Buchrezension: „Zockerliga – Ein Fußballprofi packt aus“
Gesellschaft & Ethik 21.April.2015 Marie Samstag 1
„Also eines ist ja klar: Ich bin jetzt 26 und mein Leben ist total verpfuscht.“, so richtig will man René Schnitzler nicht abnehmen, dass er den Ernst der Lage (endlich) erkannt hat. Der Ex-Fußballprofi sitzt auf der Bank eines Fußballplatzes und dreht eine Art Werbespot für seine Lebensgeschichte, die in Buchform erschienen ist. Das war 2011. Heute ist René Schnitzler 30 Jahre alt und coacht seit kurzem den Rheydter SV in der Bezirksliga Niederrhein. Kein Abstieg, sondern ein Totalabsturz für einen Stürmer zu dem DFB-Jugendkoordinator Michael Skibbe einst gesagt hat: „Du bist doppelt so gut wie Gomez.“ Doch verglichen mit dem Geld, den Freundschaften und Möglichkeiten, die Schnitzler im wahrsten Sinne des Wortes verspielt hat, ist es ein Wunder, dass der Mönchengladbacher überhaupt noch im Fußballgeschäft tätig ist.
„Wofür ein Buch über René? Es gibt doch schon einen Comic: „Das kleine Arschloch.““, fragt einer seiner früheren Wegbegleiter das Autorenduo Wigbert Löer und Rainer Schäfer, die sich Schnitzlers Geschichte angenommen haben und bringt damit auf den Punkt, was nicht nur er über den Offensivspieler denkt. Löer und Schäfer sehen Schnitzlers Lebensweg aber als Präzedenzfall für junge Männer, die rasch eine Menge Geld verdienen und verschwenderisch viel Freizeit genießen. Tatsächlich ist Schnitzlers Grundproblem kein Einzelfall: In jeder seiner Mannschaften sei gezockt und gewettet worden, erzählt er. Von absurden Wettpraktiken bis zu Pokerrunden mit Andreas Biermann, der als erster depressiver Fußballprofi traurige Berühmtheit erlangte, oder mit Marcell Jansen, dem mehrfachen DFB-Nationalspieler, war alles dabei. Am Ende mündet dieser Weg oft in der Crux der Wettmanipulation. Auch bei Schnitzler. Doch der Stürmer hatte Glück: Das Glück des Tüchtigen war es nicht. Er ist zwar mit einer eingebüßten Karriere, aber immer noch mit einigen blauen Flecken davon gekommen.
Für eine Handvoll Pfennig
Heute hat René Schnitzler erkannt, dass er krank ist. 2013 räumt er als Gast bei Markus Lanz ein: „Ich steh morgens auf und der Teufel sagt: „Geh spielen!“ […] Es ist jeden Tag ein Kampf. Die meiste Zeit im Moment gewinne ich ihn, manchmal verlier‘ ich ihn aber auch.“ Wenn man Schnitzler fragen würde, wann denn alles angefangen hat, würde er von seinem ersten Besuch im Kasino Aachen erzählen. Kurz nach seinem zwanzigsten Geburtstag. In Wahrheit begann seine Zockerkarriere aber viel früher. In Giesenkirchen, einem gutbürgerlichen Stadtteil von Mönchengladbach. Damals hüpft ein vierzehnjähriger René Schnitzler die Straße hinunter. Gerade eben hat er sich einen Hamburger genehmigt und noch 30 Pfenning Wechselgeld in der Tasche. In einem Imbiss wirft er diese Summe in einen Spielautomaten: „Sonne, Sonne, Sonne. 100 Sonderspiele.“ Der erste Flash, der erstes Triumph.
