Der schwarze Hund (1/2) – Zum 40. Geburtstag von Robert Enke
Gesellschaft & Ethik 24.August.2017 Marie Samstag 1
„Es ist einem Gesunden schwer zu vermitteln, wie ein Depressiver die Welt erlebt.“, hat die Zeit einmal geschrieben, als sie Sebastian Deisler zwei Jahre nach seinem Rücktritt vom Profifußball interviewt hat. Wir leben in einer Gesellschaft, die noch immer nicht verstanden hat, dass psychische Erkrankungen mit einem „Reiß di zam!“ nicht geheilt werden können. Didi Kühbauer, der meiner Meinung nach intellektuell immer unterschätzt wird, hat doch einmal etwas gesagt, was ich nicht verstehen konnte, bis heute nicht verstehen kann: „Manche sagen, Robert Enke war feig. Ich maße mir das nicht an. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass etwas so schlimm ist, dass man es nicht einmal mehr daheim mit der Familie lösen kann.“ Doch Lösungen, die Gesunden logisch erscheinen, sind für Depressive nicht als solche erkennbar. Robert Enke wusste das. Er wurde mit einer Tendenz zur Krankheit geboren, ausgebrochen ist sie bei ihm dann ohne Vorwarnung. Enke konnte sich nicht helfen, hat keine Hilfe zugelassen, weil er dachte, dass solche Fehler in seinem Geschäft nicht verziehen werden. Eine chronische Verstimmung, die die Leistung beeinflusst, passt nicht zum Bild eines Profisportlers, zum Ideal eines Mannes. Enke schaffte es nicht den schwarzen Hund an die Leine zu legen, er hatte gar keine Chance dazu. Heute, am 24. August, würde er seinen vierzigsten Geburtstag feiern und hätte wahrscheinlich die Hälfte seines Lebens noch vor sich.
Denn auf den Gräbern sind sie vergebens
Robert Enke hat es auf das Cover der Times geschafft. Das chinesische Staatsfernsehen berichtete über ihn. Bei seinem letzten Gang begleiteten ihn mehr Menschen als Konrad Adenauer. Doch diese Anteilnahme hilft einem Toten nicht mehr. Der Profi, der mit 29 Jahren in die Nationalmannschaft gekommen war, der den Tod seiner Tochter überwinden musste, hat sich das Leben genommen. Seine Karriere war zwar eine Achterbahnfahrt, doch die sportlichen Rückschläge waren nie ausschlaggebend für seinen Gesundheitszustand. Es ist wie bei einem Billardspiel: Die Stellung der Kugeln nach dem ersten Stoß ist vollkommen anders, wenn man den Queue nur eine Spur anders auf den weißen Ball auftreffen lässt. Manchmal brachte Enke eine Kleinigkeit aus dem Konzept, dann wieder zeigte er in jener Situation, die für alle Eltern der schlimmste Albtraum ist, wundersame Stärke und war fest entschlossen sein Leben nicht von der Trauer zerstören zu lassen. Kaum einer wusste, dass Robert Enke schon zu Lebzeiten den Wunsch äußerte, bald nach seinem Karriereende eine Biografie zu schreiben. Niemandem – außer ihm selbst – war bekannt, dass er es vorrangig tun wollte, um endlich von seinen Problemen zu berichten, um anderen Betroffenen Mut zu machen. Seine Witwe Teresa ist heute aus der Gegend, in der sie mit Robert seit seinem Engagement bei Hannover 96 gelebt hat, weggezogen. „Es ist ganz viel passiert.“, sagt die Vorsitzende der Robert-Enke-Stiftung sieben Jahre nach dem Freitod ihres Mannes. Sie unterstützt jetzt Hilfsprojekte für depressive Menschen. Den Druck des Profigeschäfts will und kann sie nicht verändern, aber sie will ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es Hilfe geben kann. Dass eine Depression kein Grund ist seine Karriere oder gar sein Leben wegzuwerfen, wie es Robert getan hat.
