Vor exakt 25 Jahren ereignete sich die Katastrophe von Hillsborough. Sie gilt nach wie vor als eine der größten Fußball-Katastrophen aller Zeiten. Während Konsequenzen für die Stadionsicherheit rigoros gezogen wurden und der englische Fußball dadurch fundamentale Veränderungen erlebte, blieb die Aufarbeitung der Verantwortung äußerst zögerlich und harrt im Grunde bis heute einer befriedigenden Lösung.
Die Tragödie vom 15.04.1989
Für das Semifinalspiel im FA-Pokal zwischen Liverpool und Nottingham Forrest wurde das Hillsborough-Stadion in Sheffield als neutraler Austragungsort gewählt.
Der Samstag, der 15. April, war ein schöner Frühsommertag, das Spiel für 15:00 angesetzt. Viele Fans fanden sich bereits früh ein. Es kam zu keinen nennenswerten Störungen. Die allgemeine Stimmung war im Gegenteil sehr gut.
Die Scharen strömten deshalb auch nicht übermäßig früh zum Stadion, sondern ließen sich Zeit. Gegen 14:30 kam es außerhalb des Stadions im West-Teil, der für die Liverpool-Fans reserviert war, zu ersten Platznöten. Das Gedränge und Geschiebe wurde durch neu hinzukommende Fans stärker, die eben erst angereist waren. Der Druck dieser ungefähr 5000 Personen intensivierte sich vermehrt, da auch der Anpfiff näher rückte. Die Personendichte erreichte ein gefährliches Ausmaß, und Panik trat auf. Um diesem Druck vor dem Bereich der Drehkreuze ein Ventil zu geben, entschied die Polizei, ein zusätzliches Tor zu öffnen, das von der Funktion her ein reines Ausgangstor war. Die Folge war ein völlig unkontrolliertes Einströmen von Personen mit und ohne Tickets. Sie wurden durch einen Zugangstunnel in 2 Stehplatzsektoren geleitet, die in kürzester Zeit eine unerträgliche Überfüllung aufwiesen. Entweichmöglichkeiten bestanden nicht, weil ein hoher Metallzaun die Stehplatzbereiche vom Spielfeld trennte und die seitlichen Sektoren ebenfalls durch Zäune getrennt waren. Einzelne Fans konnten von anderen, die auf den Sitzrängen über dem Stehbereich waren, nach oben gezogen und gerettet werden. Andere schafften es in Todesangst, über den Zaun zu klettern und aufs Spielfeld zu gelangen. Eine unfassbare Personenanzahl jedoch wurde zu Tode gedrückt, zertrampelt oder erstickt.
Es ist bis heute unverständlich, dass die Verantwortungsträger das Desaster und das Problem des ungehinderten Zustroms durch den Tunnel nicht viel rascher erkannten. In völliger Verkennung der bereits lebensbedrohlichen Lage hinter dem Zaun wurde das Spiel sogar pünktlich um 15:00 angepfiffen. Erst lange 6 Minuten danach stoppte man das Spiel, nachdem das verheerende Ausmaß der Katastrophe schockartig deutlich wurde.
Die Fotos von Menschen, die hilflos und mit verzweifelten Gesichtern an den Zaun gedrückt wurden, gingen später um die Welt
94 Menschen verstarben noch an Ort und Stelle hauptsächlich in Folge von Atemstillstand durch zusammengedrückte Brustkörbe. Zwei weitere Menschen erwachten nicht mehr aus dem Koma. 766 Personen wurden verletzt. Zahllose weitere Personen erlitten teils schwere traumatische Störungen.
Aufarbeitung der Katastrophe
Wie bei den letzten großen Stadien-Desastern 1971 in Ibrox und 1985 in Bradford wurde unverzüglich eine offizielle Untersuchung eingeleitet. Zwei Tage nach der Katastrophe beauftragte der britische Innenminister Douglas Hurd den Lordrichter Peter Taylor, die Ursachen zu ergründen und Empfehlungen zu formulieren, wie der Umgang mit Personenmassen und die allgemeine Sicherheit bei Sportveranstaltungen in Zukunft zu gestalten sei.
Die Resultate seiner Untersuchungen brachte Taylor im Interim Report vom 01.08.1989 zu Papier, in dem er die Ursachen darlegte, während der Final Report vom 18.01.1990 Empfehlungen für die Zukunft enthielt.
Taylor hat die Aufgabe objektiv und mit größter Akribie erledigt. Schonungen nimmt er nicht vor. Hauptverantwortlich waren bereits bei ihm die Polizei und die Stadionorganisation.