Löer und Schäfer ist nicht entgangen, dass Schnitzler heute nicht in der Lage ist, einzusehen, welches Drama beim Spielautomaten seinen Anfang genommen hat. Mutter Heikes Enttäuschung tönt echolos an ihm vorbei: „Mein Gott, der Junge hat dieses Potenzial und verschenkt es so. Das tut uns immer noch weh, gerade meinem Mann, der Fußball liebt und immer an René geglaubt hat.“ Seit Kindesbeinen steht der Älteste von drei Söhnen im Mittelpunkt. Er ist immer motivierter, hartnäckiger, bissiger als andere Kinder und kann einfach besser Fußball spielen. Die Familie träumt mit ihm den Traum vom berühmten Mittelstürmer. Er spielt zunächst in Giesenkirchen, später in Rheydt ehe er im Alter von 12 Jahren zu Borussia Mönchengladbach kommt. Dort kickt er zusammen mit dem heutigen HSV-Profi Jansen und Hoffenheims Eugen Polanski in der Jugend. „Marcell ist kein guter Spieler.“, findet Schnitzler. Er spricht aber nicht von dessen fußballerischen Fähigkeiten. Schnitzler redet von Poker, seiner Hauptbeschäftigung während seiner gesamten Sportlerkarriere. Als Bursche geht es noch um Tore am Feld. Und da sind die Hoffnungen, die in ihn gesetzt werden, um einiges größer als bei oben genannten Kollegen. Als schneller, cooler, kopfballstarker Angreifer spielt er sich schnell in den Fokus der Jugendnationalteams.
Das Autorenduo sieht eine Draufgänger-Raserei, die für den 18-jährigen Führerscheinneuling in einem Unfall endet, als Vorbotin künftiger Unüberlegtheiten des Heißsporns. Schmunzelnd relativiert Schnitzler: Er sei durchaus nicht auf alles stolz, was damals so abging. Diese Tonart zieht sich durch das gesamte Buch und beschreibt Schnitzlers Persönlichkeit als Melange aus verwöhntem Kind und spielkrankem Mann. Er nimmt und nimmt, bedient sich rücksichtlos an allem, das ihm im Leben geschenkt wird. Zwei Jahre später besucht der Stürmer begleitet von einem Freund das Aachener Casino: Der nächste Kick wartet. Diesmal jener, der ihn die Karriere kosten wird: Roulette, Black Jack und Carribean Poker sind seine Einstiegsdrogen. Besonders Poker hat es ihm angetan. Anfangs spielen sie in Freundesrunden in Schnitzlers kleiner Wohnung im elterlichen Haus, bald zockt der junge Mann auch online. Es ist nicht das Spielen an sich, sondern seine Persönlichkeit, die Schnitzler in den Suchtkreislauf versinken lässt: Er geht immer gleich „all in“, will zeigen was er kann. „Ich dreh durch, wenn ich eine Hand verliere, bei der ich gute Chancen hab.“, meint er. Seine guten Chancen auf dem Feld wird er so zunichtemachen. Noch ist es aber nicht soweit. Als Leverkusen anklopft, sagt er zu. Es ist ihm egal, dass es mit Ramelow, Schneider und Berbatov große Offensivkonkurrenz gibt. Respekt vor Rivalen ist ihm fremd und Bayer zahlt besser als die Amateure der Borussia.
In diesem Buch wird festgehalten, was sonst oft geleugnet wird: Junge Profis haben zu viel Zeit. Vormittags ist Training, manchmal auch nachmittags. Oft ist Schnitzler aber nur 2,5 Stunden am Tag beschäftigt. Er hat viel Zeit und kommt auf dumme Gedanken. Natürlich ist das seiner Persönlichkeit geschuldet und nicht nur seinem Beruf. In Leverkusen ist „Schnitzel“ als Stürmer Nr. 4 ein sorgloser Trainingsgast. Klaus Augenthaler möchte ihn langsam an die erste Mannschaft heranführen. Schnitzler ist das recht und billig: Im Trainingslager zockt er mit Ersatztormann Starke bis die Playstation glüht, unter der Saison fährt er jeden Abend nachhause. Kein einziges Mal wird er in seiner vom Verein eingerichteten Wohnung, wenige hundert Meter vom Stadion entfernt, übernachten. Stattdessen schlägt er sich am „Alten Markt“, Mönchengladbachs Kneipenviertel, die Nächte um die Ohren. Sein sorgloser Umgang mit Geld wird noch gedankenloser. Die Schuld dafür gibt er dem Mannschaftsgefüge: Bei einem Freundschaftsspiel in Polen warten die Leverkusener auf ihr Gepäck. Ein Spieler wettet, dass sein Koffer das erste Gepäckstück am Fließband sein wird. Die Teamkollegen steigen ein. 5000€ fliegen in Dimitar Berbatovs schwarzen Filzhut. Am Ende streicht der Tormann das hübsche Sümmchen ein. Der ganz normale Alltag in einer Fußballmannschaft. Schnitzlers Leverkusener Intermezzo endet mit Augenthalers Beurlaubung: Der Verein plant nicht mit ihm. Da er den letzten Einsatzwillen nie gezeigt hat, geht er wieder zurück nach Mönchengladbach. Zu den Amateuren, in die vierte Liga.
