Schiedsrichter, Emotionen und Fingerspitzengefühl
Gesellschaft & Ethik 3.November.2011 Stefan Karger 0
In den letzten Tagen gab es zwei konträre Schiedsrichterentscheidungen, die die Frage aufwerfen, wie viel Handlungsspielraum ein Referee besitzt. Kann der Unparteiische in Ausnahmesituationen ein Auge zudrücken und wo verschwimmen die Grenzen zwischen Regelmissachtung und Fingerspitzengefühl?
Im Jahr 2002 beschloss das FIFA International Board (IFAB), dass Fußballspieler eine gelbe Karte erhalten sollen, wenn sie nach dem Torjubel ihr Trikot ausziehen und eine religiöse Botschaft den Zuschauern und TV-Kameras präsentieren. Besonders brasilianische Fußballer stellten öfters ihre religiöse Verbundenheit zum Christentum zur Schau und präsentierten unter ihrem Trikot T-Shirts mit Botschaften wie „I Love Jesus“. Zwei Jahre später beschloss die FIFA allerdings, dass jegliches Trikotausziehen eine Unsportlichkeit darstelle und mit einer gelben Karte zu ahnden sei.
Die offizielle Begründung für diese Regel ist, dass in manchen Kulturkreisen die öffentliche Vorführung eines nackten Oberkörpers als unmoralisch angesehen wird. Der wichtigere Aspekt für die FIFA wird jedoch gewesen sein, dass das Logo des jeweiligen Sponsors gerade im emotionalsten Moment nicht zu sehen ist. Aus diesem Grund wurden die Schiedsrichter dazu „gezwungen“, dieses Vergehen an der Moral und am Sponsor ausnahmslos mit einer gelben Karte zu ahnden.
It´s a Man´s World – warum Spieler ihre Trikots ausziehen?
Dr. Karl-Heinrich Bette, seines Zeichens Professor für Sportsoziologie an der Universität Darmstadt, glaubt zu wissen, weshalb sich Fußballer nach einem Jubel das Trikot ausziehen und dafür die gelbe Karte liebend gerne in Kauf nehmen. Das Ausziehen kann als Zeichen ans Publikum verstanden werden, dass der Spieler hundert Prozent gegeben und nichts zu verstecken hat. Dazu kommt, dass der Fußball eine traditionelle Männerwelt ist, in der das Zurschaustellen eines nackten Oberkörpers ein Symbol der Männlichkeit darstellt: „Seht her, wie toll ich bin“. Laut Bette trägt die Gefahr einer gelben Karte nur dazu bei, dass diese Handlung heroischer wirkt. Der Spieler nimmt für das Trikotausziehen sogar eine Strafe in Kauf, was den Wert des Rituals steigert. Professor Bettes Analyse hört sich durchaus plausibel an – in den beiden nachfolgenden Situationen werden die Trikots jedoch aus anderen Gründen ausgezogen.
That´s for you, son
Billy Sharp wurde vor 25 Jahren in Sheffield geboren und ist einer der gefährlichsten Stürmer in der Football League Championship, der zweithöchsten Spielklasse Englands. Der Stürmer der Doncaster Rovers schoss in den beiden vergangenen Saisonen jeweils 15 Treffer und schlug im Sommer zwei lukrative Angebote von Ipswich Town F.C. und Southampton F.C. aus.
Billy Sharp und seine Frau Jade verloren vergangenen Samstag ihren zwei Tage alten Sohn Luey, da es unmittelbar nach der Geburt schwere Komplikationen gab, die zum tragischen Tod führten. Billy Sharp verpasste aufgrund der Geburt das Meisterschaftsspiel gegen Coventry City F.C. und alle gingen davon aus, dass er auch gegen Middlesbrough F.C. fehlen wird, um den Schicksalsschlag verarbeiten zu können. Nach Absprache mit seiner Frau wollte Sharp jedoch unbedingt spielen, ein Tor erzielen und es seinem Sohn widmen.
Das Spiel begann mit einer Trauerminute in der sich auch die Middlesbrough-Fans vorbildlich verhielten und nachher lange Applaus spendeten. Sharp verbarg seine Tränen nicht und war sichtlich gerührt. In der 14. Minute war es dann soweit: Sharp brachte mit einem herrlichen Volleyschuss seine Mannschaft mit 1:0 in Führung und zog sich anschließend sein Trikot über den Kopf, sodass die Aufschrift auf seinem T-Shirt darunter sichtbar wurde: „THATS FOR YOU SON“.
