Kultur der Verhöhnung – Rivalität und Konkurrenz im Fußball
Gesellschaft & Ethik 4.August.2014 Marie Samstag 0
Literat Friedrich Torberg, der sich vielen als Schöpfer der „Tante Jolesch“ und des „Schüler Gerber“ ins Gedächtnis gebrannt hat, konnte nicht nur überdurchschnittlich gut schreiben, sondern war auch mit Bällen auf Du und Du: Als Wasserballspieler brachte er es zu veritablen Ehren, die eigentliche Leidenschaft des Wieners gehörte jedoch dem runden Leder.
Der 1908 als Sohn jüdischer Eltern Geborene verdingte sich in jungen Jahren einst als Sportreporter und kokettierte auch als bereits arrivierter Schriftsteller mit seiner Liebe zum Kicken. Seine Identität als SC–Hakoah-Fan verarbeitete er in einem Essay mit dem vielsagenden Titel „Warum ich stolz darauf bin“ (1959): Torberg, damals ein Knabe von zehn Jahren, besuchte gegen Ende der Frühjahrsmeisterschaft ein Match, bei dem der SC Hakoah mit einem Sieg über den Brigittenauer AC Vorwärts 06 per Schützenhilfe zum Klassenerhalt verhelfen konnte. Zahlreiche Vorwärts-Fans hatten sich an diesem Nachmittag unter die Hakoah-Anhänger gemischt, um ihre jüdischen Mitbürger zum Sieg (und damit zum Nicht-Abstieg der eigenen Mannschaft) zu treiben. Es wurde geschrien und gegrölt. Ein besonders begeisterter Anfeuerer rang jedoch zunächst um Worte. Ihm war nicht klar, wie er die (leider übliche) Beschimpfung „Saujud!“ anlässlich dieser kuriosen Konstellation in ein positives Attribut umzuwandeln habe: Nach kurzem Nachdenken skandierte er folgendes Verbalkonstrukt aufs Feld: „Hoppauf. Herr Jud!“ – ein „bonmotscherl“, das angesichts der zeitgeschichtlichen Entwicklung beinahe makaber erscheint. Es zeigt aber auch, dass Spott, Hohn und Verbalgewalt schon damals, ja, sogar seit ewig und drei Tagen, den Fußball begleiten. Sie gehören zur Sporthistorie, wie Torhüterpatzer zum englischen Nationalteam. Wie mit dieser Problematik umzugehen ist, habe ich bereits zu erörtern versucht. Eine befriedigende Lösung besteht aber augenscheinlich nicht und das liegt auch an den Wurzeln des epochalen „Gegner-Bashings“.
Eine kleine Geschichte der Zeit
Historisch betrachtet existiert die erbitterte Gegenwehr bis hin zur Verspottung des Verlierers seitdem sich die alten Griechen rund 800 Jahre vor Christi Geburt zum Diskuswerfen und Fohlenrennen im heiligen Hain bei Olympia getroffen haben. Der „Urahn“ des Sportes ist der Krieg selbst: In Friedenszeiten diente der Wettkampf der Unterhaltung und dem Kräftemessen. Die ersten Bewerbe wurden exzessiv ausgeübt, Regeln kristallisierten sich erst im Schneckentempo heraus. Das Wetteifern um Höchstleistungen kam in der Antike meist einem Blutbad gleich: Die alten Römern vergnügten sich bei Gladiatorenschlachten im Kolosseum, im Mittelalter duellierten sich Ritter zum Gaudium des Publikums bis zum bitteren Ende. Eine Niederlage bedeutete in diesen Zeiten oft den Tod, dem Sieger hingegen winkte der Heldenstatus. Die Geisteshaltung, den Gegner nur mit spielerischen Mitteln zu schlagen, existierte ebenso wenig. Beispielsweise taten die ersten Olympioniken alles, was nicht unmittelbar untersagt war.
Im Spätmittelalter begann in der europäischen Gesellschaft der Zivilisierungsprozess, die Staatsgewalt ging fast im gesamten Abendland nur noch von einem Souverän aus. Die Staaten befriedeten sich zunächst „im Inneren“ und stellten (viel) später auch ihre Eroberungspolitik im Ausland ein. Langsam verlor sich auch das brutale Moment des Sportes: Manifest wollte man den Gegner nicht mehr töten, sondern stattdessen (nur mehr) mit besserer Leistung übertrumpfen. Wettkämpfe wurden durch Vorschriften reguliert, doch die „räuberische Vorliebe [des Menschen, Anmerkung] für den Wettbewerb“ (Zitat: Thorstein Veblen) verschwand nicht.
