Gary Neville auf analytischen Abwegen (2) – Nationenroulette
Taktik & Theorie 10.Mai.2013 Rene Maric 1
Gary Neville gilt als kompetentester Experte in der englischen Medienwelt. Seine Erklärungen zu gruppentaktischen Spielzügen oder individualtaktischem Fehlverhalten sind hervorragend. Doch in seinem Artikel in der Dailymail weicht er von seiner Linie ab. Weil sein Wort allerdings enormes Gewicht in der Medienwelt und in Taktiksphärnen hat, ist eine genaue Auseinandersetzung damit unabdinglich – bei uns geschieht sie in zwei Teilen.
Den zweiten Teil beginnen wir mit einem Lob Nevilles an den Bayern.
It was an extraordinary performance from Bayern and at the heart of it were two players, Bastian Schweinsteiger and Javi Martinez, who produced the most outstanding performance from a central midfield pair that I’ve seen for years.
Schweinsteiger was pressing from the front one minute then back in midfield the next. The way in which when one pressed and the other came in behind in a classic central two, was brilliant to watch.
The same could be said of Ilkay Gundogan and Sven Bender, the central midfield two, in Borussia Dortmund’s 4-1 win over Real Madrid. And it restored your faith in playing a more conventional 4-4-2 because, if you have good enough players who have experience, intelligence, quality on the ball and can tackle and pass, you can still play brilliant football in that system.
Auch hier wird auf die Defensivformation Rücksicht genommen; ohne zu berücksichtigen, dass die Nutzung der Deckungsschatten und die Abläufe in der Formation zwischen Bayern, Dortmund und den klassischen englischen Systems extrem weit voneinander entfernt sind. Auf dem Papier mag die Anordnung ähnlich aussehen, doch in der Praxis ist es anders.
Die Bayern pressen manchmal in einem klaren 4-4-2, manchmal im erwähnten 4-4-1-1, gegen Juventus war es ein 4-3-3 und phasenweise gehen sie zu einem 4-5-1 über. Im Hinspiel gegen den FC Barcelona war es sogar ein 4-4-2-0; folglich waren es nicht zwei Spieler, die gegen drei Gegner bestanden, wie Neville im nächsten Absatz lobend anmerkt, sondern vier Spieler, die den Raum für drei Spieler dermaßen komprimierten, dass diese keinen Raum für Ballannahmen hatten.
Der größte Unterschied besteht außerdem in der Variabilität: Wie „konventionell“ ist es, dass der Mittelstürmer mehrmals in der Defensive nicht nur auf dem Flügel unterstützt, sondern nach Ballverlusten mit dem Außenstürmer die Position tauscht? In einer Szene waren es sogar Robben und Ribéry, die plötzlich als nominelle Mittelstürmer die Innenverteidiger attackierten, während Müller und Mandzukic auf dem Flügel deren Positionen übernahmen. Unkonventioneller geht es kaum.
It’s always good to look back at the archives at times like this. This time last year, England needed to learn from Spain; 10 years ago England needed to learn from France; now it needs to learn from Germany.
But we have to strike a balance in reforming our football. It is possible to reform and evolve your footballing identity as a nation. Germany, traditionally, were all about the back three and the sweeper, with players such as Matthias Sammer and Franz Beckenbauer in the middle of a back three. Now their best club sides are playing a 4-4-1-1 and the national team play something similar. You can change your footballing identity and the Germans have done that in the last 12 years.
As far as English football is concerned, the German system is as near to our game as we’re going to get in terms of the strength, power, intensity and high tempo. And what Wednesday night’s performance tells you is that with energy, organization and structure — all of which are English characteristics — you can achieve plenty.
England don’t have to be Brazil, Spain or Argentina. Our club sides don’t have to be Barcelona. Of course, we need to learn from all good football nations and we need more good technical players with the kinds of skills those Latin nations cherish. But while we want to improve those traits, you can never shake off your own footballing identity and nor should we.
