Kommentar: Handspiel – Es bleibt mir nichts erspart!
Gesellschaft & Ethik 7.November.2015 Marie Samstag 0
Eigentlich will ich diesen Artikel nicht schreiben. Ich möchte nicht die Quoten-Frau eines Fußballportales sein, die zu jedem vermeintlich genderungerechten Kram abseits des abseits.at-Kernstoffes ihren Senf dazuspritzen muss. Das entspricht nicht meinen Vorstellungen von Emanzipation. Hélène Hendriks sieht es wohl ähnlich. „Ich habe überhaupt kein Problem damit, wenn mir jemand aus religiösen Gründen nicht die Hand gibt.“, erklärte die niederländische Journalistin nachdem ihr Nacer Barazite, Ex-Austrianer, mittlerweile beim FC Utrecht engagiert, den Handschlag verweigert hatte. Barazite und Yassin Ayoub sind strenggläubige (?) Muslime und möchten der Unzucht nicht nahekommen indem sie eine andere Frau als die ihnen angetraute berühren. Umgekehrt dürfen auch Frauen selbstverständlich nicht nach ihrem rechten Samtpfötchen grapschen. Anfassen darf sich nur wer verheiratet ist und mag es auch nur für eine Nacht sein. Welche Sure im Koran dieses Berührungsverbot statuiert, ist schwer zu sagen. Frag vier Imame und du bekommst vier Antworten! Übrigens: Auch orthodoxe Juden verweigern dem anderen Geschlecht diese in Europa gängige Berührungssitte, wie die belgische Gesundheitsministerin Laurette Onkelinx vor drei Jahren feststellen musste.
Nicht jeder betrachtet Barazites Wunsch als so legitim wie Hendriks es tut. Von „Eklat“ und „Aufregung“ ist im europäischen Blätterwald seit vorgestern die Rede und es wird fleißig diskutiert. Die liberale Fraktion, die diese Aktion unter dem Motto „Wir-sind-ein-freies-Europa“ verbucht und die Toleranzfahne schwingt, ist dabei in der Minderheit. Warum auch tolerant sein? Tolerant sein heißt ja schließlich „dulden“. Aber wir, die in Europa lebenden – zu denen auch Barazite gehört -, sind glücklicherweise nicht von Toleranz abhängig, denn wir leben in einem Rechtsstaat mit Gewaltentrennung, unparteiischen Richtern und einem vom Volk gewählten Gesetzgeber, der uns Freiräume abseits staatlicher Regulierung gewährt. Zu diesen Freiheiten gehört das Grundrecht auf freie Religionsausübung, welches sich zum Beispiel darin zeigt, dass Omer Damari 2014 Jom Kippur mit seiner Familie feiern durfte anstatt für die Veilchen auf dem Platz zu stehen. Was es im Gegenzug nicht gibt, ist ein Menschenrecht auf Akzeptanz der religiösen Ausübung im öffentlichen Raum.