Die List wird im Sport bis heute als achtenswert angesehen. Sie geht auf Homers findigen Helden Odysseus zurück und war/ist besonders im Fußball anerkannt: Kicker sollen „clever“ spielen, sowie gelegentlich „taktische Fouls“ und „Notbremsen“ begehen. Nach außen hin bemüht sich der Weltfußballverband eine „Fair-Play-Fassade“ mittels einer gut geölten PR-Maschine aufrecht zu erhalten. Trotzdem begleiten die dunklen Wolken des Dopings, der Wettmafia und der Korruption – kurz gesagt: des Betruges – jedes Bewerbsspiel. Damit ist der Fußball aber nicht alleine: Heutzutage wird beinahe jedem organisierten Profiwettkampf, vom Alpinklettern bis zum Zehnkampf, misstraut. Die Sonderstellung des Kickens wird aber durch dessen Popularität begründet. Heute gilt: „Soccer is money“ und muss politisch korrekt bleiben. Bleiben?! „Der edle Mensch rechtfertigt den Sport mit dem Hinweis, Sport wäre wichtiges Erziehungsmittel, nicht nur für den Ausübenden, sondern auch für den Zuschauer. Es soll nicht nur der Körper gestählt werden, sondern angeblich auch ein männlicher, kameradschaftlicher Geist hervorgebracht werden.“, erklärt der vagabundierende Soziologe Roland Girtler. Die Wirtschaft hat sich diese Annahme zu Nutze gemacht und verkauft dabei ein „Märchen“ vom ewigbestehenden Sportsgeist.
Dabei ist die respektvolle Sportausübung Ausfluss menschlicher Kultivierungsarbeit, die nicht selbstverständlich in der Natur des Wettkampfes liegt. „Fußball in der guten Form erlaubt keinen Egoismus. […] Fußball ist die Schule des Friedens. Aus dem Fußball kann man drei Lektionen für die Friedenssuche lernen. Die Notwendigkeit des Trainings, das Fair Play und den Respekt unter den Gegnern. Auch im realen Leben braucht es zur Verbesserung eines Menschen viel Training und Einsatz, um in den Tugenden zu wachsen. Und niemand gewinnt alleine – weder am Fußballplatz noch im Leben! Wenn wir in der Gesellschaft Einzelgänger sind, dann leidet die gesamte Gesellschaft darunter.“, schildert Ordensschwester Beatrix Mayrhofer die vorbildhafte Seite des Fußballs. Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt.
Alte Werte – Neue Sitten
Jeglicher Wettkampf ist traditionsbedingt eine unsportliche Angelegenheit im neumodischen Sinn. Der Fußballer (und jeder Kampfsportler) gilt, nach Roland Girtler, zwar einerseits als kameradschaftsdienlicher Teamspieler, von welchem aber andererseits trotzdem „Schläue, Rohheit und Hinterlist“ erwartet wird. Dazu kommt, dass im Wesen jedes Sieges eine gewisse Verachtung für den Unterlegenen liegt. Dieses instinktive Verhalten wird besonders in unserer modernen Gesellschaft nicht goutiert und soll durch (rationalen) Respekt vor dem Kontrahenten verdrängt werden. Der olympische Gedanke hat barbarischen Siegesrechten im Sport den Rang abgelaufen. Allein: So scheint es. Offiziell wird dem Wettkampf weiterhin eine gewisse Emotionalität zugestanden. Der Akteur befindet sich nun im Spannungsfeld dieser Schnittstellen.