Wenn heutzutage vom Taylor-Report gesprochen wird, ist jedoch meistens sein Final Report gemeint, da dieser enormen Einfluss auf die sozioökonomischen Rahmenbedingungen des Fußballs hatte und im Grunde immer noch hat.
Ursachen der Katastrophe
Auf den Punkt gebracht, lässt sich mit Taylor in einem Satz sagen: „The main reason for the disaster was the failure of police control“.
Trotzdem wird dieses Versagen der Polizei erst vor dem Hintergrund der Situation in den Stadien der 1980er Jahre deutlich. So gut wie alle englischen Stadien waren damals bereits alt und sowohl baulich als auch hinsichtlich ihrer Infrastruktur in einem recht erbarmungswürdigen Zustand.
Auch Hillsborough wurde schon 1899 errichtet und danach immer wieder umgebaut und adaptiert. Auf der älteren Nord- und der Südtribüne gab es Sitzplätze, im Osten und im Westen herrschten überwiegend Stehplätze vor. Der 1965 gebaute West-Stand, auch Leppings Lane end genannt, hatte 10.100 Stehplätze. Hinter ihm war der erhöhte Sitztribühnenbereich für rund 4.500 Personen. Im Osten befand sich die 1986 vergrößerte und überdachte terrace mit 21.000 Stehplätzen.
Wegen der damals berüchtigten Hooligans wurden die gegnerischen Fans vor dem Spiel getrennt und ihnen gegenüberliegende Stadionbereiche zugewiesen.
Trotz vergleichbarer Zuschauerzahlen auf beiden Seiten fanden die Nottingham-Anhänger 60 Drehkreuze vor, die auf zwei Stadionseiten verteilt einen Zugang auf breiter Front ermöglichten. Für die mehr als 24.000 Liverpool-Fans hingegen standen lediglich 23 Drehkreuze an einer noch dazu engen Stelle im West-Stand-Bereich zur Verfügung.
Die unterschiedliche Anzahl der Drehkreuze und deren Aufstellung auf vergleichsweise engem Raum war bereits problematisch und als neuralgischer Punkt in Fankreisen bekannt. In Verbindung mit starkem Personenaufkommen in kurzer Zeit musste diese Situation fast unweigerlich zu Komplikationen führen. Auch für Taylor war ein solches Szenario absolut vorhersehbar. Umso dringlicher wäre eine präventive Planung zur Lenkung des Personenstroms gewesen – wenn alle Sticke reißen, hätte auch ein verspäteter Spielanpfiff für Entlastung sorgen können, aber der wurde nur vorgeschlagen, von der Einsatzleitung aber abgelehnt. Stattdessen wurde aus Überforderung das Ausgangstor C geöffnet und der Personenstrom sich selbst überlassen.
Die miserable Beschilderung der Zugangsmöglichkeiten zum West-Teil verschlimmerte die Situation zusätzlich. Da in großen Lettern „Standing“ über dem Durchgangstunnel stand, wählten die meisten Zuschauer ihn als Zugang zu den Stehplätzen, obwohl er nur in zwei von insgesamt sechs Stehplatzsektoren mündete. Die übrigen vier Sektoren, zu denen keinerlei Hinweisschilder führten, blieben halbvoll.
Normalerweise waren vor dem Tunnel Einsatzkräfte postiert, die den Besucherstrom lenkten und den Eingang schlossen, wenn die dahinterliegenden Sektoren voll waren – diesmal unverständlicherweise nicht. Es gab keinerlei Kontrolle über die Personendichte je Sektor, da nur die verkauften Stehplatz-Tickets insgesamt kontrolliert werden konnten, nicht aber, wie sich die Zuschauer auf die einzelnen sechs Sektoren verteilten.
Verschärfend wirkte sich weiters aus, dass die als „Wellenbrecher“ fungierenden Geländer in den Sektoren dem Druck nicht standhielten und umstürzten. Es stellte sich auch heraus, dass die Fluchttüren im Metallzaun zwischen Sektoren und Spielfeld eine zu geringe Durchgangsbreite hatten. Eine einzige Tür pro Sektor mit nicht einmal 100cm Durchgangsbreite für mehrere Hundert Personen ist ein Hohn! Weder Wellenbrecher noch die Türen entsprachen auch dem Guide to Safety at Sports Grounds („Green Guide“), einem einflussreichen Leitfaden, der zwar per se keine normative Gültigkeit hatte, aber gewissermaßen den Stand der Technik definierte und durch Behördenauflage verbindlich gemacht werden konnte. Für Hillsborough wären die Empfehlungen des Green Guides verbindlich gewesen!
