Ums Eck beim Bahnhof Queens Street, dann einfach geradeaus und schon steht man direkt davor. Sollte man sich in Schottlands größter Stadt doch verlaufen, kann man sich fast schon darauf verlassen, dass man von Einheimischen Hilfe erfährt. Die Schotten sind ein freundliches Volk. Bei meiner Sightseeing-Tour durch Glasgow wollten mir fünf von ihnen ungefragt den Weg erklären, für mich – als Wienerin – kein alltägliches Erlebnis.
Entrüstet sind die friedlichen Inselbewohner nur, wenn man sie mit ihren südlichen Nachbarn gleichsetzt: Schotten sind keine Engländer. Gerade jetzt prüft das Ergebnis der BREXIT-Abstimmung wieder einmal wie fest das Band des Vereinigten Königreiches wirklich ist. Auch in Glasgow sind dieser Tage noch einige Wohnungen blauweiß beflaggt und machen deutlich wie ihre Bewohner gevotet haben: YES! – für einen Verbleib in der Europäischen Union. Zwischen City Chambers, seit 1888 der Sitz der Stadträte, und dem Pub-Restaurant-Café The Counting House liegt der St. George Square: Vom 10. bis 16. Juli 2016 spielten hier in der Glasgower City Obdachlose aus aller Welt mit dem gleichen Enthusiasmus wie ihre hochbezahlten Kollegen wenige Tage zuvor in Frankreich Fußball. Die Teilnehmer des Homeless World Cups (HWC) kickten jedoch nicht um Siegesprämien oder Ruhm, sondern um sich endlich wieder wie wertvolle Menschen zu fühlen.
Good Save
Mit der Selbstzufriedenheit ist es so eine Sache. Man merkt erst, wenn sie fehlt, was es eigentlich bedeutet hat, sie gehabt zu haben. Sie ist das Fundament auf der man ein glückliches Leben erst aufbauen kann. Wer auf der Straße lebt, der ist ganz unten. Mit jeder Minute länger auf der Parkbank oder unter der Brücke wird es schwieriger wieder hochzukommen. Über 100 Millionen Menschen weltweit haben kein Dach über dem Kopf. Der HWC setzt auf Gemeinschaftsgefühl, Ortswechsel, Verantwortungsübernahme und Feedback durch Mitspieler, Betreuer und das Publikum. Mit diesen Erfahrungen merkt der in Not Geratene: Hoppla, ich bin noch jemand. Ein Jemand, der etwas bewirken kann und nicht nur zur Bahnhofsszenerie gehört oder als bewohnter Schlafsack in der Kälte dahinvegetiert. Zwei Drittel aller Teilnehmer schaffen es nach diesem Sportevent ihr Leben signifikant zu verbessern. So mancher schöpft die Kraft sich an den eigenen Haaren aus dem Schlammassel herauszuziehen und in das alte Leben zurückzufinden. Wie der schottische Platzsprecher bei spektakulären Torwartparaden sagt: „Good save!“
Das, im Gegensatz zur Hauptstadt Edinburgh, proletarischere Glasgow wartet für die Dauer des HWC mit einem seiner schöneren Plätze als Kulisse auf. Mitten im schottischen Hochsommer – wolkenverhangen aber meist trocken – entsteht ein magischer kleiner Energiehort, der viele Schaulustige zumindest für ein paar Minuten in seinen Bann zieht. Dreizehn Jahre zuvor wurde das Turnier am Grazer Hauptplatz aus der Taufe gehoben und reist seither um die Welt. Geboten wird zwei Mal sieben Minuten Streetsoccer auf zweiundzwanzig Mal sechszehn Metern mit je vier Spielern pro Mannschaft. Seit 2004 betreut Ex-Sturm-Spieler Gilbert Prilasnig die österreichische Auswahl. Er durfte miterleben welche Auswirkungen die Erfahrungen beim HWC auf seine Schützlinge bereits gehabt haben: Auf der anderen Seite des Globus, in Melbourne, im Jahre 2008, tankte der damalige österreichischer Tormann so viel Selbstvertrauen, dass er nach der Rückkehr sein Leben umkrempelte: Neue Arbeit, neuer Freundeskreis, endlich wieder ein Wohnsitz und weg von der Straße, erzählte Prilasnig 2015 dem Standard.
Prilasnig, der abgesehen von einer stärkeren Graumellierung, noch genauso aussieht, wie damals als ich ihn im weißgrau-gestreiften Trikot neben Mählich und Vastic in der CL mitmischen gesehen habe, steht Dienstag, dem 11. Juli, mit seinen Spielern und Co-Trainer Klaus Fuchs unweit des ersten Courts und meint auf meine schüchterne Anfrage, ob mir jemand ein Interview geben möchte, ich solle seine Jungs doch direkt fragen. Blöd, dass ich die Mannschaft die ihren Auftritt zum damaligen Zeitpunkt erst in gut vier Stunden hat, nach dem Match leider verpasse.