Das kulturell-historische Moment der Rivalität zwischen Kontrahenten ist zwar durch Vernunftdogmen „entbrutalisiert“ worden, aber nicht verschwunden. Die Gewalt, die sportliche Konkurrenten früher offen ausgelebt haben, hat sich gewandelt. Sie läuft nun im Tarnanzug auf dem Rasen herum: Es gibt Provokationen, versteckte Fouls und Beschimpfungen, auf den Rängen herrscht vielerorts Narrenfreiheit. Die Zuschauer haben hierbei noch den Nachteil, sich – im Gegensatz zu den Spielern – nicht körperlich verausgaben können. Sie müssen verbal und gestenreich ihre Frustration bewältigen. Auch auf organisatorischer Seite findet sich transformierte Gewalt: Vereine behandeln Spieler und Fans abschätzig, Kicker „erpressen“ ihre Arbeitgeber. Hier toleriert der Gutmensch das brutale Gehabe: So sei eben das Geschäft, meinen viele. Bei sogenanntem unsportlichem Verhalten im Schatten des Spieles wird dann plötzlich Ursachenforschung betrieben: Diese ist – ganz simpel – in unserer, nur zum Schein friedlichen Gesellschaft selbst zu finden.
Mund abputzen!
Geht es um Fußballfans herrscht öffentlich pragmatischer Konsens: Sämtliche Teams und Verbände distanzieren sich strikt von körperlicher Gewalt. Immer wieder beklagen einzelne Involvierte auch Verbalattacken und Schmähgesange von den Tribünen: „Mir wäre lieber, es gäbe von den Rängen nur Support für die eigene Mannschaft – und kein primitives Bashing des Gegners, das sind negative Energien. Wahrscheinlich kann der Ortlechner das nicht ändern. Schade.“, erzählt beispielsweise Austria-Kapitän Manuel Ortlechner.Eine gewisse Aggressivität ist dem Fußball innewohnend, auch die Spieler selbst bedienen sich mitunter am historisch gewachsenen Jargon: So schilderte Ortlechner das Wiener Platzsturm-Derby im Mai 2011 folgendermaßen: „[…] Dann haben die Rapid-Fans auch noch die Fensterscheibe im Bus eingeschlagen. Da sagten wir „Danke für die Extra-Motivation und euch machen wir heute fertig“.“ Der Oberösterreicher benützt eine klassische Angriffsformulierung und offenbart den Blick auf die kriegerischen Wurzeln des Sportes. Für ihn und seine Mannschaft ist aber eines klar: „Fertigmachen“ ist gleichbedeutend mit einem Sieg beim Erzrivalen und meint kein Attentat auf Hofmann und Co. Rein technisch betrachtet bleibt die Diktion allerdings zweideutig.
Anlässlich negativer Zwischenfällen bedienen sich die Medien dieser Doppelgleisigkeit gerne in der Manier einer launischen Diva: Fallen solche Vokabeln auf Fanseite, werden diese Wortspenden zur skandalträchtigen Illustration des Fußballs als proletarisches Schlachtfest missbraucht: „Sieg oder Spielabbruch“ – ein geflügeltes Wort, das buchstäblich genommen kein einziges, korrekt abgepfiffenes Match zur Folge hätte. Die subkulturelle Bedeutung, die natürlich – auch das muss gesagt werden – einen wahren Kern enthält, wird aber beispielsweise in diesem Fall unter den Tisch gekehrt und ist damit für Außenstehende nicht einsehbar. Klischees werden bestätigt, Vorurteile zu Urteilen – der Rest ist Schweigen.
Besagtes Wiener Derby im Mai 2011 führte dazu, dass – besonders viele Nicht-Involvierte – jegliche Rivalität zwischen Grün und Violett in Frage stellten. Fakt ist aber: Konkurrenz ist bei einem Spiel, das nur einen Sieger haben kann, unabdingbar. Fakt ist auch: Es gibt viele Sportler, Vereinsoffizielle sowie stinknormale Fans und Fußballkonsumenten denen mangelnder Respekt für den Gegner zu bescheinigen ist. Das ist schade. Nur: Das Manko der Rücksicht ist keine Erfindung der Neuzeit oder der Wiener Fußballfans. Ihr Wiederhall findet sich auch in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft. Um die kulturell geprägte Verhöhnung in ein anständiges „Verlieren-Können“ umzuwandeln, bedarf es großer Umbauarbeiten auch außerhalb des Stadions.
Ortlechner und seiner „Extra-Motivation“ sollen hier keineswegs „der schwarze Peter“ zugeschoben werden, ein angriffslustiger Sprachgebrauch ist Teil der Fußballwelt als Fortsetzung „barbarischer Heldentaten“ (Girtler). Es gibt aber auch Momente in denen Funktionäre jegliche Zurückhaltung vergessen und (bewusst oder unbewusst) wie wutschäumende Anhänger agieren. Der ehemalige RB-Salzburg-Sportdirektor Dietmar Beiersdorfer begab sich in einem Live-Interview auf Fan-Niveau und sagte nach einer 0:1-Heimniederlage der Bullen gegen die Austria über den aus Oberösterreich stammenden Schiedsrichter: „Er hat gepfiffen wie ein Wiener.“ Auch Beiersdorfer ist mit dieser Vorgehensweise nicht allein.