Skandalöse Begleitumstände
Bei aller Tragik der Ereignisse lässt sich die Katastrophe von Hillsborough nicht voll ermessen, wenn man sie auf Sachverhalt samt Ursachen und Schuldfragen beschränkt.
Hillsborough wurde nicht zuletzt deshalb zu einem Fanal, weil die Aufarbeitung von Anfang an mit einem Gewirr aus Lügen und Fehleinschätzungen zu kämpfen hatte und von einer regelrechten Schmutzkübelkampagne begleitet war. Bewusst und unbewusst waren viele Akteure daran beteiligt, die Tragödie in einem anderen Licht erscheinen zu lassen.
Es begann bereits mit der schauderhaften Optik durch eine völlig passiv wirkende Polizei, die trotz der sich hinter dem Stadiongitter abspielenden Überlebensdramen zögerte einzugreifen und die beiden Fluchttüren im Zaun zu öffnen. Offenbar wurde das Gedränge über Minuten als eine temporäre Erscheinung angesehen, die sich von selbst auflösen würde.
Auch nachdem die Katastrophe offenkundig geworden war, reagierte die Polizei mit teilweise sonderbaren Maßnahmen. Statt sich um die zahlreichen Opfer zu kümmern, bildete z.B. ein großer Polizeitrupp einen Kordon in der Mitte des Spielfeldes, um einen möglichen Platzsturm zu verhindern, den inmitten der Verheerungen ohnehin niemand plante.
Vollends empörend wurde das Verhalten der Polizeiverantwortlichen schließlich, als sie vorgaben, betrunkene Liverpool-Fans hätten das Tor C gestürmt und dadurch die Katastrophe ausgelöst. Das war keine bloße Schutzbehauptung, sondern eine reine Unwahrheit. Auch die Ausrede, man hätte mit solchen Anstürmen nicht rechnen können, und es sei in der Vergangenheit so etwas nie vorgekommen, war eine unsägliche Lüge. Bereits 1981 gab es infolge einer ganz ähnlichen Entwicklung im West-Stand 38 Verletzte und erst 1987 wurden zuletzt wieder kritische Personendichten in diesem Bereich verzeichnet. Darüber hinaus gab es weitere massive Manipulationen, die erst später durch das Independent Panel aufgedeckt wurden.
Der UEFA-Boss Jacques Georges bezichtigte in einer ersten Reaktion die Liverpooler Fans als „Bestien“. Vier Jahre nach Heysel konnte er „Liverpool-Anhänger“ und „Todesfälle bei Zuschauern“ in freier Assoziation offenbar nur mit Hooligans in Verbindung bringen. Er entschuldigte sich später für diese völlig deplatzierte Aussage.
Eine besonders widerwärtige Rolle nahm das Boulevard-Blatt The Sun aus dem Murdoch-Imperium ein. Es brachte vier Tage nach der Tragödie auf der ersten Seite eine Geschichte unter dem Titel „THE TRUTH“ , in der Liverpool-Fans unter Berufung auf namentlich nicht genannte Gewährsmänner bei der Polizei haarsträubende Vorwürfe gemacht wurden. Sie hätten Geldbörsen der Toten geraubt, auf Polizisten uriniert und Sanitäter während der Mund-zu-Mundbeatmung zusammengeschlagen. Diese völlig aus der Luft gegriffenen Anschuldigungen sorgten selbstverständlich für gewaltige Empörung und Boykottaufrufen gegenüber der Sun. Es dauerte unfassbare 23 Jahre, bis sich der Herausgeber MacKenzie nach den Enthüllungen des Independent Panels für die damalige Story entschuldigte.
Pietätlos verhielt sich im Oktober 2011 schließlich der aus der Aufarbeitung von Bradford bekannte und angesehene Sir Oliver Popplewell. Er empfahl den Angehörigen der Opfer von Hillsborough, sich an den Trauernden von Bradford ein Beispiel zu nehmen und sich wie sie in „stiller Würde und großer Tapferkeit“ endlich mit dem Verlust abzufinden und nicht endlos neue Untersuchungen zu fordern.