Auf drei Spielfelder wird beim heurigen HWC ambitionierter Streetsoccer zum Besten gegeben: Männer, Frauen, gemischte Teams. Trotz stabilem Wetter sind die Ränge an diesem Dienstag zunächst nur spärlich besetzt. Es wird schließlich erst die Vorrunde gespielt. Stimmung kommt erst nachmittags beim Auftritt des Gastgebers auf: Als die walisischen Damen gegen ihre schottischen Konkurrentinnen kicken, verwandelt sich die Zuschauermenge des St. George Square in eine brodelnde Masse. Die blauweißen Lokalmatadore panieren ihre Nachbarn mit 1:7, da hilft es auch nicht, dass der Schiedsrichter kurz zum Timeout pfeift um der Torfrau aus Wales unaufgefordert das Schuhband zu binden. Die Wettkampfatmosphäre überträgt sich auf die neutralen Zuschauer, wie die jungen Mädchen neben mir, die mit Fußball sonst wahrscheinlich nicht viel anfangen können. An diesem Tag ist der HWC-Platz einer der wenigen Fußballplätze weltweit, wo hart aber fair gegeneinander gekämpft wird. Vereint verabschiedet man sich nach Abpfiff mit der Welle vom Hartplatz.
Cristianos Zähne
Schon nach wenigen Minuten fühle ich mich wie auf einem normalen Turnier. Die Spielerinnen erinnern mich zwar hie und da an grimmige Figuren aus schlechten Telenovelas wie „Blablabla – Der Frauenknast“ auf Du-weißt-schon-welchem-deutschen-Privatsender. Auch fehlen in so manchem Fußballergrinsen die Vorderzähne oder sind die Tätowierungen etwas verwackelter gestochen als bei einem Jack Wilshere. Abgesehen von diesen Äußerlichkeiten sieht man aber eifrigen Spielern beim Kicken zu, die ihren professionellen Kollegen in Punkto Einsatz um keinen Deut nachstehen.
Bis 17:20 muss ich auf den Auftritt der Österreicher warten: Gegen Wales geht man zwar schnell in Führung, muss jedoch noch in der ersten Halbzeit den Ausgleich hinnehmen. Kurz vor Ende gelingt den Briten dann der 3:2-Siegestreffer. Asylsuchende, Ex-Suchtgiftabhängige, Obdachlose – das sind die Spieler – nicht nur der österreichischen Mannschaft – sondern des gesamten Turniers. Sie müssen über sechzehn Jahre alt sein und dürfen nicht schon einmal am HWC teilgenommen haben. Viele sind vollkommen mittellos. Klar, dass diese Leute kein makelloses Cristiano-Ronaldo-Lächeln vorweisen können. Für Österreichs Rohullah Mohammadi war der dienstägige Auftritt trotz Niederlage ein voller Erfolg, der Flüchtling traf anlässlich des HWC erstmals seit zehn Jahren wieder auf seinen in London lebenden Bruder.
Obwohl man den österreichischen Spielern fehlendes Bemühen nicht vorwerfen konnte, war der weiterer Turnierverlauf nicht von Erfolg gekrönt. Prilasnig gibt zu, dass Prognosen beim HWC schwer zu treffen sind: Letztendlich muss jede Mannschaft auf sich schauen und es ist bis zu Turnierbeginn offen, wie die vierundsiebzig Teilnehmerländer tatsächlich aufgestellt sind. Letztendlich erreichte Österreich in Glasgow Platz 40. Im schottischen Regen konnten sich sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen die Mexikaner zu den strahlenden Champions krönen. Besser gesagt: Die Mexikaner siegten in den jeweiligen Endspielen. Gewonnen haben hoffentlich auch andere Spieler.
Wer diesen Sportsgeist erfahren will, sollte zum HWC kommen. Zwar gibt es für die Ästhetiker unter uns nicht immer gepflegten Fußball zu bewundern, der gebotene Kampfgeist und die damit einhergehende Begeisterung machen dieses Ereignis aber zu etwas ganz Besonderem. Beeindruckend wie selbst die Waliserinnen, obwohl sie unter die Räder kamen, nicht aufsteckten, sondern noch den Ehrentreffer erzielten. Hoffentlich schaffen es nicht nur die Akteure, sondern auch wir – die privilegierten Zuschauer – uns von dieser Willenskraft eine Scheibe abzuschneiden.
http://www.homelessworldcup.at
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Marie Samstag, abseits.at
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Marie Samstag
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