King of Kiez
Berater Gerd vom Bruch weiß, dass die Bundesliga für den hochtalentierten 21-jährigen schwer zu erreichen ist. Dabei ahnt er nicht, was Schnitzler in seiner Freiheit so alles anstellt. Es genügt ihm zu wissen, dass sein Schützling nicht das gewisse Etwas für die Bundesliga mitbringt. Aber Schnitzler wäre nicht Schnitzler, wenn er nicht überraschen würde: In 34 Spielen für die Amateure schießt er 14 Tore und wird in den Bundesligakader hinaufgezogen. Wenn man René nach dieser Zeit fragt, erfährt man jedoch Dinge, die mit Fußball eigentlich nichts zu tun haben: „In der ersten Mannschaft fuhr Oliver Neuville einen Audi R6, Kasey Keller einen großen Landrover, Ze Antonio Mercedes Jeep und Kaspar Bogelund einen Porsche Carrera.“ Sein Leben ist materialistisch geprägt, dabei verdient er selbst gerade 5.000€ brutto. Sein Standing in der Mannschaft hat er sich über Fußballwetten erarbeitet: „Heute dürfen Profis nicht mehr selbst wetten. Aber sie machen es, das ist zumindest meine Erfahrung, natürlich trotzdem.“ Seine erfolgreichen Wettscheine klebt er in seinen Kabinenspind. Vom Bruch und seine Familie fordern mehr Einsatz am Platz, doch der Kicker selbst denkt lieber daran wie er nach dem Training Münzen in den Automaten wirft oder von einer Pokerpartie zur nächsten fährt. Irgendwann ist Spielerberater vom Bruch mit den Nerven am Ende und trennt sich von Rheinländer. Und Schnitzler? Der wechselt nach Hamburg, in die zweite Liga. Der FC St. Pauli bietet ihm 11.000€ Grundgehalt an: „Schnitzel“ braucht das Geld, er hat bereits 50.000€ an Schulden angehäuft. Einen Spieler nach St. Pauli zu schicken, ist wie einen Alkoholiker in der Brauerei arbeiten zu lassen. Doch René ist weit davon entfernt sich seine Probleme einzugestehen. „Ein Krebskranker weiß, ob er Krebs hat.“, sagt er zu seiner Mutter.
Das Aufnahmeritual beim FC St. Pauli ähnelt vielen Bräuchen in Männerbünden. Da tut es nichts zur Sache, dass sich die linke Fanszene des Millerntor-Teams gerne antisexistisch und antihomophob gebärdet. Schnitzler und die anderen Neuzugänge werden im Séparée eines Stripklubs offiziell willkommen geheißen. „Versuchte Vergewaltigung“ nennt ein anonymer Kollege das Ritual. „Es sind Begebenheiten, die im Profifußball nicht unüblich sind und von den Trainern geduldet werden, solange die Mannschaft solche Freiheiten mit Leistung zurückzahlt.“, beschreiben die Autoren Tatsachen zu denen eben nicht nur Glücksspiel und Maßlosigkeit, sondern auch sämtliche Spielarten in der Horizontalen gehören. Abenteuer auf Auswärtsfahrten inklusive. Kein wirklicher Stoff für ein Aufdecker- oder besser gesagt: Auspacker-Buch. Für Schnitzler persönlich geht es in Hamburg erst richtig los. Beim Glücksspiel.