Emotionalität muss jedem Menschen zugestanden werden. Doch wer einen Fußballverein repräsentiert, spielt nicht nach den Regeln des Sportes sondern nach denen der Wirtschaft. Image ist alles, you know! Und hierfür macht es einen Unterschied, ob der angetrunkene Herr Franz, Lagerarbeiter vom „Siemazwanzga“-Haus, über die kommerziellen Praktiken eines Getränkekonzernes herzieht oder ob sich Rudolf Edlinger, „emeritierter“ Rapid-Präsident, im Rahmen einer Weihnachtsfeier Seitenhiebe in Richtung Westen erlaubt. „ […] während andere gegen Badewasch’l ausgeschieden sind.“, kommentierte der ehemalige Finanzminister hämisch das Scheitern der Salzburger in der CL-Qualifikation gegen F91 Düdelingen. Ein anderes Mal machte sich der mittlerweile 74-jährige in gelockerter Adventsstimmung über die mangelnde Anziehungskraft der Konkurrenten lustig. Wie auch immer man zu diesen Äußerungen stehen will, wer über den Tellerrand sieht, kann es deutlich erkennen: Ein gewisses Maß an Verhöhnung ist dem Triumph immanent und bricht trotz aller Betonungen, wie sehr man das Gegenüber schätzen würde, immer wieder hervor. Auch in einem professionellen Geschäft.
Der Seitenhieb des Siegers
Besonders in Jubelstimmung kokettieren viele Sieger mit dem Gegner. Das „schwere“ Erbe vieler Generation wurde modern aufpoliert: Wo einst der Daumen des Cäsar nach unten zeigte, wird heute verbal nachgetreten. Arsenalspieler Jack Wilshere versuchte sich anlässlich der Parade zum FA-Cup-Sieg als Vorsänger. „What do we think of Tottenham?“, fragte er in die heitere Menge und eröffnete so den „We-hate-Tottenham“-Gesang der Gunner-Fans. Auch Sturm Graz jubelte 2010 mit den eigenen Fans und dem Spottlied „ […] und schon wieder keinen Titel – Rapid Wien“ über den Cupsieg.
Das „Gaucho-Gate“ war aufgrund der weltweiten Anteilnahme der vorläufige Höhepunkt verschmähender Glückseligkeit. Der Freudentanz vor abertausenden Berlinern wurde plötzlich zum Nebenkriegsschauplatz des globalen Fußballzirkus. Jeden DFB-Kicker bat man anschließend um eine Wortspende. Toni Kroos redete viel und das am Thema vorbei: „Dass uns danach vorgeworfen wurde, wir hätten die Argentinier diskriminiert, ist lachhaft. Unter Sportlern gehört es dazu, dass man sich über Siege freut. Damit wird aber nie Häme gegenüber dem Gegner verbunden. Es ist schade, dass sich manche Leute nach so einem tollen Sieg nicht mitfreuen können, sondern das mies machen müssen.“ Schunkelei und Tralala, die Freude über die eigene (!) Leistung, sieht aber anders aus, als dieses veralbernde Herumgehüpfe. Als frischgebackener Weltmeister dürfen die Spieler mit dem Adler auf der Brust natürlich mit Selbstbeweihräucherungen à la „Die Nummer Eins der Welt sind wir“ nicht geizen, die Körperhaltung des unterlegen Finalgegners vorzuspielen, ist jedoch ein anderes Thema und dem regierenden Fußballkönig mehr als unwürdig. Einige deutsche Medien blamierten sich noch zusätzlich, als man spaßhalber bekannt gab, die DFB-Elf habe sich in Zukunft nach Siegen beim Gegner zu entschuldigen. Wie Toni Kroos‘ Aussage verfehlten auch diese Erklärungsversuche das Ziel: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ – diese Wittgenstein’sche Maxime erbittet sich genau in solchen Momenten. Mitleid mit dem Verlierer empfinden zu wollen ist ebenso absurd, wie Spötteleien zum Besten zu geben. Es geht um das eigene (Un)vermögen, der Gegner ist wichtiger Teil des Spieles, aber mehr als ihm Respekt zu erweisen, ist nicht notwendig. Die Golfer und Co. haben es da leichter: In den „sports for gentlemen“ ist man von anderen Teilnehmern unabhängiger als beim Fußball. Beim Schach, Segeln oder Billard (Ausnahme: Rugby) ist der Akteur größtenteils seines eigenen Glückes Schmied und kommt seinem Gegner auch körperlich nicht so nahe, dass unnötige Emotionalitäten entstehen könnten. Zudem ist es in dieser Welt geübte Praxis Contenance zu bewahren, beim Fußball besteht weitestgehend „emotionale Freilandhaltung“.