Begonnen hat Roberts Geschichte in der Trabantensiedlung Lobeda in Jena. Die Betonburgen werden im Herbst 2011 schlagartig bekannt, als die rechtsextreme Organisation Nationalsozialistischer Untergrund aufgedeckt wird. Das jüngste Mitglied dieser dreiköpfigen Terrorgruppe wuchs ebenfalls in Lobeda auf. Wie man auf den ersten Blick annehmen könnte, sind die Hochhäuser keine Sozialbauten, sondern typische DDR-Wohnungen für mittelständische Familien. Eine bürgerliche Familie sind auch die Enkes: Roberts Mutter ist Lehrerin für Sport und Russisch, sein Vater ist Psychotherapeut. Der spätere Torwart ist das Nesthäkchen, er kommt mehrere Jahre nach seinen Geschwister Anja und Gunnar zur Welt. Zwischen den Wäschestangen der Hochhäuser spielen die Kinder Fußball, wenn sie nicht beim Klub trainieren. Robert kickt zunächst als Stürmer beim SV Jenapharm. Als er dem größeren Verein Carl Zeiss Jena drei Tore einschenkt, wird er nach dem Schlusspfiff zum Wechsel überredet. Kurz darauf wird der Vater des Carl-Zeiss-Torwartes nach Moskau versetzt und Robert erbt dessen Posten. Ausschlaggebend ist, dass er beim Auswahl-Elferschießen zweimal glücklich angeschossen wird. Er ist zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Als Goalie ist er stark und wird mit 12 Jahren schon zu einer lokalen Berühmtheit: Er verfügt über tolle Reflexe, ist schnell und stark im Eins-gegen-Eins. Ein Schnappschuss aus dem Bus erregt heute die Aufmerksamkeit des Betrachters: Die Jugendmannschaft von Carl Zeiss. Die Jungs blicken in die Kamera, nur nicht Robert. Der sitzt am Fenster und starrt gedankenverloren vor sich hin. Bereits als 16-jähriger sagt „Robbi“: „Oft denke ich nicht über die Welt nach, aber manchmal habe ich das Gefühl, als ob sie untergeht.“ Worte, die wie typischer Teenager-Weltschmerz klingen, doch jetzt – wo Roberts Geschichte zu Ende ist – kann man diese Aussagen in einem anderen Licht betrachten. Auch Vater Dirk bemerkt damals schon, dass mit seinem Jüngstem etwas nicht stimmt. Die Mitspieler nehmen Robert als stoisch wahr, doch Dirk Enke spürt, dass sein Bub große Selbstzweifel hat: „Wenn ich nicht der Beste bin, bin ich der Schlechteste.“ Diese einseitige Wahrnehmung kennt der Psychotherapeut aus Gesprächen mit seinen Patienten. Robert bringt sich als Kind bei, Schmerzen einfach hinunterzuschlucken. Als ihm seine Eltern eröffnen, dass sie sich trennen werden, läuft er davon und ist stundenlang unauffindbar. Als Junioren-Torwart legt er sich selbst den Druck auf unbedingt Profi werden zu müssen und findet kein Ventil für den Stress. Doch zunächst geht der Plan auf: Mit 17 Jahren wird Robert Enke dank einer Sondergenehmigung Profispieler. Noch vor seiner mündlichen Geografie-Abiturprüfung unterschreibt er bei Borussia Mönchengladbach. Zu dieser Zeit beginnt die Romanze mit seiner Schulfreundin Teresa und die lebenslange Freundschaft mit Marco Villa. Beide Beziehungen zerbrechen bis in den November 2009 nicht und dass obwohl man oft tausende Kilometer voneinander getrennt ist. Marco ist Stürmer bei der Borussia und ein Schlitzohr. Das heitert Robert auf. Er ist unbeschwert, wenn andere unbeschwert sind. Marco ist der Typ, der Seife in die Unterhosen und Zahnpasta unter die Türschnalle schmiert. Robert würden diese Scherze nicht im Traum einfallen, er ist jedoch unendlich dankbar so jemandem zum Freund zu haben.