Er bezieht eine Gründerzeit-Wohnung in Hamburg-Ottensen, bekommt zwei Kreditkarten und rutscht in die Zockerszene des Kiezes ab. Er pokert online, schließt Sportwetten ab und sitzt immer öfters zwischen Zuhältern und Unterweltgrößen am Kartentisch. Die Mutter hat 2005 ein Spielverbot in deutschen Casinos erwirkt: Schnitzler benutzt einfach den Ausweis seines Bruders, wenn er doch einmal an legalen Orten spielen will. Meistens, bis zu vier Mal die Woche spielt er aber an der Kieler Straße. Im Hinterzimmer mit der Unterweltprominenz. Trotz allem macht er immer noch irgendwie seine Tore: „Ich kann nicht meckern, aber du könntest 25 bis 30 Prozent mehr Leistung bringen“, fordert Trainer Stanislawski, der nicht weiß, wo Schnitzlers Problem liegt. Wenig später erfährt er von Jugendspielern, warum sich der Mittelstürmer nicht steigern kann. Schnitzler ist mittlerweile krank. Wenn er nicht Karten spielt, leidet er nach wenigen Stunden an Entzugserscheinungen. Zocker mit der lästigen Nebenbeschäftigung „Fußballspielen“ ist sein Beruf.
„Niemand ist so heiß aufs Glücksspiel wie Fußballer.“, glaubt Achim R. Er richtet heute illegale Pokerrunden aus. Sogar deutsche Nationalspieler sollen mit von der Partie sein. Offiziell pokert das DFB-Team bei Mannschaftsabenden, beispielsweise mit der U21 gemeinsam, zur Förderung der Geselligkeit. Die Mentalität von Poker und Fußball passen gut zusammen, finden Löer und Schäfer. Die (Ex-)Spieler Barbarez, Matthäus und Kießling bekennen sich zu ihrer Kartenleidenschaft. So wie Mike Hanke und Sérgio Pinto. „Das ist wie ein Sport.“, sagt Marcell Jansen. Er kennt René Schnitzler seit ewigen Zeiten. Beide wuchsen in Mönchengladbach auf: Die Jungs kickten zusammen, die Eltern kannten sich, fuhren gemeinsam auf Urlaub. Seit einigen Jahren besteht jedoch kein Kontakt mehr. Schnitzler war Jansen zu „durchgeknallt“. Auch Borusse Max Kruse will sich nicht zu seinem Freizeitvergnügen äußern. Dabei hätte er allen Grund zu reden: Während im Juni 2014 seine Kollegen bei der Fußball-WM in Brasilien schwitzten, belegte der Aussortierte bei der World Series of Poker, dem größten Poker-Event der Welt, beim 2-7 Draw Lowball (No-Limit) unter 241 Spielern den dritten Platz und gewann 36.000 Dollar. Der weitgereiste Ex-Torwart Lutz Pfannenstiel, der in 24 verschiedenen Ländern zwischen den Pfosten stand, glaubt, dass der weltweite Umsatz von Kasinos um einiges geringer wäre, wenn es keine Fußballspieler gäbe. „Es gab keinen Verein, wo die Spieler nicht regelmäßig in Kasinos gegangen wären. Die Vernetzung zu Sponsoren tut das Ihre.“, sagt der 41-jährige. Ein Fußballprofi packt aus? Diese spärlichen Zeilen bleiben die einzigen Andeutungen in Schnitzlers Buch. Hier wird kein Problem des Fußballs an sich beschrieben, sondern jenes der Maßlosigkeit.
