Taktiktheorie | Dreier-, Fünfer- und pendelnde Viererkette (2)
Taktik & Theorie 17.Juli.2014 Rene Maric 0
Bei dieser Weltmeisterschaft gab es einen großen taktischen Trend zu beobachten: Die Abkehr vom Dogma der Viererkette. Während bei der Weltmeisterschaft 2010 nur eine einzige Nationalmannschaft ohne Viererkette agierte, so waren es bei dieser WM gleich mehrere Mannschaften, welche eine andere Spielweise in der Abwehr nutzten. Chile überzeugte beispielsweise mit einer Dreierkette, Mexiko, Argentinien und ansatzweise die Niederlande spielten mit einer pendelnden Viererkette, während Uruguay und Costa Rica eine Fünferkette nutzten. In dieser zweiteiligen Serie soll geklärt werden, wo genau die Unterschiede dieser drei unterschiedlichen Umsetzungen einer grundsätzlich ähnlichen Ausrichtung und Staffelung liegen und welche strategischen Stärken, Schwächen und Kontermöglichkeiten es gibt. Um Letzteres geht es in diesem zweiten Teil.
Die grundlegenden strategischen Vorteile
Ob Dreier-, pendelnde Vierer- oder Fünferkette: In allen drei Systemen gibt es gewisse Aspekte, welche strategische Vorteile versprechen und eine Gemeinsamkeit dieser drei Umsetzungsmöglichkeiten haben, wie zum Beispiel das Spielen mit drei zentralen Verteidigern. Daraus folgt direkt eine weitere theoretische Konsequenz, nämlich mit nur einem einzigen Flügelspieler pro Seite zu agieren.
Das ist häufig ein Nachteil im Amateurfußball und Breitensport, doch durch das ballorientierte Verschieben und die Athletik im modernen Fußball kann dieser Nachteil der einfachen Flügelbesetzung neutralisiert werden, während die strategisch wichtigsten Zonen in der Horizontale – die Halbräume und das Zentrum – besetzt werden. Diese erhöhte Präsenz und der damit verbundene stärkere Zugriff erzeugen eine höhere defensive Stabilität. Bei Fünfer- und pendelnden Viererketten wird dies zusätzlich durch die erhöhte Breitenstaffelung im ersten Drittel erhöht, während es bei den Dreierketten die verstärkte Präsenz und Kompaktheit im Mittelfeld ist.
Diese erhöhte Absicherung oder Kompaktheit und generell stärkere Zentrumslastigkeit sorgen außerdem dafür, dass die jeweiligen Mannschaften viel intensiver und dynamischer agieren können. Dem Gegner kann man dadurch einfacher seinen Rhythmus aufzwingen oder zumindest aus den strategisch wichtigen Zonen heraushalten. Neben dem Zugriff auf den Gegner entsteht dieser Effekt auch durch den generell erhöhten Zugriff auf mehr Spielfeldanteile wegen der vereinfachten Erreichbarkeit unterschiedlicher Zonen.
Aus den Halbräumen heraus lässt sich zum Beispiel sehr einfach die Breite geben oder in die Mitte zurückgehen, weil beide Räume direkt erreichbar sind. Variable Überladungen sind dadurch möglich und insgesamt ein flexibler Angriffs- wie Verteidigungsstil; bei dieser WM gab es beispielsweise 5-4-1, 5-3-2, 5-2-3, 3-4-1-2 oder 5-3-1-1-Formationen. Denn neben dem Spiel gegen den Ball gibt es auch in eigenem Ballbesitz vielfältige mögliche Vorteile durch drei zentrale Spieler in der Abwehr.
Einerseits hat das Mittelfeld natürlich immer drei Anspielstationen nach hinten, zusätzlich zum Torwart. Die Staffelungen sind hierbei auch passender und weniger pressinganfällig nach Rückpässen, im Gegensatz zum Spiel mit nur zwei Innenverteidigern. Des Weiteren können die drei Verteidiger flexibel nach vorne rücken; die Halbverteidiger können beispielsweise gut abgesichert in die Räume neben den gegnerischen Stürmern aufrücken (bspw. bei einem gegnerischen 4-4-2-Pressing), während auch der zentrale Innenverteidiger sich nach vorne orientieren kann. Das konnte man zum Beispiel bei den Münchner Bayern im DFB-Pokalfinale vergangene Saison sehen, wo bei sehr tiefer Ballzirkulation Martinez etwas höher stand und Neuer dafür fast auf einer Höhe mit den breiten Halbverteidigern agierte. Außerdem kommen weitere Synergien mit dem Torwart sowie mit dem Mittelfeld hinzu, wie etwa das Abkippen der Sechser in die Schnittstellen zwischen Innen- und Halb- oder Halb- und Außenverteidiger, wodurch Dynamik kreiert werden kann.
