In dieser dreiteiligen Serie sollen die dunklen Seiten des Fußballgeschäfts betrachtet werden. Dazu gehören Homophobie und der Umgang mit Menschen, die einfach anders sein... Der Fußball und seine Schattenseiten (2) – Martin Bengtsson

In dieser dreiteiligen Serie sollen die dunklen Seiten des Fußballgeschäfts betrachtet werden. Dazu gehören Homophobie und der Umgang mit Menschen, die einfach anders sein wollen oder psychisch an dem Geschäft zerbrechen. Der zweite Teil dreht sich um den Schweden Martin Bengtsson.

Freigeschwommen: Martin Bengtsson

Mit neun Jahren fasst Martin Bengtsson einen Entschluss: Er will Fußball-Profi werden. Am liebsten in Italien beim AC Mailand. Ab diesem Zeitpunkt ordnet er diesem Plan alles unter. Ein spezieller Trainingsplan wird erstellt und im Alter von gerade mal zwölf Jahren fängt Bengtsson an sich das erste Mal planmäßig zu übergeben, weil er sich als zu dick empfindet. Er scheint zu jedem Opfer bereit und trainiert fünfmal am Tag. Immer angetrieben von diesem einen Traum, den die schwedische Nationalmannschaft, ganz besonders Tomas Brolin,  während der WM 1994 in seinem Kopf festgepflanzt  hat.

Gesundheitlich geht es ihm immer schlechter und erste Zweifel kommen auf: Ist der große Traum all diese Opfer wert? Doch zu diesem Zeitpunkt kommt das Angebot des Örebro SK. Der Club seiner Heimatstadt möchte das junge Talent unbedingt und mit 16 Jahren debütiert er in der ersten schwedischen Liga. Nun geht alles ganz schnell: Bengtsson wird in die Jugendnationalmannschaft berufen, während Jugend-Turnieren werden die großen europäischen Vereine auf ihn aufmerksam.

Im Alter von 17 Jahren wechselt Bengtsson dann tatsächlich nach Italien, aber zum großen Konkurrenten des AC Mailand, Inter. Zunächst läuft auch alles wie am Schnürchen. Der junge Schwede findet schnell Anschluss und zeigt hervorragende Leistungen. Zudem gibt er sich den Verlockungen hin, die für einen Jungprofi mit mehr Geld als man ausgeben kann, allgegenwärtig sind. Mit seinen Mannschaftskollegen geht er regelmäßig in der Mailänder Innenstadt shoppen und kehrt mit Luxusklamotten oder den neuesten Handymodellen zurück. Kram, den er eigentlich nicht braucht.

Doch während einer Verletzungspause gerät das ganze Gebilde Profifußball für das Talent ins Schwanken. Das Training war bisher der einzige Lebensinhalt von Bengtsson, ohne fühlte er sich leer. Gedanken kommen auf: Ist Fußball wirklich alles im Leben? Will ich mein Leben weiter in diesem goldenen Käfig verbringen, mir das Korsett der Regeln und bis ins letzte Detail durchstrukturierten Abläufe weiter überstreifen, was für eine Profi-Karriere unabdingbar ist? Bengtsson sagt über sein Leben im Inter-Jugendzentrum folgendes: „Es gab nichts außer Fußball. Wenn wir nicht trainierten oder spielten, hingen wir vor der PlayStation oder schauten uns alte Partien auf dem hauseigenen Inter-Channel an.“

Schon während seiner Zeit als Jugendspieler bei Örebro kamen erste Zweifel an den Männlichkeitsritualen der Fußballwelt auf, die für Schwäche keinen Platz hat. In dieser Zeit macht er sich Dreadlocks und hört Punkrock. Die erste Saat der Rebellion wird gepflanzt.

In der Sommerpause 2004 lernt Bengtsson während eines Heimatbesuchs ein Mädchen kennen und verliebt sich in sie. Mit ihr gemeinsam besucht er ein Rockfestival. Dort sieht er unter anderem Morrissey – ein Schlüsselerlebnis wie er heute sagt.

Die Jugendakademie von Inter wird fast gleichzeitig immer mehr zur Kaserne. Weil drei Spieler beim Kiffen erwischt wurden, werden die Regeln verschärft. Das Gelände darf nur noch selten verlassen werden, am Abend werden die Türen verschlossen. Bengtsson kauft sich eine Gitarre, schreibt Songs und Texte, um die freie Zeit auszufüllen. Damit tritt er Stück für die Stück in die Fußstapfen seines Vaters, der als Musiker sein Geld verdient. Doch während einer Zimmersäuberung schmeißt eine übereifrige Putzfrau seine gesamten musikalischen Aufzeichnungen in den Müll. Das Zimmer eines Fußballers hätte nicht so auszusehen ist ihre Begründung. Für Bengtsson bricht eine Welt zusammen, war die Musik doch zu seinem wichtigsten Zufluchtsort geworden, versucht er doch mittlerweile eine Mischung aus Roberto Baggio und Kurt Cobain zu sein.

Die strenge Welt des Profifußballs lässt diese Annäherungen jedoch nicht zu. So isoliert sich Bengtsson immer mehr. Seine Mitspieler sehen ihn als Sonderling. Bengtsson ist todunglücklich, wird von Wahnvorstellungen geplagt und ergibt sich seinen Depressionen. Seiner Freundin, die um seinen Zustand weiß, verspricht er heimzukommen, wenn es nicht mehr geht. Er will jedoch nicht aufgeben und als Schwächling dastehen.

Doch drei Tage nach dem Zwischenfall mit der Putzfrau, ist Bengtsson vollkommen am Ende. Er stellt sein Handy ab, nimmt eine Rasierklinge und schneidet sich die Pulsadern auf.

Er schneidet jedoch nicht tief genug und überlebt. Er erwacht in der Notaufnahme eines Mailänder Krankenhauses. Inter Mailand wird den Zwischenfall öffentlich als epileptischen Anfall herunterspielen, bei dem der Schwede sich mit einem scharfen Gegenstand am Handgelenk verletzt habe.

Nach seiner Rückkehr nach Schweden hört er nicht sofort mit dem Fußball auf. Er beginnt noch einmal bei der zweiten Mannschaft von Örebro zu spielen, und zwar so gut, dass in der Presse schon von dem Comeback eines Supertalents geschrieben wird. Noch am selben Tag als der Artikel erscheint, beendet Bengtsson seine Karriere endgültig.

Für einen Neustart als Musiker zieht er 2008 nach Berlin, nennt sich nun „Waldemar“ und spielt in kleinen Clubs. Für ihn ist das Musikerleben ein großer Spaß, den gleichen Ehrgeiz wie beim Fußballspielen empfindet er nach eigener Aussage beim Musikmachen nicht. Zudem hat Bengtsson eine Autobiographie veröffentlicht, die in Schweden bereits 20.000 Mal verkauft und als Theaterstück aufgeführt wurde.

Mittlerweile ist er wieder nach Schweden zurückgekehrt, da er an einer Autorenschule aufgenommen wurde. Er arbeitet derzeit an einem zweiten Buch. Profifußballer bedauert er im Allgemeinen aber nicht – nur für ihn wäre das nichts mehr.

Hier ein schönes Videoportrait über Martin Bengtsson von 11Freunde:

Ral, abseits.at

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