Im Frühsommer 2008 erreicht Schnitzlers traurige Zocker-Karriere ihren Höhepunkt: René trifft Paul – Paulus Alexander Martinus Rooij, einen niederländischer Wettpaten mit Kontakten nach Asien. „St. Pauli soll verlieren, am nächsten Samstag in Mainz. Je höher, je besser.“, sagt Paul und René willigt ein. Bis heute ist sich Schnitzler keiner Schuld bewusst. Er habe nie den animus gehabt aktiv zur Spielmanipulation beizutragen. Er war süchtig, sah nur das Geld, hoffte, dass die Milchmädchenrechnung aufgehen würde: Die Mainzer kämpfen noch um den Aufstieg während es für St. Pauli um nichts mehr geht. Einige Spieler wollen anschließend nach Mallorca weiterfliegen und treten schon mit Sombreros den Weg zum Auswärtsspiel an. Schnitzler selbst sitzt verletzt vor dem Fernseher und sieht zu wie seine Kollegen erwartungsgemäß 1:5 verlieren. Die 40.000 € von Paul Rooij hat er längst verzockt oder lästige Gläubiger damit befriedigt. Loch auf – Loch zu. Dass der glatzköpfige Holländer selbst nur ein kleiner Fisch ist, hat Schnitzler in seinem Spiel-Dusel gar nicht bemerkt. Am sechsten Spieltag der Saison 2008/09 meldet er sich erneut bei ihm: St. Pauli soll wieder verlieren und verliert erneut, diesmal spielt Schnitzler. „Wenn ich die Chance gehabt hätte, das 1:0 für uns zu schießen, ich hätte das gemacht.“, schiebt er entschuldigend hinterher.
Kaum vorstellbar, dass er – noch dazu als Spielkranker – in der Lage gewesen wäre so zu abstrahieren. Wer die Videoaufnahmen sieht weiß, dass der Angreifer keine Chance bewusst versemmelt und auch kein Eigentor erzielt hat. Aber ob er wirklich mit hundert Prozent bei der Sache gewesen ist? Hat er in jedem Zweikampf so viel gegeben, wie in einem Spiel, das er nicht „verkauft“ hat?
Gegen Augsburg verlieren die Hamburger 3:2 durch ein Tor in der Nachspielzeit. Alles Zufall, sagt Schnitzler. Gegen Duisburg reißt seine Glückssträhne. Diesmal ist der Pate verärgert und zitiert den Stürmer nach Amsterdam. Im November soll Schnitzler gegen Mainz Wiedergutmachung leisten, doch das Spiel endet unentschieden. 100.000€ hat René Schnitzler für Manipulationen kassiert, die er nach eigenen Angaben nie begangen hat. Er hat Glück: In Osnabrück wird ein Wettskandal aufgedeckt. Paul, der Pate, und seine asiatischen Drahtzieher fliegen auf. Der Kontakt reißt ab.
Das Glück des René S.
Er könnte heute tot sein, ermordet. Lebenslang gesperrt oder in Privatinsolvenz. St. Pauli will den Zockerprofi loswerden, doch es findet sich kein Abnehmer. Schnitzler zeigt plötzlich das Engagement, dass er von Anfang an benötigt hätte um ein Weltklassespieler zu werden. Er nimmt sich einen Privatcoach, greift die überflüssigen Pfunde an. Doch von Anfang an ist der Hund drinnen: Er bezahlt seinen Trainer wieder mit Zockergeld, das er nachts online erpokert. 17.000 Euro verbrät er einmal in 45 Minuten. Um sich Geld zu borgen, täuscht er sogar einen Selbstmordversuch vor. Schnell kippt er wieder in seinen alten Lebensstil zurück. Als ihn eine Leistenverletzung vom lästigen Training befreit, hängt er mit Biermann, Ebbers und Brunnemann nur noch vor dem Computer. Dann ist es aus – das Kapitel Profifußball. „Schnitzler hat keine ausreichende Einstellung zum Fußball und zu seinem Beruf.“, erklärt eine Aussendung des FC St. Pauli zwei Jahre voller Ausrutscher, Faux-pas und letzter Chancen. Für den realitätsfremden Schnitzler ist es der Einstieg in die professionelle Spielerwelt: Er, der rücksichtlose Zocker, überlegt tatsächlich Pokerprofi zu werden. In Wien, San Remo und Monte Carlo versucht er sich an Turnieren. Großteils erfolglos.