In Mönchengladbach sitzt er anfangs auf der Tribüne, weil am Stammtorwart Uwe Kamps kein Vorbeikommen ist. Vater Dirk rät ihm, Struktur in seinen Alltag zu bringen, damit er ruhiger wird. Doch Robert ist von Ehrgeiz zerfressen. Teresa beginnt währenddessen ein Lehramtsstudium, in ihrer Vorstadtwohnung gehen sich gegenseitig auf die Nerven: Die zwei jungen Leute langweilen sich in einer Stadt, wo sie keinen Anschluss finden. In seiner zweiten Bundesligasaison wird Robert dann mit einem Knall in die Mannschaft befördert. Beim Training reißt sich Kamps die Achillessehne: Ein Schnalzer, der es einem kalt den Rücken hinunterlaufen lässt. Robert hält bei seinem Debüt den Kasten sauber: 3:0 gegen Schalke. Er atmet tief durch, langsam geht es aufwärts. Selbst bei seiner ersten Schlappe – 2:8 gegen Leverkusen – verliert er sein innerliches Gleichgewicht nicht. Weitere Niederlagen folgen, Borussia spielt eine grauenhafte Saison. Enke kann sogar darüber lachen, wenn Leute über ihn tuscheln: „Das ist doch der Torwart, der immer die Bude vollkriegt.“ Er bringt trotzdem gute Leistungen und will den Verein verlassen, als der Abstieg feststeht. Die Fans sind empört und Robert muss sich „Stasi-Schwein“ und „Verräter“ nennen lassen. Es ist ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt zu wechseln: Sein Berater Jörg Neblung sucht gerade einen Klub für seinen Mannschaftskollegen Sebastian Deisler, der als der neue Günter Netzer gefeiert wird. Robert steht auf der Prioritätenliste weiter unten, als ein Angebot aus dem Ausland kommt: Jupp Heynckes wird Trainer bei Benfica Lissabon und würde den 21-jährigen Keeper gerne verpflichten. Robert fliegt mit Teresa und Jörg Neblung nach Lissabon und unterschreibt. Kurz danach erleidet er seinen ersten Zusammenbruch: „Ich kann hier nicht bleiben!“, sagt er seinem Berater und seiner Freundin. Er weint so bitterlich, dass den beiden ganz schummrig wird. Jörg Neblung gewinnt Zeit und verschafft Robert und Teresa Freiraum für einen Urlaub. Heynckes hält die ganze Aktion für einen Trick. Er verpflichtet zusätzlich Carlos Bossio, den olympischen Silbermedaillengewinner von 1996. Überraschenderweise ist es dieser Schritt, der Robert Mut macht, seinen Arbeitsplatz in Portugal anzutreten: Jetzt trägt er nicht die Last des Einsers und kann sich in Lissabon zunächst in Ruhe eingewöhnen. Während Teresa den Umzug organisiert, scheint alles wieder in Ordnung zu sein. Doch plötzlich ist „Robbi“ weg, verschwunden. Wie damals als Kind hat er sich einfach für mehrere Stunden aus dem Staub gemacht. Als er wiederauftaucht, mit Augen, wie ein seelenkranker Gorilla, der im Zoogehege sein Dasein fristet, weiß Teresa: Ihr Freund leidet unter Panikattacken.