Die Zeit zeigt
Meine Herrschaften, die Tatsache, dass ich hier sitze und schreibe ist kein Zufall. Sie ist das vorläufige Produkt eines Prozesses, der vor hunderten Jahren seinen Lauf nahm und noch lange dauern wird. Es begann damit, dass Leonardo Da Vinci einst heimlich bei Kerzenlicht Körper aufschlitzte, Simone de Beauvoir viel später das „Manifeste des 343“ veröffentlichen ließ, Galileo Galilei verbissen und nachdrücklich „…und sie dreht sich doch“ vor sich hinmurmelte und Gabriele Possanner von Ehrenthal 1897 an der Uni Wien promovierte. Unser technischer, wirtschaftlicher und geistiger Fortschritt wurde durch jene freie Forschung, die sich erst nach dem Rückzug der Religion aus dem öffentlichen Leben etablieren konnte, möglich gemacht. Als Nebenfolge verhindert Gleichberechtigung dabei eine riesige Potenzialverschwendung, die vonstattengeht, wenn eine Gesellschaft ständig damit beschäftigt ist, ihre Mitglieder in vorgestanzte Positionen zu pressen, die anschließend zur natürlichen Anordnung vergöttlicht werden. Dieses selbstverständliche Leben wird jetzt schrittweise zurückgedrängt, wenn man obskure Rechtfertigungen sucht, die eine öffentliche Ausübung der Religion mit vermeintlicher Toleranz wieder möglich machen sollen. Jenes Grundrecht auf freie Religionsausübung steht dabei gar nicht zur Debatte. Niemals! Es wird nur von manchen zu einem „Grundrecht auf Rücksichtnahme“ oder dem „Gruppenrecht auf gemeinschaftliche Beleidigung, weil andere privat nicht so leben wollen wie sie privat leben“ umgestaltet. An einem glasklaren Beispiel verdeutlicht: Erst vor vier Wochen spazierte ich durch den Salzburger Mirabellgarten. Im Herbst ist dort nicht mehr so viel los. Leider. Sonst hätte ich eines meiner persönlichen No-Gos vielleicht übersehen: Zwei schwarzgewandete, vollverschleierte – ich vermute mal: Damen, ich konnte es ja nicht erkennen – schlenderten mit auszumachendem Abstand hinter zwei männlichen Touristen her, die die Schönheiten der Mozartstadt fotografisch festhielten. Meine gute Laune wurde merklich eingetrübt. Eigentlich war ich nach Salzburg gekommen, um die Ausstellung einer Künstlerin, die vor 72 Jahren wegen ihrer Volks- und Religionszugehörigkeit ermordet wurde, zu sehen. Dann so etwas. Wo liegt das Problem? Sich im Ganzkörperzelt in der Öffentlichkeit zu bewegen ist keine Ausübung der Religionsfreiheit. Andere Staaten haben das längst begriffen: In Frankreich, Belgien und den Niederlanden ist das Tragen eines Vollgesichtsschleiers Unrecht. Hierbei ist nicht die moralische Frage zu behandeln, ob die Trägerin freiwillig so herumläuft oder nicht. Das interessiert überhaupt nicht. Das Tragen einer burka oder eines niquab mit tschador verstößt gegen ein Gesetz, das die Grundwerte des Staates wahren soll: Laizität, Gleichheit, Sicherheit usw. Wenn Barazite und sein Kollege Frauen nicht die Hand reichen wollen, verstoßen sie gegen kein Gesetz. Niemand wird zum Handgeben und somit zu Höflichkeiten nach westlichen Anstandskriterien gezwungen. Eine derartige Regelung würde ja auch in die (gewährleistete) freie Lebensführung eingreifen. Jeder darf im Rahmen der Gesetze leben wie er möchte, muss aber damit rechnen, dass ihn gesellschaftlicher Unmut trifft, wenn er Sitte und Moral verletzt. Dazu braucht es keine Toleranz, niemand ist abhängig „geduldet zu werden“, nein, es gilt das vielzitierte gleiche Recht für alle.
Nacer ist bestimmt ein netter Kerl, wie Hendriks sagt. Das glaube ich übrigens wirklich. Nicht jeder, der sich an das Berührungsverbot hält, tut dies weil er Frauen geringschätzt. Für so manchen Gläubigen stellt das physische Abstandhalten sogar den Inbegriff des Respektes dar. Doch immer, wenn sich Religionsausübung im öffentlichen Raum bemerkbar macht, ist diese nicht mehr „nur“ privat und somit freientscheidungsfähig. Jeder, der demzufolge in der Öffentlichkeit sein Bekenntnis in spürbarer Weise lebt, muss zu Ende denken, auf welchen Weg er sich begibt: Der FC Utrecht wird von einer Biermarke gesponsert, der Physiotherapeut ist eine Frau. Barazite ist im demokratischen Holland geboren, weil seine Eltern ein besseres Leben in Europa gesucht haben. Diese erhörten Standards wären aber ohne eine Befreiung von vorgegeben religiösen – in diesem Fall: hauptsächlich christlichen – Lebenskonzepten nicht möglich gewesen. Während seiner Zeit in Wien zeigte sich der heute 25-jährige vom Stephansdom begeistert. „Letztens war gerade eine Messe. Es ist für mich sehr interessant, was Christen so machen.“, erzählte er dem Kurier 2011. „Man muss sich sein Bild machen und nicht ein Bild von Quellen übernehmen, ohne diese zu hinterfragen“, riet er anschließend den Lesern, als er nach Missverständnissen zwischen den Religionen gefragt wurde.