Auch in den jeweiligen Umschaltmomenten kann man eine gewisse positive Dynamik durch das Spiel mit drei zentralen Verteidigern (und meist einfach besetzten Flügeln) beobachten. Nach Ballverlusten kann man durch die erhöhte Zentrums- und Halbraumpräsenz gegnerische Konter oftmals besser leiten oder auch effektiver gegenpressen, mit mindestens drei Spielern in der letzten Defensivreihe ist man immer gut abgesichert und kann sich auch nach Balleroberungen sauberer befreien. Im offensiven Umschaltmoment können die beiden Flügelverteidiger direkt nach vorne gehen, die zentralen Spieler auch, weil sie eben sehr gut abgesichert sind und es gibt auf jeder Position zumindest eine nahe Ablagestation für einfache Pässe nach hinten, die dann – wenn die Technik bei den Innen- und Halbverteidigern vorhanden ist – mit einem schönen Sichtfeld nach vorne aufbauen kann.
Aber neben den vielen Vorteilen gibt es natürlich auch einige Nachteile gegenüber der klassischen Viererkette beziehungsweise dem Spiel mit zwei zentralen Akteuren.
Die Nachteile
Es gibt auch Gründe, die für eine Viererkette und gegen ein Spiel mit Dreier-, Fünfer- oder pendelnder Viererkette sprechen. Häufig gibt es beispielsweise eine geringere Präsenz in höheren Zonen, mit und gegen den Ball. Durch fünf Verteidiger sowie drei zentral gebundene Defensivakteure bleiben schlichtweg nur noch fünf Spieler übrig, welche die Mitte und Halbräume im Mittelfeldband besetzen können. Nutzt man allerdings alle fünf oder zumindest vier Spieler, um diese strategisch enorm wichtigen Zonen zu füllen, dann fehlt es oftmals an der Präsenz im letzten Drittel; sowohl zentral als auch auf den breitegebenden Flügeln.
Je nach Ausrichtung des Mittelfelds wie beispielsweise mit einem 5-4-1 kann man dies zwar kompensieren, das geht aber wiederum zu Lasten der Ballzirkulation in die Spitze und der Durchschlagskraft am gegnerischen Strafraum. Zudem gibt es gegen den Ball durch diese gleichen Staffelungsprobleme einen halb-automatischen Defensivfokus, dem man mit einer bewusst höheren und sehr aktiven Ausrichtung sowie passender Bewegung entgegenarbeiten muss.
Die zwei größten Probleme sind aber anderer Natur. Das Spiel mit einer Fünferkette oder eben drei Akteuren in der Abwehr ist bisweilen anfällig über das Überspielen auf der Seite und selbst simple Flügelmannschaften können durch die Einfachheit des schnellen Raumgewinns vielfach eine unangenehme Dominanz erzeugen, welche dann meist auch das eigene offensive Umschaltspiel beziehungsweise dessen Effektivität negativ beeinflusst. Der Gegner kann zum Beispiel mit einem in der Defensive sehr kompakten und intensivem 4-4-2 relativ simpel gute Erfolgschancen haben, falls die Offensivbewegungen von der Struktur her passend sind.
Dazu kommt die erhöhte Komplexität des Spiels auf Abseits. Zwar konnte Costa Rica trotz einer Fünferkette einen Rekord an Abseitsstellungen für den Gegner bei dieser Weltmeisterschaft verbuchen, aber im Normalfall ist es mit einer Fünferkette schwieriger die Bewegungen passend zu koordinieren, um kollektiv im richtigen Moment herauszurücken oder schlichtweg nicht durch unpassende Staffelungen das Abseits irgendwo aufzuheben und Pässe in den Rückraum zu riskieren.
Fazit: Die Zukunft und das Gegenmittel
Insgesamt stellt die Fünferkette oder Dreierkette in den jeweiligen Variationen eine hochinteressante taktische Ausrichtung dar, welche viele interessante Stärken besitzt. Langfristig dürfte es darauf hinauslaufen, dass es immer mehr Dreier, Fünfer- und pendelnde Viererketten, die mit den klassischen Viererketten sowie deren Variationen kombiniert werden. Eine Abkehr vom Spiel der Viererkette zur flächendeckenden Nutzung einer Dreier- oder Fünferkette ist allerdings unwahrscheinlich; in Mitteleuropa erscheint maximal eine punktuelle Nutzung wahrscheinlich.
Dennoch dürfte es langfristig darauf hinauslaufen, dass einige Mannschaften diesen taktischen Aspekt zumindest in ihr Repertoire aufnehmen und situativ nutzen werden, wie es zum Beispiel in Italien, aber auch Teams wie dem FC Bayern unter Guardiola und dem Liverpool FC unter Brendan Rodgers, schon der Fall ist. Dann wird interessant, wie dagegen gespielt werden wird; Flügelüberladungen, konstruktive Ballzirkulationen über die Halbräume, Ballbesitzfußball mit intelligenter Nutzung der passenden Angriffskanäle sind hierbei interessante Möglichkeiten.
Die Bayern bespielten zum Beispiel das 3-5-2/5-3-2 Juventus‘, die prinzipiell mit einer pendelnden Viererkette agieren, durch eine Veränderung der Pressingmuster und einer 4-3-3/4-2-4-Rollenverteilungs sowie oben genannter strategischer Aspekte. Sollte das in den nächsten Jahren vermehrt Einzug halten, dann darf sich die Fußballwelt auf mehr Vielfalt und Flexibilität freuen; spielerisch ist dies auch kein Problem, wie diese WM zeigte.
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Rene Maric
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