É bom estar aqui – Es ist schön hier zu sein
Mürrisch beginnt jeder Tag für die Enkes in der portugiesischen Hauptstadt: Teresa, die ihr Studium ruhen lassen muss, bringt Robert täglich zum Training und holt ihn wieder ab. Doch – wie so oft in Enkes kurzem Leben – wendet sich das Blatt und „Robbi“ blüht auf. Carlos Bossio ist ein gutmütiger Riese, der auf ihn zugeht und ihn unterstützt. Enkes Ehrgeiz erwacht: Wenn das Training vorbei ist, schiebt er Extraschichten in der Kraftkammer. Und auch Cheftrainer Heynckes macht ihm Mut: „Walter [Anmerkung: Tormanntrainer W. Junghans], du und ich, wir sind gemeinsam hier und wir ziehen das auch gemeinsam durch.“ Außerhalb des Platzes dauert es länger bis sich Robert mit dem Gedanken anfreunden kann, im Ausland zu leben. Erst nach der Sommervorbereitung schafft er es auch außerhalb des Sportes in der Stadt des Lichts Fuß zu fassen. Lissabon soll seine Stadt werden. Sportlich läuft es bald großartig: Nachdem Bossio das Eröffnungsspiel gegen Bayern in den Sand gesetzt hat, ist Enke im Tor gesetzt. „Voa Enke!“ – „Enke fliegt!“, schreibt bald die Zeitung und „Héro“ nach zwei gehaltenen Elfmetern gegen Saloniki. Robert Enke kann seine Paraden zeigen, wird Stütze der Mannschaft und Kapitän. José Moreira nimmt Bossios Platz ein. Der Jungspund wird zu Roberts Trainingspartner und Sprachlehrer. Noch Jahre später informierte sich der Deutsche, wie sein einstiger Kollege spielt und auch Moreira lobt ihn stets über den grünen Klee. Bis Ende Oktober muss Robert Enke kein Gegentor hinnehmen. Er zieht mit Teresa in das majestätische Gästehaus eines Palais mit eigenem Swimming Pool. Während Robert trainiert, rettet seine Freundin Hunde von der Straße und liest Krimis. Sie leben ein angenehmes, abwechslungsreiches Leben und ahnen nicht, was noch auf sie zukommen soll. „Ich glaube, Robert bekommt nie wieder eine Angstattacke.“, sagt Teresa zu ihrem Schwiegervater, als dieser zu Besuch ist.
„Uenk“, rufen ihn die Fans. Sie lieben Robert, auch wenn er sieben Bummerln gegen Celta Vigo hinnehmen muss. „Eine Niederlage ist eine andere Niederlage für einen Tormann, wenn er daran keine Schuld trägt.“, sagt Walter Junghans. Es sind niemals Gegentore, die Roberts seelische Niedergeschlagenheit verursachen. Er gilt als zurückhaltend und ruhig, doch genießt er die Gesänge der Fans. Heynckes beschreibt ihn als selbstkritisch und akribisch. Für Robert und Teresa ist es nach der Saison Zeit ihrer Jugendliebe den letzten Schliff zu geben: Sie heiraten in der Nähe von Mönchengladbach, wo sie ihren Urlaub verbringen, bevor sie wieder nach Lissabon zurückkehren. Dort organisieren sie sich eine neue Bleibe: Das prachtvolle Gästehaus war nur im Sommer eine tolle Wohnung, im Winter konnte man es nicht heizen und es war eiskalt. Diese Kälte ist symbolisch für Robert Enkes Gemütszustand. Während seiner zweiten Saison in Portugal, schleicht sich langsam wieder der „Ich-bin-nicht-gut-genug-Gedanke“ in seine Hirnwindungen ein. Teresa merkt wie er sich verändert, schiebt es zunächst aber auf eine Phase. Nächtelang brütet der Torwart vor Videos aus der italienischen, spanischen oder griechischen Liga. Er hat Angst in seiner Entwicklung stehen zu bleiben.
Die Spielzeit 2000/2001 fängt ohne Jupp Heynckes an. Den Ansprüchen des Klubs genügt ein dritter Platz außerhalb der CL-Ränge nicht. „Er war der beste Trainer meiner Karriere.“, sagt Robert über den Mann, der ihn anschließend nur vier Monate lang trainiert, bis er gekränkt das Handtuch wirft, als der Vorstand seinen Vertrag nicht vorzeitig verlängern will: José Mourinho. Robert ist so ehrgeizig wie „the special one“, es steht für ihn außer Frage, den nächsten Schritt zu machen, obwohl er den Verein und die Stadt inzwischen liebgewonnen hat. Ein Angebot von Sir Alex Ferguson lehnt er deswegen ab: Ersatztorwart in Manchester? Nein, danke. Umso schmerzhafter muss er mitansehen wie Fabien Barthez als Einser bald wackelt. Rivale Porto bietet Enke zehn Millionen netto für drei Jahre. Auch Bremen, Kaiserslautern und Alavés klopfen an. Robert meldet sich verletzt, als herauskommt, dass der Trainer Moreira für die restlichen Spiele statt ihm aufstellen wird. Dann heißt es: Adeus Lisboa! Mit Bernd Schuster Hilfe schafft es Berater Neblung bei Barcelona vorzusprechen. Bei Barça gibt es damals keinen Stammtorwart, es wechseln sich Bonano und der junge Pepe Reina ab. Roberts eleganter Stil und sein Fußballverständnis passen zu den Blaugrana. Als der Transfer endlich in trockenen Tüchern ist, gönnen sich Robert und Teresa, die eigentlich zurück nach Deutschland wollte, Sekt aus der Hotelminibar. „Robert ist eine sichere Wette für Barca.“, bestätigt Mourinho. Trainer bei den Katalanen ist aber nicht er sondern der knorrige Holländer Louis van Gaal, der gleich zu Beginn sagt, dass niemand im Team einen Fixplatz hätte. Robert Enke muss sich verändern: Er ist jetzt nicht mehr nur Torwart, sondern der elfte Feldspieler. Das Barça-Konzept sieht vor, dass der Angriff mit dem Abschlag des Tormannes beginnt. Das bedeutet: Mitdenken, Hinauslaufen, richtige Beinarbeit. Anfangs spielt Victor Valdés – weil er Katalane ist und weil Van Gaal junge Torhüter bevorzugt, so munkelt man.