Unrechtbewusstsein – ein Fremdwort für Schnitzler: Er zieht zurück nach Mönchengladbach, während seine Freundin Sara noch das Semesterende an der Uni Hamburg abwartet. Plötzlich klopft es an der Wohnungstür: Ein Zuhälter, dem Schnitzler noch Geld schuldet, will seine Schulden- begleitet vom jetzigen Sturm-Graz-Torwart Benedikt Pliquett als Vermittler – eintreiben. Schnitzlers Freundin telefoniert mit René, der rät ihr: „Ruf sofort die Polizei!“ Mit diesem unrühmlichen Zwischenfall endet das Kapitel Hamburg.
Auch wenn es viele René Schnitzlers im Profifußball gibt, ist dies kein Buch über Fußball. René packt zu wenig aus und redet zu viel nur über sich selbst. Es ist seine eigene Geschichte und man tut sich schwer mit ihm Mitleid zu haben. „Warum braucht es Werbegelder von Unternehmen, die ihr Image an der Stadionbande oder auf dem Trikot der Spieler aufhübschen wollen? Der Fußball könnte ja auch sagen: Eure Kohle nehmen wir nicht! Sagt er aber nicht. Dass Zocken so salonfähig wird, auch für die Spieler – egal. Dass nicht nur René Schnitzler, sondern auch etliche andere Bundesligaspieler Probleme mit Spielsucht haben – egal. Dass Spielsucht zu Schulden führt und diese Schulden einen Fußballprofi in die Nähe der Wettmafia bringen können – wird offenbar weiterhin ignoriert.“, kritisiert Autor Löer das fehlende Bewusstsein in der deutschen Bundesliga.
Schuldgefühle wegen allem? Nein, die hat Schnitzler nicht. Er raucht, er schaufelt Fast-Food in sich hinein und zockt weiter. St. Truiden, ein belgischer Verein, lädt ihn trotzdem zum Probetraining ein. Er ist gut drauf, sagt sein Berater. Trainer Wilmots findet das nicht: „Der René ist nicht bei 70 Prozent. Der muss noch 70 Prozent aufholen.“ Schnitzler geht zum FC Wegberg. Bis 17:30 Uhr schläft er, dann steht er auf und fährt zum Training. Die Nacht wird durchgezockt bis er gegen 9 Uhr früh nachhause kommt. Im Dezember 2009 erwischt er einen besonders guten Tag im Casino: Er macht aus 1.000€ innerhalb weniger Stunden 130.000€. Zwei Tage später gewinnt er erneut 30.000. Jetzt kann er sich auf einen Schlag schuldenfrei machen und von vorne anfangen. Doch ein letztes Mal nimmt er die ausgestreckte Hand nicht an. Vielleicht ist er dazu gar nicht in der Lage. Seine Mutter kann ihn nur überreden wenigstens 50.000€ Schulden zu begleichen. Der Rest des Geldes wandert in den Safe. Peu à peu verschwindet das Geld aber wieder, so wie es gekommen ist. Bis zum Heiligen Abend ist alles futsch. Der Stürmer, der doppelt so gut wie Gomez war, sitzt auf einem 150 000 € schweren Schuldenberg. Verzockt hat er nach eigenen Angaben das Zehnfache.
2010 führt ihn seine Spielsucht auf eine Bochumer Zellenpritsche – ganz nach unten. Die Polizei holt ihn ab: „Wir ermitteln im Zuge des Fußball-Wettskandals.“ Schnitzler gibt sich offen: Er ist sich keiner Schuld bewusst: „Ich habe zwar Geld dafür genommen, dass mein Klub Spiele verliert, aber nie ein Spiel bewusst manipuliert!“ Der DFB sperrt ihn für zweieinhalb Jahre. Er heuert nach der Sperre in Rheydt an, vermarktet sein Buch. Die Eltern, die Freundin – Sie alle hat er behalten. Sara sagt: „Ich liebe den René trotzdem. Und ich weiß, dass er eigentlich ein total guter Mensch ist.“ Sie hat ihm ein Ultimatum gestellt. Nicht sein erstes. Am 21. April 2015 startet das Verfahren gegen René Schnitzler wegen Beihilfe zum gewerbsmäßigen Betrug, Unterstützung einer kriminellen Vereinigung und Steuerhinterziehung vor dem Bochumer Landgericht.
Marie Samstag, abseits.at
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