man nicht vergessen kritisch zu hinterfragen, warum es jahrzehntelang bei rassistischen Äußerungen keine so raschen Maßnahmen gab wie im Fall Hopp. Gewalt bleibt Teil der Fankultur, weil Gewalt Teil der Gesellschaft ist: Mittelfinger statt Mittelfeld. Das bedeutet jedoch nicht, dass man nicht gegen Rassismus oder Sexismus auf den Tribünen ankämpfen darf. Vandalenakte am Spieltag sind genauso zu verurteilen, wie wenn sich Investoren Sportvereinigungen als Spielzeug unter den Nagel reißen.

Liebe Fußballindustrie, die Zeit ist gekommen dich zu verändern. Wie das geht? Indem sich die Fans als Konsumenten ihrer Macht bewusst werden. Nicht indem sie darauf abzielen im Tagesgeschäft der Klubführung mitzumischen, aber indem sie wissen, dass sie es sind die das System nähren. Die Fußballindustrie sind diejenigen, die Schuhe in Bangladesch nähen, an der Anfield Road stehen oder im Vorstand sitzen. Die Fußballindustrie sind wir alle. Wir können sie auch ändern. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Das hofft

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag

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