Bastian Schweinsteiger, ein Mann mit „Diplomatensprache“, wie es „Die Zeit“ einmal formuliert, nannte das Verhalten der Argentinier 2010 „unsportlich“ und agierte so als moderner Musterprofi. Schweinsteiger kann aber auch anders und sang in Weißbierseligkeit ein Hohnlied auf Borussia Dortmund. Brave Fans haben diesen Zwischenfall gefilmt und veröffentlicht. Der Bayernspieler meldete sich per Videobotschaft aus dem Urlaub und entschuldigte sich reumütig insbesondere für die Verwendung der angeblichen Berufsbezeichnung sämtlicher Mütter schwarz-gelber Fans. Doch nicht für dieses Wort sollte sich der „Schweini“ entschuldigen: Er zelebrierte vorsintflutliche Triumphstimmung im München des Jahres 2014. Beim Torjubel am Feld ist der Oberbayer schon eingeschränkter: Laut offiziellem Regelwerk darf dieser weder provozieren noch verhöhnen. Für das Ausleben der Rivalität neben dem Platz gibt es aber kein Buch mit Vorschriften. Die Öffentlichkeit erwartet vielfach politische Korrektheit, die als Prozess aber nicht bei Schweinsteiger oder einem anderen Spieler anfängt, sondern in der Gesellschaft selbst.
Besonders viele Fußballfanatiker zeigten Verständnis gegenüber Schweinsteigers Ausrutscher. Der Soziologe Gunther Gebauer ortet bei vielen Anhängern eine Sehnsucht nach den Anfängen: „Sie [die Ultras, Anmerkung] möchten zu den emotionalen Ursprüngen des Fußballs zurückkehren und den Fußball zu einem grundlegenden Ereignis machen, das nicht nur den spielerischen Wert wie bei einem Event betont, sondern den Ernst. Sie wollen ihn so hart und brutal wie möglich darstellen.“ Geregelte Freizeitmuse versus Kampf auf Leben und Tod – in unserer Gesellschaft ist die Sehnsucht nach emotionale Ausnahmezustände so groß, dass sie sich nicht einfach reglementieren lässt. Dies drückt sich sowohl am Platz als auch auf den Tribünen aus.
Zu oft sind die Grenzen zwischen Spaß und Ernst auch verwischbar: Helmut Schulte, ehemals Sportdirektor der Grün-Weißen, öffnete bei seiner letzten Rapid-Weihnachtsfeier die Witzkiste: Er habe während seiner Zeit in Wien gelernt, dass man nur nach langer schwerer Krankheit Austrianer werde. Auch beim Stadtrivalen gibt es solche Sprüche: Bei der Vorstellung des violetten Neuzuganges Nacer Barazite verglich der vorstellende Vereinsoffizielle den Nachnamen des Angreifers mit den „Grünen Parasiten“, mit denen man sich eh „leichter tue“.
Die Sache mit dem Respekt ist angesichts solcher Zwischenfälle wirklich ein Hund. Wer sich Ärger ersparen möchte, für den gilt dasselbe, wie bei vornehmen Einladungen und dem Drei-Tage-Bart: Im Zweifel: Lieber glattrasieren! Will heißen: Man solle lieber nichts über den Gegner sagen, wenn die Aussage missverständlich gedeutet werden könnte. John Lennon kann davon ein Lied singen. Auch er musste tausende Male erklären, ob er nun finde, die „The Beatles“ seiengrößer, populärer oder „weiß-ich-was“ als Jesus Christus.
