Früher einmal – als ich jung und naiv war – konnte ich nicht verstehen, wieso Menschen, die alles zu haben scheinen, unglücklich sind. „Wenn der Erfolg schneller wächst als die Seele mitwachsen kann, dann hat man ein Problem.„, hat Österreichs einziger Weltpopstar Falco gesagt. Kapiert habe ich diesen Satz damals nicht. Irgendwann konnte ich diese Aussage jedoch mit Nestroys Posse „Einen Jux will er sich machen“ verknüpfen: Da passiert dem Protagonisten etwas Wunderbares, etwas, womit er nie gerechnet hätte – Associé statt Commis – und anstatt zufrieden zu sein, glaubt er ob des unverhofften Glücks russisches Roulette spielen zu müssen. Sehr österreichisch oder typisch menschlich?
Es scheint immer noch genügend Menschen zu geben, die glauben mit Geld und Erfolg werde man tatsächlich sorgenlos. Als Arsenal-Verteidiger Per Mertesacker am Samstag über gesundheitliche und mentale Probleme von Spitzensportlern gesprochen hat, schwappte ihm eine Welle an Hohn entgegen: Jammerlappen, Memme, Schwächling. Grundtenor: Sehr viele Leute haben ähnlichen Druck und gehen für weitaus weniger Geld arbeiten. Die wahren Helden des Alltags sind die Bauarbeiter, Krankenschwestern und Kindergärtner von nebenan. Wer sein Hobby zum Beruf gemacht habe und überdies einen Haufen Marie kassiere, solle sich gefälligst nicht so anstellen. Um bei Nestroy zu bleiben: „Wenn a Wolf im Wald an Wolf sieht, denkt er: „Mein Gott, is halt a Wolf.“ Wenn a Mensch an andren Menschen im Wald sieht, denkt er: „Is a Rauber“ (Sekundärzitat von Otto Tausig – Gott hab ihn selig!). Für Lateiner: Homo homini lupus.
Merte berichtete dem Spiegel von Brechreiz und Durchfall, der Erleichterung, die das Ausscheiden bei der Heim-WM 2006 mit sich brachte, seinem Knorpelschaden und Psychosomatik. An keiner Stelle forderte er Mitleid, ersuchte um Geldspenden auf sein Postsparkonto oder behauptete das Monopol auf derartige Probleme zu haben. Wenn man sein Interview als Mitleidslamentation sehen will, sieht man es so.
Makellos ist alles nur aus der Vogelperspektive: Fußballer, die im Jet um die Welt düsen, teure Fetzen am Leib und schöne Frauen im Arm haben. Fußballer, die so viel verdienen, dass sie später nie wieder arbeiten gehen müssen. Nicht jeden macht das glücklich – das hat man bei Sebastian Deisler und Robert Enke gesehen. Bei genauerer Betrachtung können gewisse Aspekte auch eine andere Bedeutung bekommen: Viele Kicker entstammen dem Arbeitermilieu. Wer mit wenig Wohlstand aufwächst, der ist von dicken Schecks naturgemäß noch hingerissener, als einer dem eigentlich von Geburt materiell an nichts gefehlt hat, und fängt an auf den Putz zu hauen. Wenn der Besuch des Kinos oder Schwimmbads aufgrund mangelnder Anonymität nicht mehr möglich ist, dann „muss“ man in den sauren Apfel beißen und sich sein persönliches Paradies in den eigenen vier Wänden zimmern lassen. Viele Jungstars ziehen beim Shoppen, Urlauben und Geldverprassen auch einfach nur mit, bewegen sich in einer Blase und merken dabei gar nicht, wie sehr sie sich verändern. Wir sind eben alle – auch (!) – Produkte unserer Umwelt. Der Großteil der heutigen Profispieler hat seit seiner Kindheit für das Ziel diesen Sport einmal beruflich zu betreiben, unheimlich viel geschuftet, sich gegen Widrigkeiten durchgesetzt, auf vieles verzichtet und Zeit geopfert. Kicken macht definitiv Spaß, aber schon in frühester Jugend dem Druck ausgesetzt zu werden, es einmal zu schaffen, ist nicht für alle leistungsfördernd. Im (männlichen) Profisport sind psychische Probleme aber bislang kaum Thema. Im Hinblick auf dramatische „Einzel“fälle, ist es also uneingeschränkt begrüßenswert, wenn ein aktiver Spieler von seinen Problemen mit Nervosität und Anspannung – die man natürlich nicht beseitigen, aber zumindest im Rahmen halten kann – berichtet.