Auch hier gibt es gute und schwache inhaltliche Punkte. Natürlich: Man muss nicht jedem Trend folgen. Man muss sich nicht nach jedem neuesten Schrei der Fußballmode umdrehen, doch das geht etwas an der Sache vorbei. Deutschlands Vereine haben von spanischen Vereinen gelernt. Bayern hat nach dem FC Barcelona die zweithöchste Ballbesitzquote Europas. Auch der BVB hat sich weitgehend von einem Konterteam aus 2010/11 zu einem Ballbesitzteam gewandelt. Das Pressing ist in Deutschland sogar zurzeit am höchsten entwickelt, auch hier wurden Anleihen vom FC Barcelona genommen.
Der Fehler Nevilles liegt darin, dass er die Identität zu klar definiert. Der deutsche Fußball hat spanische beziehungsweise „klassisch niederländische“ Aspekte in ihr Spiel übernommen, gleichzeitig die Jugendausbildung reformiert und geht von Kampf und Schweiß zu Technik und Intelligenz über. Die von Neville hochgelobte Leistung der Bayern basierte zwar auch auf Energie, Organisation und Struktur, aber es wäre vermessen, diese drei Begriffe so oberflächlich zu nutzen. Organisation heißt nicht, dass man simpel und einfach verschiebt; schon gar nicht auf dem Niveau, wie es die Bayern praktizieren. Es reicht nicht, lauf- und kampfstark zu sein – taktisches Talent ist auch ein Talent und eine Qualität, die nicht einfach replizierbar ist.
The problem in replicating what Bayern did during a World Cup or the Euros is that it only works with an enormous amount of intensity and energy. And that is difficult when playing every four days. Given that tournaments are normally played in warmer weather — even Brazil in the winter will be mild and can be hot in the north — it’s hard to play that way in a major tournament.
Even the German national team have struggled. Their manager, Joachim Low, took a gamble in Euro 2012 when he left out first-choice striker Mario Gomez and wide players Thomas Muller and Lukas Podolski for the quarter-final against Greece. He did that because he knows how hard it is to play their style of football twice in a week.
They won but still struggled to maintain their energy levels for the semi-final against Italy’s possession-based diamond midfield. Bayern rested most of their team on Saturday before the Barcelona game.
Diese Fehleinschätzung wird hier noch deutlicher sichtbar. Abgesehen von der zweifelhaften Einschätzung, dass Italien ein Ballbesitzspiel praktiziert und der indirekten Implikation, dass die Deutschen es nicht tun, fällt auf, dass der Faktor „Wetter“ höher als die Faktoren „Automatismen“ und „Eingespieltheit“ eingeschätzt wird. Anstatt an der Wiederholung dieser Pressingspielweise zu zweifeln, weil man nicht den gesamten Bayern- oder auch Dortmund-Kader in die Nationalmannschaft holen kann, wird das Wetter als mögliches K.O.-Argument genutzt. Dass Fitness für diese Spielweise nötig ist: geschenkt. Es ist aber nur das Fundament einer Vielzahl von Eigenschaften und nicht das einzige Kriterium, welches die Qualität des Pressings verändert.
Seinen Artikel beendet Neville übrigens folgendermaßen:
It is the time of year when we start trying to find a new footballing identity for our country. Last year Athletic Bilbao beat Manchester United and we needed to be Spaniards. This year, the Bundesliga prevails and we must be Germans.
But we should maintain perspective. The reality is the quality of the players is paramount in deciding a game, rather than the tactics.
England need to develop their own football identity but we should embrace what is good from abroad while maintaining faith in our own determination, discipline and work-rate. Ironically, it might have taken two German teams to remind us of that.
Höchst interessant. Die große Frage lautet also: Waren die Engländer seit 1966 nicht fit genug, waren sie zu schlecht oder hinkten sie schlicht in allen taktischen Teildisziplinen eben wegen einer solchen Einstellung hinterher und gewannen deshalb kaum Titel auf Nationalmannschaftsebene? Wir wissen, wo wir uns einordnen. Und wir wissen auch, wo sich Neville einordnet.
Rene Maric, abseits.at
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