Rückschläge
In einem Cupspiel gegen einen Drittligisten soll Robert Enke seine Chance bekommen. „Du hast nicht den Rhythmus und sollst dich in diesem Spiel beweisen. Da stehst du unter extremen Druck.“, sagt selbst der Tormanntrainer. Es ist der 11. September 2002 – ein Datum, das man sich gut merken kann. Robert hat vorher zu Teresa gesagt: „Da kann ich nur verlieren.“ und er sollte Recht behalten. Bis zur Pause geht alles gut: Barça führt und beherrscht das Spiel, dann spielt Novelda einen Angriff. Robert muss raus aus seinem Tor und die Flanke herunterpflücken. Doch er zögert. Er sieht, dass der Mittelstürmer seinen Bewacher abgeschüttelt hat und allein bei der zweiten Stange steht. Das 1:1 ist ein Weckruf für die Heimmannschaft: „Wir gewinnen das! Wir gewinnen das!“, jubeln die Spieler. Enke ist wie gelähmt. 2:3 verlieren die Blaugranas. Kapitän Frank de Boer kritisiert seinen Torwart danach öffentlich. Robert wehrt sich nicht. „Robbi hat wieder eine Depression“, schreibt seine Frau in ihr Tagebuch. Heute weiß sie, dass das damals noch keine Depression, sondern ein Stimmungstief war. Ein deutscher Psychotherapeut in Barcelona diagnostiziert eine tiefgehende Niedergeschlagenheit und verordnet Muskelrelaxation. Robert glaubt nicht, dass ihm die Übungen helfen, ist aber zu feig die Sitzungen abzusagen. Er fühlt sich in Barcelona einfach nicht wohl. Bei Benfica bildeten die drei Torhüter und ihr Trainer noch eine eingeschworene Gruppe, jetzt führt Torwarttrainer Hoek ein hartes Regiment. Er ahnt nicht, wie persönlich der Deutsche sein Verhalten nimmt. Roberts nächste Chance ist ein Spiel in Brügge, das so unwichtig ist, dass Van Gaal mit Jugendspielern anreist. „Baby-Barça“ mit Enke brilliert dieses Mal. „Enke war sehr gut, am Ende rettete er uns den Sieg.“, muss sogar der Holländer eingestehen. Trotzdem bleibt Enke weiterhin nur Ersatz hinter Bonano, der dem 20-jährigen Valdes den Stammplatz abgeluchst hat. Bonano ist nett: Er schreibt in seiner Freizeit Kinderbücher, seine Frau arbeitet als Psychologin. Enke und er reden trotzdem nie über Persönliches, sie werden einfach nicht warm. Teresa arbeitet halbtags in einem Tierheim, wo Robert sie sooft er kann besucht. Seine Laune bessert sich erst als das Saisonende näherrückt. Er wird Barça verlassen, das ist längst beschlossen. Das I-Tüpfelchen ist eine letzte Demütigung, als er für das CL-Spiel gegen Leverkusen in der Kabine das Trikot mit seinem Namen vergeblich sucht: Man hat ihn für das Match nicht einmal nominiert. Bloß weg hier.