Schiedsrichter Darren Deadman setzte sich über die Regeln hinweg und wollte Sharps emotionalsten Moment seiner Karriere nicht mit einer gelben Karte stören. Er ließ den Karton in der Brusttasche stecken, was ihm im Nachhinein großen Respekt bei Medien und Fans einbrachte.
Hier könnt ihr euch Sharps Tor ansehen (leider ziemlich schlechte Qualität).
Ein kurioser Ausschluss
Wir wechseln den Schauplatz von der Football League Championship in die ukrainische Liga, in der es gestern Abend einen kuriosen Ausschluss gab. Der 22-jährige ghanaische Nationalspieler Samuel Inkoom wechselte vergangene Winterpause vom FC Basel zum FC Dnipro Dnipropetrovsk, wo er auf der rechten Seite der Viererkette um einen Stammplatz kämpft. In der 61. Minute sollte der mit gelb vorbelastete Inkoom ausgewechselt werden. Während er zügig vom Platz ging zog er sich sein Trikot aus, worauf ihm der Schiedsrichter die Gelb-Rote Karte zeigte. Der Spielerwechsel war noch nicht vollendet, was zur Folge hatte, dass der Einwechselspieler nicht auf den Platz durfte. Wie wir gleich sehen werden war die gelb-rote Karte auch formal eine glatte Fehlentscheidung.
Hier könnt ihr euch den umstrittenen Platzverweis anschauen.
Wie beurteilt Robert Schörgenhofer diese beiden Situationen?
Der österreichische FIFA-Schiedsrichter Robert Schörgenhofer war so freundlich und beantwortete eine abseits.at-Anfrage, wie er die beiden Situationen beurteilen würde, in Rekordzeit!
Schauen wir uns zuerst den Fall in der ukrainischen Liga an: Der Schiedsrichter beging hier mit Inkooms Ausschluss eine glatte Fehlentscheidung. Schörgenhofer kann die gelbe Karte nicht nachvollziehen, da das Trikotausziehen nicht während eines Torjubels geschah! Inkoom begeht zwar einen Verstoß gegen die Ausrüstungsbestimmungen, der jedoch nicht mit einer gelben Karte zu ahnden ist.
Die Situation in der Football League Championship kann Robert Schörgenhofer prinzipiell gut nachvollziehen, allerdings meint der Vorarlberger, dass der Unparteiische im Prinzip keine andere Möglichkeit hat, als dem Spieler die gelbe Karte zu zeigen. Auch wenn es „unmenschlich“ klingt – die Vorgeschichte darf nicht relevant sein. Schörgenhofer würde es auch als ungerecht betrachten, falls ein anderer Spieler in derselben Partie anders behandelt werden würde. Wenn Sharp keine gelbe Karte bekommt, was passiert dann mit einem Middlesbrough-Spieler, der sich während des Torjubels das Trikot über den Kopf zieht? Schörgenhofer sagt, dass man als Schiedsrichter in dieser Situation keinen Handlungsspielraum hat und kein Auge zudrücken kann, weil das nicht dem Regelwerk entspricht.
Fazit
Schörgenhofers Bewertung der Situation ist in sich schlüssig und nachvollziehbar. Als Schiedsrichter hat man zwar in manchen Situationen Ermessensspielraum, ist aber doch dem Regelwerk verpflichtet. Kritisieren muss man die Leute, die die Regeln erstellen und die Sichtbarkeit der Sponsoren über das Ausleben der Emotionen stellen – was auf lange Sicht auch aus marketingtechnischer Sicht ein Schuss ins eigene Knie sein könnte.
Andererseits ist auch klar, dass jeder Fußballfan die Entscheidung von Referee Darren Deadman gutheißt, denn der englische Schiedsrichter entschied auf eigene Faust, dass eine Verwarnung in dieser Situation nicht angebracht war. Ein Recht diese Entscheidung zu fällen stand ihm nicht zu, aber er tat es dennoch und setzte sich aus Respekt vor Sharps Tragödie über das Regelwerk hinweg – well done, Sir!
Stefan Karger, www.abseits.at
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