Wozu Toleranz?
Meistens geht es, wie in diesem Fall, nur um Kleinigkeiten. Lächerliche Lappalien. Das Herumreiten darauf nervt einfach, vor allem wenn „Berge und Berginnen, Strom und Strominnen“- I-Tüpferl-Kampfmaschinen – pardon, Kampfmaschininnen – jedes Wort besserwisserisch auf die Goldwaage legen. Es zeigt sich jedoch zusehends, dass wir solche Diskussionen brauchen, wenn wir endlich nicht mehr an denselben Probleme herumkiefeln wollen: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit oder genügend Kinderbetreuungsplätze. Der Stachel im Hintern der Nation, das virtuelle #Aufschrei!-Tag sind der notwendige Antrieb damit endlich noch mehr weitergeht. Viel ist ja schon weitergegangen. Das Verhältnis der Geschlechter wird immer entspannter und das Individuum steht im Mittelpunkt. Wie lange der Weg ist, der schon hinter uns liegt, das erfährt jeder von uns tagtäglich: Wenn sich Nacer Barazite nach einer Trainingseinheit ins Auto setzt und an regnerischen Tagen die Scheibenwischer einschaltet oder wenn er im Gebetsraum mit der Mekka-App die richtige Ausrichtung für die Andacht anpeilt, erlebt er es am eigenen Leibe: Mary Anderson und Hedy Lamarr lassen grüßen. Glaubt jemand wirklich, dass diese Erfindungen in einer Welt möglich gewesen wären, in der Männer und Frauen so strikt nach Geschlechtern getrennt sind, dass schon eine Berührung der Hand verboten ist?
Wir glauben, wir sind tolerant. Wir sind es bestimmt nicht, wenn wir ernsthaft wieder über die Werte diskutieren, die uns unser heutiges Leben ermöglichen: Die Meinungsfreiheit darf nicht hinterfragt werden, wenn es darum geht Religionen künstlerisch zu reflektieren. Die „blinde“ Justiz darf nicht die Selbstverantwortlichkeit von Täter komplett ausblenden, nur weil diese aus anderen Kulturkreisen stammen. Diese Liste lässt sich noch fortsetzen. Wie Europa mit dem derzeitigen multikulturellen Wandel zurechtkommt ist unklar. Die Antworten, die wir von linker und rechter Seite serviert bekommen sind unbefriedigend, ideologiebehaftet und lösen das Problem nullkommajosef. Im konkreten Fall ist der Wunsch jemanden nicht berühren zu wollen wirklich legitim. Im Übrigen geht es uns alle auch gar nichts an, wer wen wie angreift – oder eben auch nicht. Seinen Rat vom Dezember 2011 kann ich Barazite aber nur zurückgeben: Er sollte hinterfragen, woher das – für ihn augenscheinlich besonders wichtige – Berührungsverbot kommt und wohin es führen würde bzw. schon geführt hat?
Ich wünschte, ich hätte diesen Artikel nie schreiben müssen. Menschenverachtenden Ideologien – gleich aus welchem Eck – in die Karten zu spielen, ist meine Sache nicht. Wehe, einer versteht das nicht! Dass ich diesen Artikel aber jedenfalls schreiben darf, dieses Recht verdanke ich – unter vielen – Moses Mendelssohn, Immanuel Kant, Rosa Parks, meinem Elternhaus, Abraham Lincoln, Alice Schwarzer, Voltaire und meinem Redakteur.
Marie Samstag, www.abseits.at
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