Fenerbahce, FC Kärnten, FC Brügge melden sich bei Berater Neblung. Das sind keine Vereine, für die Robert auflaufen möchte, doch bis in den Juli kommt kein weiteres Angebot für den Schlussmann, der nur drei Spiele für Barça machte hineingeflattert. „Wir haben keine Alternative zur Türkei.“, meint Neblung schließlich. „Es ist doch nur ein Jahr.“, sagt Teresa zu Robert. Die Süper Lig ist Auffangbecken für gestrandete Karrieristen und somit Roberts worst-case-szenario. Er beschließt zunächst ohne seine Frau nach Istanbul aufzubrechen. Bei seinem ersten Spiel steht es nach 57 Minuten 0:3 für den Gegner. Robert wird mit Feuerzeugen und Flaschen beworfen. Als Teresa ihn anruft, steht seine Entscheidung fest: Hier kann er nicht bleiben. Er hatte einen kapitalen Aussetzer und traut sich jetzt nicht mehr auf die Straße zu gehen aus Angst vor den fanatischen Fans. In seinem Tagebuch deponiert er erstmals den Wunsch endlich eine Therapie machen zu wollen. Torwarttrainer Eike Immel ist fürsorglich: „Robert, komm‘ auf einen Kaffee vorbei. Oder – wenn dir danach ist – machen wir‘s wie Oliver Kahn und trainieren bis zum Kotzen, bis der Frust raus ist.“ Als Immel Enke in seinem Hotelzimmer schließlich besucht, schüttet ihm der Torwart sein Herz aus. Schnell bemerkt Immel, dass er ihn nicht umstimmen kann. Für den sensiblen Spieler ist die heißblütige türkische Liga nichts. Er telefoniert mit Cheftrainer Daum und sie beschließen Robert aus dem Vertrag zu helfen. 15 Tage nach seiner Ankunft, verlässt Robert Enke den Bosporus wieder. Der Verein zahlt seine Hotelkosten und den Rückflug, sonst nichts.
Wenn der präfrontale Cortex unteraktiv ist, fühlt man sich schlaff. Es dringen nur noch negative Reize vor: Angst, Wut, Verzweiflung. Verlangsamte Reflexe sind die Folge und das ist das Schlimmste, was einem Torwart passieren kann. Robert kommt zurück nach Katalonien und bringt seine Depression mit. Die Klubs lösen die Leihe auf und er hält sich mit Einzeltraining bei Barça fit. Noch vor dem Frühstück dreht er mit seinen Hunden die erste Runde, er strukturiert seine Tage, doch die Versagensängste quälen ihn weiter. Ein Internist verschreibt ihm schließlich Anti-Depressiva. Nach außen wirkt er jetzt ruhiger, doch innerlich fühlt er sich stumpf und gefühlskalt. Offiziell ist er am Knöchel verletzt, während Neblung nach einem geeigneten Arzt in Deutschland sucht. Enke trainiert hin und wieder im Rehazentrum oder bei den Profis des 1. FC Kölns mit. Mit der Zeit schafft es der Arzt die Tabletten gut zu dosieren und es geht aufwärts. Die Medikation schlägt nun wirklich an. In der Heimat, im Vertrauten beginnt Robert langsam wieder Fuß zu fassen. Marco spielt in Nürnberg, sie können sich jetzt öfter sehen. Die Weihnachtsfeiertage verbringen die Enkes bei Freunden und feiern so ausgelassen, wie Robert noch nie gefeiert hat. Er ist nun lebensfroh und sicher, dass er bald wieder die Glücksgefühle, die er als Kind bei Carl-Zeiss Jena im Tor empfunden hat, wieder erleben wird. Sein Beruf wird ihn wieder so glücklich machen wie es einst in Lissabon der Fall war. Die Talsohle ist durchschritten. Als Robert Enke im Jänner 2004 nachts in seinem spanischen Haus seine alten Tagebuchnotizen liest, erkennt er den traurigen Enke der letzten Monate gar nicht mehr wieder. Teresa ist schwanger. Eine neue Lebensperspektive ist da.
Wir fahren morgen mit dem zweiten Teil fort.
Marie Samstag, abseits.at
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