Aufarbeitung durch Independent-Panel
Die anhaltenden Missstimmigkeiten und schleppenden Verfahren zur Ermittlung der Verantwortlichen führte anlässlich des 20jährigen Gedenkens im Jahre 2009 dazu, eine Untersuchungskommission einzusetzen, die das Desaster nochmals aufrollen sollte. Dazu wurden mit Unterstützung der britischen Regierung unter Premierminister David Cameron erstmals sämtliche verfügbaren Unterlagen einsehbar gemacht. Die Kommission, das Hillsborough Independent Panel unter der Leitung des Bischofs von Liverpool, veröffentlichte am 12.09.2012 als Ergebnis ihrer Untersuchungstätigkeit den umfassenden Report of the Hillsborough Independent Panel. Gleichzeitig ging die Website http://hillsborough.independent.gov.uk/ online, auf der rund 450.000 Seiten an Unterlagen samt diverser Reports für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Für alle näher Interessierten ist diese Website eine unerschöpfliche Fundgrube.
Inhaltlich bestätigte der Bericht im Wesentlichen die Aussagen von Taylor, wonach „ lack of police control“ die primäre Ursache war. Er ergab aber zusätzlich, dass bei besserer Notfallplanung und –koordination möglicherweise bis zu 41 Opfer hätten gerettet werden können. Weiters wurde enthüllt, dass die Polizei 164 Zeugenaussagen manipuliert hatte, davon 116, um sich in ein besseres Licht zu rücken.
Der Report veranlasste Premier Cameron zu einer vielbeachteten Erklärung, in der er sich im Namen der gesamten Regierung bei den Familien der Opfer für das entstandene Leid entschuldigte. Trotz alledem sind bis heute viele Fragen nach der konkreten Verantwortung ungeklärt und es gab bislang noch keinerlei Schuldsprüche. Für die Angehörigen bleibt Hillsborough eine offene Wunde.
Folgen für den Fußball
Dass Hillsborough eine Zäsur darstellte, war sofort klar. Mit den üblichen Heilmethoden, z.B. einer neuerlichen Überarbeitung des Green Guides, so wie nach Bradford, konnte es diesmal nicht getan sein. Wie die letztlich wirkungslos gebliebenen Reports über die davorliegenden Stadionkatastrophen gezeigt haben, ist Papier leider geduldig. Taylor zitierte zustimmend Popplewell, der lakonisch festgestellt hatte, dass alle von ihm untersuchten Defizite und alle seine Lösungsvorschläge bereits in den Vorgängerberichten der letzten 60 Jahre detailliert ausgearbeitet worden waren.
Zwar ging aus den Empfehlungen des Reports über die Ibrox-Katastrophe der erste Green Guide und 1975 der Safety of Sports Ground Act hervor. Und natürlich bewirkten sie partielle Verbesserungen der Stadionsicherheit, aber es fehlte der politische Wille zum großen Wurf.
Den lieferte nun Hillsborough, diese „brutale Demonstration eines Systemversagens“ (The Economist), und der Taylor-Report zeigt an, wohin die Reise gehen soll. Von den zahlreichen Empfehlungen, die er ausarbeitete, war er selbst von der Umwandlung von Steh- in Sitzplatzstadien am meisten überzeugt. Sie galt ihm nicht als Allheilmittel, aber als die mit Abstand wirksamste Einzelmaßnahme. Sie setzte sich auch durch und führte tatsächlich zur Verbannung der traditionsreichen terraces in England. All-seater-Stadien wurden zunächst hier eingeführt, dann übernahmen sie auch andere Länder und die UEFA/FIFA für die Austragung internationaler Spiele.
Die Vereine allerdings hatten die Kosten für den Stadionumbau (bzw. –neubau) zu stemmen. Gleichzeitig fasst die Kubatur von Sitzplatzstadien erheblich weniger Plätze als gleich große Stehplatzstadien, wodurch weniger Tickets verkauft werden können. Beides zusammen erzwang eine saftige Anhebung der Preise, die die Leistbarkeit der Tickets für sozial schwächere Schichten erschwerte bzw. unmöglich machte. Dadurch wiederum ging ein traditionsreicher Teil der Fankultur verloren, weil es häufig gerade diese Schichten waren, die die treuesten Anhänger ihrer Klubs stellten und für die berühmte Stimmung in den Stadien sorgten.
Zunächst sicherlich unbeabsichtigt wurde durch die Umsetzung der Empfehlungen von Taylor der Kommerzialisierung des Fußballs Vorschub geleistet. Bis heute gibt es daher Glaubenskämpfe zwischen denen, die Sicherheitsanliegen nur als Vorwand für wirtschaftliche Interessen sehen, und den anderen, denen es tatsächlich primär um Sicherheit geht.
Wer sich für diese unterschiedlichen Sichtweisen näher interessiert, dem sei übrigens das sehr lesenswerte Kapitel über Hillsborough in Nick Hornbys Fever Pitch empfohlen.
Andreas Schuberth, abseits.at
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