Es macht die Rolle der Alltagshelden ohne die nichts funktionieren würde, nicht kleiner, wenn ein Fußballer Einblick in seinen Seelenzustand gibt. Wenn Merte erzählt, dass es bei ihm irgendwann nicht mehr um Spaß ging, sondern abgeliefert werden musste, spielt er die Verantwortung und Sorgen der Busfahrer, Notfallmediziner, Sozialarbeiter dabei nicht herunter.
Mertesacker hat gegen seinen Körper Krieg geführt, wie es alle Spitzensportler machen. Der Mensch ist nicht dafür gebaut mit 150 km/h auf zwei Brettern einen Berg hinunterzusausen, sich regelmäßig verprügeln zu lassen oder ein Vielfaches seines Gewichtes zu stemmen. Und was machen wir? Die Normalos? Die Alltagshelden? Wir jubeln solchen Leuten begeistert zu, drängen sie zu neuen Höchstleistungen. Wir stacheln Ikarus an der Sonne immer näher zu kommen und wenn er mit seinen geschmolzenen Flügeln ins Meer stürzt, dann sagen wir: „Pech gehabt. Du bist für dich selbst verantwortlich.“ Wir – die Konsumenten – haben eine Verantwortung für einander und können uns nicht mit der „freien“ Entscheidung eines jeden abputzen. Das System erzieht viel zu wenige Menschen zur Selbsterziehung. Selbstverständlich sind viele für ihr Glück oder Unglück selbst ursächlich, jedes Menschenleben ist aber einzigartig und funktioniert auch so. Per Ferndiagnose Menschen über einen Kamm zu scheren ist, ist genauso fehl am Platz, wie die Schuld für das eigene Elend immer nur bei den anderen zu suchen.
Wenn ein Fußballer keine Statements à la „Das Leben als Profi ist großartig.“ loslässt und sich von seiner menschlichen Seite zeigt, ist es nicht zielführend dies als „Jammerei eines Millionärs“ abzutun. Aussagen wie jene Mertesackers muss man unterstützen und nicht verurteilen. Konsumenten müssen begreifen, was für eine Macht sie haben um das gegenständliche System zu verändern. Die Systemprofiteure reiben sich allerdings zufrieden die Hände, wenn Polizisten, Lehrer oder Altenpfleger aufschreien und über einen Sportler herfallen, der es wagt Umstände seines Berufes zu kritisieren.
Angst ist per se irrational. Warum gibt es Flugangst, Angst vor Neugeborenemvertausch im Krankenhaus oder tödlichen Spinnenbissen (in unseren Breiten)? Phänomene, die äußert selten auftreten und trotzdem manche Leute panisch werden lassen. Genauso unmöglich ist es, jemanden mit dem Hinweis zu trösten, dass es anderen noch schlechter geht. Psychischer Druck und Depressionen sind Probleme, die man nicht wie eine kaputte Schraube einfach beheben kann. Man kann deprimierten Menschen nicht vermitteln, wie gut sie es haben könnten, wenn sie nur „wollen“ würden. Per Mertesacker ist nicht depressiv. Er hat denjenigen eine Stimme gegeben, die es nicht wagen, öffentlich zu sprechen. In diesem Sinne: Well done, Per! Und viel Glück bei dem Versuch Nachwuchskickern auch andere Perspektiven aufzuzeigen.
Marie Samstag, abseits.at
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Marie Samstag
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