Witz, Provokation, spaßiger VerSchmähung, harmloses Necken oder Verspottung: In den meisten Fällen ist es reine Geschmacksache, wie genannte Aussagen zu qualifizieren sind. Festzuhalten ist, dass die Festschreibung von Tugenden, wie Respekt vor dem Gegner, nicht automatisch zur totalen Verinnerlichung derselben führt. Dies wird durch die Tatsache erschwert, dass erbitterte Gegenwehr im Rahmen der Regeln und auch darüber hinaus von jedem Sportler sehr wohl verlangt wird. Sobald der Wettkampf vorbei ist, soll jegliches Konkurrenzverhältnis dann ebenso selbstverständlich wieder abgeschaltet werden.
Kultur des Respektes
Wenn Fußballfunktionäre, Trainer oder Spieler bezüglich einer Verhöhnung des Gegners für schuldig befunden werden, wird ihnen oft Emotionalisierung der Fans vorgeworfen. Diese Vorbildwirkung ist eine Gretchen-Frage des modernen Fußballes: Sie soll die Selbstverantwortung jedes Einzelnen nicht mindern, gewisse Reizklimata schaffen aber Raum für Taten jenseits des guten Geschmacks. Das „Vorbild Fußballer“ ist ebenso Ausfluss der Vermenschlichung des Wettkampfes, der seine brutalen Wurzeln offiziell noch immer leugnet. Fair, asketisch und artig hat sich der Spieler auf und neben dem Platz zu verhalten.
Doch manche haben genug vom Einheitsbrei bei Interviews und stromlinienförmigen Verhalten: Dazu Schriftsteller Thomas Glavinic: „Bei der WM 1994 wurde gezeigt, wie Iwanow und Stoitschkow eine Stunde vor dem Spiel ein Bier getrunken haben. Und wenn ich an das Bild von Ogris und Kühbauer, Nase an Nase, denke ich mir, dass solche Typen immer seltener werden. Korrektheit wird überschätzt, speziell auf dem Fußballplatz.“ Emotionalität ist also erwünscht, sie macht geradezu den Reiz des Spieles aus. Glavinic weiter: „Ich hasse Rassisten, und ich mag keine Schläger. Ich will auch nicht, dass jemand verbal fertig gemacht wird. Da sollte es viel mehr Stadionverbote geben. Diese Leute, die ich gar nicht als Fans bezeichnen will, sind die unerfreulichste Begleiterscheinung des Fußballs.“
Gerade fremdenfeindliche oder antisemitische Beleidigungen sind aufgrund ihrer historischen „Erprobung“ vielerorts verpönt und werden als besonders unanständig angesehen. Auch die Sensibilisierung gegenüber körperlicher Gewalt ist in der europäischen Gesellschaft sehr hoch. Viele mögen Glavinic zustimmen. Eine Verbannung dieser Form von Brutalität führt aber nicht zu einem Verschwinden derselben. Die barbarische Kultur der Vorzeit wurde durch den Sport in eine geregelte Form des Kräftemessens domestiziert. Ganz „versaubern“ hat sich der Wettkampf aber nicht lassen, er weiß, woher er kommt: Die Akteure foulen heimlich, die Zuschauer lassen die Sau raus. Außerhalb des Stadions neigt man dazu Gewaltformen zu tolerieren und mit dem Finger auf die wild anmutenden, grölenden Horden im Stadion zu zeigen. Grotesk: Rüde Formen im menschlichen Miteinander, in der Politik, Wirtschaft und Ökologie werden geduldet – über die spielenden Proleten auf dem Platz und die Chaoten auf den Rängen wird hart geurteilt.
Der Zweck des Sportes – mustergültiges Verhalten durch Regeln und schlussendlich auch durch Selbsterziehung – läuft ins Leere, wenn nicht auch die Gesellschaft eine Wandlung durchmacht. Solange diese nicht „verfriedet“, „verfriedet“ sich auch nicht der Wettkampf. Konkurrenz, Rivalität und (folglich) die Verhöhnung des Unterlegenen liegen in der menschlichen Natur. Eine Kultur des Respektes kann sich nur mit breiter Unterstützung aus allen Teilen der Gesellschaft, insbesondere mit Hilfe der wirtschaftlichen Seite des Fußballs, verbreiten. Jegliche andere „Umerziehungsmethoden“ sind Tropfen auf den heißen Stein.
Marie Samstag, abseits.at
Marie Samstag
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